„Ne, nee! Der gehört gegessen. Und zwar möglichst pronto!", befand Milow. Dass er extrem gerne aß, hatte ich schon beim gemeinsamen Waffelessen kurz nach meiner Ankunft festgestellt. Fünf Waffeln mit Preiselbeeren und einer Unmenge Sahne hatte er in Rekordzeit verdrückt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Julius musste ihn schließlich ermahnen, an die anderen zu denken, sonst hätte sich Milow auch noch eine sechste einverleibt.

Zuvor hatte mir vor dem gemeinsamen Zusammensitzen der ersten Heim-Mahlzeit gegraut, das jedoch rückblickend ganz okay verlaufen war. Zu Beginn hatten wir uns alle an den Händen gefasst und Tammys andächtigem Tischgebet gelauscht. Das war mir zwar etwas albern vorgekommen, weil ich so etwas das letzte Mal im Kindergarten gemacht hatte, aber immerhin war ich viel weniger beäugt worden als erwartet. Und dass die anderen Kinder heimlich über mich getuschelt hätten, war mir auch nicht aufgefallen. Im Gegenteil. Viele reichten mir freundlich den Teller mit den Waffeln, die Kirschen, die Sahne und verwickelten mich dabei in erste kleine, durch und durch unverfängliche Gespräche, wofür ich ihnen wirklich dankbar war. Das zahnlückige Mädchen, von dem ich mittlerweile wusste, dass es Sally hieß, hatte sich als regelrechter Sonnenschein entpuppt. Die Kleine lachte immerzu über jede nur denkbare Kleinigkeit – und zwar so ansteckend, dass es fast unmöglich war, nicht mit einzustimmen.

Andere Kinder waren stiller und wirkten wesentlich betrübter, sodass ich mich während des Essens unwillkürlich fragte, warum sie in diesem Heim gelandet waren, wie lange sie schon hier lebten und vor allem, wie sehr ich ihnen ähnelte.

Ein hagerer dunkelhaariger Junge, den ich auf elf oder zwölf Jahre schätzte, machte einen durch und durch frustrierten Eindruck. Er hieß Roger und sein Name fiel während des Essens mit Abstand am häufigsten – meist in einem tadelnden Tonfall und ausschließlich aus Tammys oder Julius' Mund. Roger hatte von sich aus nichts zu der insgesamt recht munteren Stimmung am Tisch beigetragen, außer ständig abfällige Bemerkungen von sich zu geben. Alles an ihm, angefangen bei seiner Mimik, über die Körperhaltung bis hin zu der abgehackten Art sich zu bewegen, wirkte extrem angespannt auf mich. Auch die Tatsache, dass seine Tischnachbarn so weit von ihm abgerückt saßen, wie es die Ellbogen der Nächsten zuließen, war mir nicht entgangen.

Ja, und dann gab es natürlich noch sie, Katie. Dieses eigenbrötlerische und ziemlich hübsche Mädchen mit den tieftraurigen blauen Augen, dessen Stimme ich noch kein einziges Mal gehört hatte. Stumm aß sie ihre Waffel – ohne jeden Belag – und lehnte sich dann abwartend in ihrem Stuhl zurück, den Blick starr auf den leeren Teller gerichtet, bis Julius das gemeinsame Essen für beendet erklärte und die Kinder, die für den Küchendienst eingeteilt waren, mit dem Abräumen des Geschirrs begannen. Erst da war sie aus ihrer gedanklichen Versenkung aufgetaucht, hatte sich leise erhoben und war aus dem Zimmer gehuscht.

Milow gab ein schmatzendes Geräusch von sich und holte mich damit aus meinen Gedanken. Er sah aus, als würde er gleich lossabbern, so, wie er auf die Puddingpackung in meinen Händen stierte. Bereitwillig stellte ich sie auf meinen Schreibtisch. „Wir haben aber keine Löffel", gab ich zu bedenken.

„Das ist das, was du denkst, Kumpel." Mit einem triumphierenden Grinsen öffnete er die Schublade seines Schreibtisches, der direkt neben meinem stand, hantierte an einem kleinen Kästchen herum, das wie eine Miniaturschatzkiste aussah, und holte daraus so stolz einen Tee- und einen Esslöffel hervor, als wären es harterkämpfte Trophäen – und wahrscheinlich waren sie auch genau das.

„Na, dann los", sagte ich zu Milow. Kaum hatten die Worte meine Lippen passiert, knickte er den Sechserpack schon in der Mitte durch und händigte mir mit größter Selbstverständlichkeit drei meiner Puddings aus. Gemeinsam machten wir es uns auf seinem Bett bequem und futterten stumm vor uns hin. Zumindest sprachen wir vorerst nicht. Milow mampfte munter drauflos und unterbrach sein Schmatzen von Zeit zu Zeit mit einem genüsslichen „Hmmm". Natürlich war er lange vor mir fertig und so bot ich ihm – eigentlich nur aus Höflichkeit – noch einen meiner Puddings an, den er mir förmlich aus der Hand riss. Für den Moment blieb mir nichts anderes übrig, als mir eine mentale Memo abzuspeichern, Milow künftig nur dann ein Angebot zu unterbreiten, wenn ich es auch wirklich so meinte. Schon steckte er den leeren Becher in seine drei anderen.

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