[29] Fuga, pt. 1

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»Wo ist Leo eigentlich?«, fragte Cecilie, während sie ihre dreijährige Tochter auf den Oberschenkeln wippte. »Wollte er sich zur Verkündung nicht freinehmen?«

»Schon ... irgendwas ist dazwischen gekommen«, erwiderte Kasimir mit Blick auf die Wanduhr. In zehn Minuten schlug es vier, dann würden die Kandidaten des Vorentscheids offiziell auf der Website der Pianovision bekannt gegeben. Ein wenig wurmte es Kasimir, dass sein Freund in diesem wichtigen Moment nicht an seiner Seite war. Umso dankbarer war er, dass die gesamte Familie Hasenick ihm aus der Ferne beistand.

»Der Junge macht's richtig. Zumindest einer in diesem Karnickelstall bringt Geld nach Hause«, konstatierte Thomas. »Und wenn du die Pianofusion gewinnst, kannst du mir die Wohnung sogar ohne schlechtes Gewissen abkaufen.«

»Tommy, lass es ...«

»Wieso? Dann kann er immer, wenn er zwischen seinen Konzertreisen im Land ist, unten im Fitti trainieren. Ein Starpianist darf kein halbes Hemd sein ...«

Während Thomas weiter schwadronierte, ließ Kasimir sich auf die Couch sinken und betrachtete nachdenklich seine Hände. Konzertreisen. Tourneen. Erwartete ihn das, wenn er die Pianovision gewann? Er hatte sich noch keine tieferen Gedanken gemacht, wie er seine Karriere nach dem Studium gestalten wollte. Fakt war, dass er mit einer Live-Performance im Fernsehen den letzten Rest Anonymität aufgab, der ihm nach seinem YouTube-Erfolg geblieben war. Er würde regelmäßig auftreten müssen, um seinen Unterhalt zu verdienen, womöglich sogar mehrere Wochen am Stück nicht zu Hause sein.

Nicht bei Leonhard sein.

Der bloße Gedanke entfachte ein Brennen in seiner Brust. Er mochte sein Leben mit ihm, brauchte ihn an seiner Seite. Alles, was er bislang erreicht hatte, verdankte er Leonhards Engagement und Liebe, seine Präsenz war unentbehrlich für Kasimir. Besonders jetzt, da sie endlich wieder unbeschwerte Stunden miteinander verbrachten, zog er Kraft aus Leonhards Nähe. Kraft, die er brauchte, um sich diesem Wettbewerb zu stellen.

»Kasi, alles gut?«, fragte Cecilie. »Du bist so still.«

»Er denkt an Sex.«

»Tu ich nicht«, verteidigte sich Kasimir, wurde jedoch beim Gedanken daran rot. Ganz falsch lag Thomas nicht. Seit er ihm sein Lied vorgespielt hatte, suchte Leonhard verstärkt körperliche Nähe. Manchmal hatte Kasimir das Gefühl, dass sein Freund irgendetwas zu kompensieren versuchte. Wahrscheinlich die Aufregung vor dem Wettbewerb.

»Hey, ich glaub, da tut sich was«, sagte Cecilie und starrte auf ihr Handydisplay. »Ich hab grad die Seite aktualisiert. Der Link zur Teilnehmerliste ist freigeschaltet.«

Kasimir hielt den Atem an, in seiner Brust bildete sich ein Knäuel. Er beobachtete stumm, wie seine Schwester Hildi auf den Boden setzte und mit beiden Händen auf dem Smartphone herumtippte. Thomas lehnte sich interessiert zu ihr herüber.

»Dann lass mal schauen, wem du alles in den Allerwertesten treten musst ...«

Es ist so weit. Jetzt zählt es.

Kasimir legte das Tablet neben sich auf die Couch und erhob sich, stemmte die Hände in die Hüften, atmete tief durch. Um in Paris gegen Dawid zu spielen, musste er im Vorentscheid triumphieren. Er musste jeden einzelnen Teilnehmer ausbooten, das Zuschauervoting dominieren.

Er musste gewinnen.

»... Hä?«

Die Irritation in Cecilies Stimme zerschnitt seine Gedanken, er drehte sich zum Tablet um. Seine Schwester starrte weiterhin auf ihr Smartphone, wirkte jedoch wie versteinert; von einem Lächeln keine Spur. Als sie sich daraufhin mit einem geflüsterten »Guck mal ...« an ihren Mann wandte, wurde Kasimir mulmig. Die Überraschung, mit der Thomas die Augenbrauen hochzog, säte ein ungutes Gefühl in seinem Bauch.

»Was ist?«, fragte Kasimir, woraufhin Cecilie wieder in die Kamera sah. Ihr Gesichtsausdruck wirkte verstört.

»Kasi ... hast du die Liste offen?«, erwiderte sie. Als er den Kopf schüttelte, verzog sie die Lippen und betrachtete erneut ihr Smartphone. »Vielleicht solltest du mal reinschauen. Ich bin mir nicht sicher, aber ... ich glaube, da stimmt was nicht.«

Das dunkle Gefühl drückte von innen gegen Kasimirs Rippen, er griff widerwillig nach seinem Handy. Er hatte absichtlich darauf verzichtet, den Upload auf der Website zu verfolgen, um seine Nerven zu schonen. Allerdings katalysierte Cecilies seltsame Reaktion seine Aufregung. Seine Finger tippten sich unruhig bis zum Download der Teilnehmerliste durch.

»Wusste gar nicht, dass das erlaubt ist«, hörte er Thomas murmeln. »Wen hat er dafür bestochen?«

Der Download startete. Kasimirs Puls begann zu rasen, während er dabei zusehen konnte, wie Cecilies Miene von Verwirrung zu Betroffenheit wechselte.

»Aber das geht doch nicht ...«

Als sie verstummte, öffnete sich das PDF auf Kasimirs Handydisplay. Sein Blick rasterte die Einträge ab, registrierte, dass es einer zu viel war. Dass ein Bundesland doppelt vertreten war.

»Kasi, wusstest du das?« Cecilies Stimme war leise, ungläubig. »Hat er es dir gesagt?«

Nr. 13, Berlin, Qualifikationssieger

Kasimir Hasenick

»Oha. Das gibt Stress im Stall.« Thomas versuchte, lustig zu klingen, aber das gelang selbst ihm nicht. »Wer ist das Mädel überhaupt?«

»Keine Ahnung. Kennst du sie, Kasi?«

Ja. Aber es spielte keine Rolle. Cecilies und Thomas' Irritation hatte nichts mit ihrem Namen zu tun. Sondern mit dem, der dahinter stand.

Nr. 14, Berlin, Nachnominierung

Elise Arendt & Leonhard Valentin

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt