17 | Eisblau

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Erleichterung durchströmt mich - ich habe ein lebendes Mädchen gerettet, kein totes. Zitternd klammert die schwarzhaarige sich um meinen Hals und ich muss aufpassen, dass ihr Gewicht mich nicht wieder in die Tiefe zieht. Doch plötzlich schluchzt sie auf und ihre zittrige Stimme wispert:

„M...Mein Bruder!"

„Wo ist er?" frage ich panisch, doch die kleine beginnt bloß, noch heftiger zu schluchzen. Verzweifelt durchstreifen meine Augen das Meer um mich herum. Doch von dem Jungen fehlt jede Spur. Und meine Kräfte lassen auch nach - ich kann das Mädchen nicht viel länger halten. Schon will ich mich umdrehen und mit letzter Kraft zum Ufer zurückschwimmen, doch da blitzen zwei blaue Augen nur wenige Meter vor mir auf.

Sofort nutze ich meinen freien Arm, um auf den Jungen zu zuschwimmen, dessen Kräfte ihn bereits verlassen haben. Keuchend schwimme ich weiter, doch das Mädchen in meinem Arm und die Strömung reißen an mir. Doch gerade, als eine Welle droht, den bewusstlosen Jungen erneut zu verschlingen, habe ich ihn erreicht und packe ihn am Arm. Dann drehe ich mich um, hole tief Luft und tauche unter.

Darauf bedacht, die Köpfe der beiden immer über Wasser zu halten, tauche ich durch den dunklen Ozean. Meine Glieder schmerzen vor Anstrengung und meine Lunge brennt wie Feuer. Doch ich muss weitermachen.

Nur noch ein paar Züge ...

In der letzen Sekunde spüre ich schließlich den rettenden Sand unter meinen Füßen. Mit meiner letzten Kraft zerre ich die beiden Kinder ans Ufer. Doch danach beginne ich zu taumeln, die Sicht vor meinen Augen verschwimmt, ich spüre nur noch, wie ich falle - und dann wird alles schwarz.


Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis ich wieder voll bei Bewusstsein bin. Als ich die Augen aufschlage, strahlt mir silbernes Mondlicht entgegen. Dunkel liegt die See vor meinen Füßen, und die Gischt umspült die feinen Sandkörner des Strandes. Mit schmerzenden Gliedern richte ich mich schließlich auf. Sofort suchen meine Augen die Umgebung nach den beiden Kindern ab.

Für einen Moment denke ich tatsächlich, die Wellen hätten sie erneut verschluckt, doch dann entdecke ich in der Ferne ihre Gestalten. Die dunklen Silhouetten der Geschwister werden immer kleiner, als sie sich über den Sandstrand von mir entfernen. Doch mit einem Mal dreht sich die größere Gestalt noch einmal zu mir um.

Es ist der Junge. Er sieht mir direkt ins Gesicht.

Und das letzte, was ich sehe, ist das im Mondlicht schimmernde Licht seiner eisblauen Augen.



Ich schlage die Augen auf.

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages strahlen mir entgegen und das muntere Zwitschern exotischer Vögel hallt im Dschungel wieder. Trotz meines Magenknurrens schweifen meine Gedanken sofort wieder an den Traum ab, den ich noch vor wenigen Sekunden vor meinen Augen gesehen habe.

Doch - war es das? War es ein Traum?

Während die erste morgendliche Brise die bunten Bäume und Blätter der Arena im Wind wehen lässt, füge ich die verschwommenen Bilder langsam wieder zusammen. Dieser Traum fühlte sich so real an, und langsam begreife ich, wieso. Es war kein Traum. Sondern eine Erinnerung.

Der Strand von zuhause, die tiefen Fluten, die zwei Kinder, die eisblauen Augen ...

Die eisblauen Augen!

Jaceks eisblaue Augen!

Mit einem Mal scheinen sich unzählige Scherben in meinem Kopf wieder zu einem ganzen Gefäß zusammenzufügen. Das ist es! Das ist der Grund für Jaceks seltsames Verhalten! Diese uralte Erinnerung aus meiner Kindheit. Es ist so, so lange her, Mom und Dad waren damals noch am Leben. Mein Kopf scheint dieses Ereignis völlig verdrängt zu haben.

Bis jetzt. Ich realisiere, dass ich Jacek also tatsächlich bereits von früher gekannt habe. Mein Gedächtnis hat mir also keinen Streich gespielt, als mich das Funkeln seiner Augen immer wieder an etwas erinnert hat. Er war der mysteriöse Junge, der an jenem Sommerabend mit seiner Schwester beinahe ertrunken ist.

Und ob ich es glauben will, oder nicht - ich habe Jacek damals das Leben gerettet.


Gedankenverloren setze ich schließlich meinen Rucksack auf, klettere vom Baum hinunter und mache mich auf die Suche nach etwas essbarem. Bis morgen Abend schaffe ich es nicht, ohne wenigstens eine Kleinigkeit gegessen zu haben - und das habe ich seit dem Beginn der Spiele nicht mehr.

Obwohl ich erst seit wenigen Minuten unterwegs bin, zerrt die enorme Hitze erneut an meinen Kräften. Selbst am heißesten Sommertag zuhause wurden niemals solche Temperaturen erreicht.

Obwohl ich von der plötzlichen Wahrheit über Jacek und meinem Hunger überwältigt bin, versuche ich, mir nichts anmerken zu lassen. Ich weiß, dass in diesem Moment unzählige Kameras jeden meiner Schritte verfolgen und live ins Kapitol senden. Wenn ich jetzt meine Erschöpfung die Überhand gewinnen lasse, habe ich meine letzte Chance auf Sponsoren verloren.

Doch mein Magenknurren verrät meine Schwäche. Es ist schon beinahe so laut, dass ich Angst habe, andere Tribute könnten es hören. Aufmerksam und leise durchstreife ich das Dickicht des Dschungels, doch zum Glück scheint kein anderer Tribut in der Nähe zu sein.

Mittlerweile bin ich in einer Gegend angelangt, in der massenweise meterhohe Farne hoch hinaus in den strahlend blauen Himmel reichen. Als ich durch die im Wind wehenden, massiven Gewächse streife, schleicht mir ein Schauer über den Rücken. Die Pflanzen stehen so dicht beinander, dass man kaum hindurchsehen kann. Was ist, wenn sich hier andere Tribute aufhalten? Beobachten sie mich womöglich in diesem Moment?

Meine Gedanken stoppen abrupt, als ich plötzlich gedämpfte Stimmen in der Ferne höre.

Einen Moment lang bleibe ich wie angewurzelt stehen, als ich realisiere, dass es mehrere sind. Sie werden lauter - sie kommen auf mich zu. Instinktiv drehe ich mich um und renne so schnell ich kann durch den dichten Farnenwald.

Mein Herz hämmert in meiner Brust und ich laufe so schnell, dass ich einmal sogar beinahe stolpere. Ein paar Sekunden später durchbreche ich die Farnbarriere und befinde mich wieder zwischen meterhohen Palmen und Dschungelgewächsen.

Abrupt komme ich zum stehen und stütze keuchend meine Hände auf die Oberschenkel. Habe ich die Tribute abgehängt? Haben sie mich vermutlich garnicht bemerkt?

Doch im nächsten Moment ertönt ein verräterisch lautes Knacken hinter mir. Ich fahre herum und sehe, wie sich die Spitzen des hohen Gestrüpps bewegen. Keine Sekunde später durchbrechen fünf Gestalten die Farnbarriere. Mein Atem stockt.

Ich blicke geradewegs in die selbstgefälligen Gesichter der Karrieros.

Einen Moment lang höre ich bloß meinen pochenden Herzschlag.

Dann renne ich los.

Tribute von Panem | Flüsternder OzeanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt