[77] -- Rollende Köpfe II

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Ich sehe Naddy nach, bis sie in der Menge verschwindet. Aus dieser tritt im selben Moment ein Mann hervor, den ich als meinen Tischnachbar wiedererkenne.
Seine Augenfalten verraten mir sein kurzes Lächeln, als auch er mich erblickt und auf mich zukommt.
»Hab' gehört, es gibt da ein paar neue Geschäftsführerpositionen zu besetzen«, sagt er spöttisch, als er bei mir ankommt. »Vielleicht sollte ich mich auf eine dieser Stellen bewerben. Ich hab' zwar keine Ahnung von Netzwerken, aber die braucht man anscheinend auch nicht. Für ein paar Tausend Dollar mehr im Jahr einfach nur den Arsch plattsitzen klingt verlockend.«
»Ich bezweifle, dass es mit Arsch plattsitzen getan ist«, entgegne ich.
»Sie haben recht«, stimmt er mir zu. »Ich bin nicht dazu gemacht, mich mit Vorständen und Beiräten zu streiten, die denken, ihnen gehört das Unternehmen allein. Ich würde sie vermutlich nur feuern - aber auch das würde nichtmal in meiner Macht stehen, weil die Vorstände und Beiräte da erstmal zustimmen müssten.« Genervt verdreht er die Augen, lächelt mich dann aber wieder an. »Politik hat meiner Meinung nach in einem Unternehmen nichts verloren. Darum werde ich meinen Betrieb nicht weiter vergrößern, sonst muss ich mich mit sowas rumplagen«, erzählt er. »Und da kann sich eine Reid auf den Kopf stellen, wie sie will.«
Vorsichtig lächle ich ihn an. »Wenn Reid will, werden Sie sich auf den Kopf stellen.«
Er lacht erheitert auf. »Vermutlich«, stimmt er mir zu. »Kann ich Ihnen etwas Gutes tun? Etwas zu trinken holen, oder zu essen?«
»Das ist lieb von Ihnen, aber meine Geschäftspartnerin ist bereits ...«, beginne ich sein Angebot abzulehnen, als ich Jolene auf uns zukommen sehe.
Ihr Ausdruck ist beängstigend ernst und versteinert.

»Ein Gespräch unter vier Augen, bitte«, sagt sie an mich gerichtet und bedeutet mir, ihr zu folgen.
»Mrs. Reid«, spricht der Mann und Jolene dreht sich zu ihm um und sieht ihn fast schon genervt an. »Bitte seien Sie nicht zu streng mit ihr. Das vorhin war meine Schuld. Ich habe sie ...«
»Das ist nicht Ihre Angelegenheit, Jefferson«, unterbricht sie ihn harsch und setzt ihren Weg mit mir fort.
»Was ist los?«, frage ich irritiert. Wird sie mich gleich wirklich dafür zur Rechenschaft ziehen, weil ich mich mit dem Mann unterhalten habe?
»Unter vier Augen bedeutet auch unter vier Augen«, sagt sie mit strenger Stimme und deutet über den Eingangsbereich, der nach wie vor voll mit Menschen ist, während wir auf den Aufzug warten.
Die ganze Fahrt bis in den 45. Stock schweigt sie beharrlich und bereitet mir in der Tat ein beängstigendes Gefühl, zumal sie mir unentwegt in die Augen sieht, trotzdem aber nicht erkennen lässt, woran sie denkt.

Sie führt mich in ihr Büro und verschließt die Tür hinter uns. Erst dann packt sie mich und zieht mich zu sich. Während sie mich fast schon stürmisch und leidenschaftlich küsst, bewegt sie uns, bis wir an ihrem Schreibtisch ankommen, auf den sie mich hebt.
Dabei atmet sie hörbar erleichtert aus und zeigt mir, wie anstrengend diese harte Miene für sie all die Minuten gewesen ist.
»Wow, was ...?«, frage ich überrascht.
»Wenn ich mich nicht schon vor fünf Jahren in dich verliebt hätte, hätte ich mich spätestens heute in dich verliebt«, sagt sie lächelnd und küsst mich erneut.
Ich wehre mich nicht gegen ihre Zuneigung und genieße sie, weil sie mich glücklich macht. Vor allem, weil ich nicht damit gerechnet habe, für die Dauer der Versammlung meine Jolene erleben zu dürfen. Trotzdem interessiert mich, was sie dazu treibt, mich zu entführen, nur um mich küssen zu können.
»Was habe ich getan?«, frage ich vorsichtig.
»Jefferson«, sagt sie.
»Es ist gar nicht seine Schuld«, verteidige ich ihn direkt. »Er hat das Gespräch zwischen Naddy und mir mitbekommen und ...«
»Babe«, unterbricht sie mich und sieht mir direkt in die Augen. »Ja, ich mag es nicht, wenn ich etwas wichtiges zu sagen habe, und man mir nicht zuhört. Aber darum geht es nicht.«
»Worum dann?«, frage ich irritiert.
»Du hast ihn zum Lachen gebracht«, sagt sie und streicht mir sanft über die Wange, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. »Noch nie hat ihn einer lachen sehen. Noch nie. Jeder war sich sicher, dass er es gar nicht kann.«
»Oh«, entkommt es mir überrascht.
»Es wundert mich nicht, dass du es mit deiner unglaublich süßen Art geschafft hast. Trotzdem interessiert mich: Was hat ihn zum Lachen gebracht?«
»Er dachte, ich hätte Angst vor ihm«, beginne ich und gebe die Unterhaltung mit ihm wieder. Erzähle ihr auch, für wie gruselig ich diesen Goldman gehalten habe und er der einzige ist, mit dem ich kein Mitleid habe, weil er heute seine Sachen packen muss - alleine schon wegen diesem widerlich arroganten Blick, den er mir ständig zugeworfen hat.
Auch Jolene lacht jetzt auf und schüttelt grinsend den Kopf. Sie umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und nähert sich mir mit ihrem intensiven Blick aus grünen Augen wieder.
»Das ist der Grund, wieso ich nie aufhören werde, in dich verliebt zu sein. Weil ich mich jeden Tag aufs Neue unermesslich in dich verliebe«, spricht sie mit flüsternder Stimme und küsst mich erneut. »Das hier musste jetzt sein. Ich wollte die Versammlung heute eigentlich ohne Pause abhalten, aber ich hätte es unter keinen Umständen noch länger ausgehalten«, erklärt sie und küsst mich erneut. »Es fällt mir nicht leicht, nicht zu lächeln, wenn ich dich ansehe.« Wieder küsst sie mich.
»Und trotzdem gelingt es dir verdammt gut. Ich hatte zwischenzeitlich wirklich Angst.«
Jolene sieht mir ernst in die Augen. »Ich will nicht, dass du Angst vor mir hast.«
»Ich habe auch keine Angst vor dir, sondern vor Reid.«
Jolene raunt, weil ihr das genauso wenig gefällt.
»Es ist okay, Jolene«, beschwichtige ich und streichle ihr über die Wange. »Du musst so sein; du bist Chefin von 21 Unternehmen, 47 Geschäftsführern - wie ich heute erfahren habe - und tausenden Angestellten...« Ich halte kurz inne und zähle nach. »38 Geschäftsführern, wenn sich alle für das größere Übel entscheiden«, korrigiere ich schmunzelnd.
»Ich hoffe nicht«, sagt sie und lächelt zurückhaltend. »Die meisten von ihnen machen gute Arbeit. Wird schwierig, sie zu ersetzen. Aber es war notwendig einen Warnschuss abzugeben.«
»Du pokerst gerade?« Überrascht sehe ich sie an.
»Ein wenig.«

»Wieso ist Goldman eigentlich der Einzige, der keine Wahl hatte?«, frage ich neugierig.
»Die anderen haben einen Fehler gemacht; auch wenn er ihnen nicht hätte passieren dürfen. Goldman aber hat es mit Absicht gemacht.«
Geschockt sehe ich sie an.
»Er ist ein Freund von Bilson Junior und wollte LineUp schon immer an ihn verkaufen«, beginnt sie zu erklären. »Goldman Senior und Bilson Senior hingegen sind aber keine Freunde; und damit Bilson das Unternehmen nicht bekommt, hat er es mir gegeben.« Jolenes Lippen zucken zu einem Schmunzeln. »Ich habe nur auf den Tag gewartet, an dem ich diesem kleinen Scheißkerl die Eier abschneiden kann.«
Ich lächle lediglich und ziehe sie für einen erneuten Kuss zu mir. Ich möchte noch einen Moment die Liebe genießen, bevor wir vor all den anderen wieder die Geschäftspartner spielen müssen. Nicht, um irgendwas zu verheimlichen, sondern schlichtweg, um unser Privatleben nicht Teil unseres Berufsleben werden zu lassen.

Als wir den Aufzug verlassen und den Weg zum Saal anschlagen, bewegt sich die Gesellschaft ebenfalls wieder zurück.
Plötzlich werde ich am Oberarm gepackt und blicke Naddy entgegen, die mich musternd ansieht.
»Hast du mich echt einfach hier alleine gelassen, um mit deiner Frau ein kleines Nümmerchen zu schieben?«, zischt sie.
Geschockt sehe ich sie an. »Wir haben nicht ...«
»Ihr habt«, unterbricht sich mich. »Dir sieht man an, wenn du Sex hattest!«
»Wir hatten aber keinen Sex!«, wehre ich ab und befreie mich aus ihrem Griff.
»Wieso siehst du dann so aus, als ob?« Skeptisch zieht sie ihre Augenbraue in die Höhe.
»Vielleicht weil es trotzdem sehr sinnlich und erregend war?«, murmle ich und sehe sie vorsichtig an.
Plötzlich beginnt Naddy zu lachen. »Sie schafft es nicht mal, zwei Stunden Reid zu sein, wenn du im selben Raum bist.« Sie ergreift meine Hand und zieht mich hinter sich her zum Saal zurück. »Glaub mir, da drin sitzen über vierzig Menschen, die dich dafür beneiden.«

Zurück an unseren Plätzen erhalte ich auch einen mitleidigen Blick von Jefferson.
»Ich hoffe, sie war nicht zu fies zu Ihnen«, flüstert er mir zu. »Es tut mir leid, wenn ich Sie ...«
»Sie müssen sich keine Sorgen machen«, unterbreche ich ihn und lächle ihn an. »Sie war nicht fies zu mir. Und Sie müssen sich auch nicht fürchten, sie war nicht mal sauer auf uns«, versichere ich ihm.
»Nicht?«, fragt er verdutzt.
»Wie ich vorhin sagte«, mischt sich Naddy gackernd ein. »Diese süße Dame hier geht jede Nacht mit BNS ins Bett.« Neckisch tätschelt sie meinen Oberschenkel. »Nicht wahr, Mrs. Reid?« Sie grinst mich an und setzt sich dann wieder richtig hin.
Mir schießt umgehend die Röte ins Gesicht und ich traue mich kaum, den Mann neben mir anzusehen.
Dieser sieht mich geschockt an.
»Ich bin der dümmste Mensch auf Erden«, murmelt er fassungslos, dreht sich demonstrativ weg und starrt konzentriert nach vorne.
Meinen Versuch, dem zu widersprechen, ignoriert er. Genau genommen ignoriert er mich über die gesamte restliche Dauer der Versammlung hinweg.


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Und hier, wie versprochen, der zweite Teil des Kapitel :)

Habt einen schönen restlichen Abend!

Eure Bo. <3

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt