Kapitel 1 - Gwens Sicht

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"Und? Wer von euch kommt mit mir mit?" Obwohl ich beide fragte, sah ich hauptsächlich Jack an, da ich nicht glaubte, dass Mary zustimmen würde, es passte eben nicht zu ihrer so ruhigen Art. Das schüchterne Mädchen überraschte mich jedoch damit, dass sie sogar die erste war, die mit einem Lächeln auf den Lippen "Ich" rief. Beide Augenbrauen vor Verblüffung hochgezogen, sah ich sie an. "Siehst du, ich bin eben doch für eine Überraschung gut", sie lachte leise. Ich strich mir, sie immer noch verblüfft anschauend, eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Aber nur, wenn Jack auch mitkommt."
"Klar, dazu sag ich nicht Nein." Ein Grinsen bildete sich auf Jacks Gesicht.
Motiviert klatschte ich einmal in die Hände und übernahm die Führung, indem ich zurück zum Strand lief, um von dort zu den Klippen zu gelangen. Da es einen speziellen Weg die Klippen hoch gab, waren wir schnell oben angelangt. Der Junge, den wir eben so Filmreif hatten runterspringen sehen, ging wenige Schritte vor uns. Dass es der Selbe war, erkannte ich jedoch lediglich an der pechschwarzen Badehose und den ebenso dunklen Haaren, da man ihn von weitem sowieso nicht hatte richtig sehen können und er nun nur mit dem Rücken zu uns stand. Hinter uns hörte man eine Gruppe Jungs lautstark die Klippen hochsteigen. Mit einem kurzen Blick registrierte ich, dass die 5 Knirpse wohl Spanier und wahrscheinlich keine 12 Jahre alt waren. Ich schenkte ihnen keine weitere Beachtung, was sich später als fataler Fehler herausstellen sollte.
Ganz geduldig - und das wohl nur, weil lediglich eine Person vor mir war, Geduld war nicht gerade meine Stärke - stellte ich mich hinter den Jungen, der sichtbar die Muskeln anspannte und nun zum Sprung ansetzen wollte. Ich machte ihm da jedoch einen Strich durch die Rechnung. Oder eher weniger ich, sondern die herumtobenden spanischen Knirpse. Einer von ihnen schubste lachend den anderen, sodass dieser gegen mich stieß. Für einen ca. 12-jährigen war der leicht mollige Junge ziemlich groß geraten. Das in Kombination mit der Tatsache, dass ich hier vollkommen entspannt stand und ihn erst bemerkte, als sein Gewicht bereits auf meins traf, sorgte dafür, dass ich das Gleichgewicht verlor. Am Rande einer Klippe eindeutig keine so tolle Sache. Vor allem, wenn direkt vor einem eine weitere Person stand, gegen die man stieß und die keinerlei Möglichkeit hatte sich irgendwo festzuhalten. Hat doch was von Domino, ging mir irrationaler Weise durch den Kopf, als ich mich instinktiv an den Arm des dunkelhaarigen Jungen vor mir klammerte, der dank mir anstatt von der Klippe zu springen, von dieser fiel. Und ich mit einem auf französisch gefluchtem "Merde!(Scheiße)" gleich mit ihm.

Während des Falls, der nur wenige Sekunden dauerte, mir jedoch aufgrund des Adrenalins und des Schocks deutlich länger vorkam, kam ich auch auf die Idee den Arm des Jungen wieder los zu lassen. Ich war in diesem Moment wirklich dankbar für meine schnellen Reflexe, aufgrund derer ich es schaffte, nochmal tief Luft zu holen und mich richtig zu positionieren. So konnte ich ins Wasser eintauchen, ohne höllische Scherzen zu erleiden, weil ich falsch auf der Wasseroberfläche aufklatschte. Mit einem zwar weniger eleganten dafür aber fast schmerzfreien Kopfsprung tauchte ich in die Fluten ein. Das schaffte ich glücklicherweise, ohne meinen genauso unfreiwilligen Mitspringen zu verletzen, der keine Sekunde vor mir die Wasseroberfläche erreicht hatte und untergetaucht war.
Mein Herz pochte in mindestens doppelter Geschwindigkeit in meiner Brust und das Adrenalin, das durch meinen Körper rauschte, sorgten dafür, dass ich total Energiegeladen war. Ich würde es 'Überlebensmodus' nennen, denn mein Körper hatte gerade sicher gedacht, dass ich nun das Zeitliche segnen würde.
Es dauerte einige Augenblicke, ehe ich mich im Wasser orientieren konnte und wieder auftauchte. Weil mein Herz immer noch so schnell schlug und damit deutlich mehr Sauerstoff brauchte, atmete ich erst einmal mehrere Male tief ein und aus, als ich wieder über Wasser war. Der Blick nach oben offenbarte mir eine Mary, die einen solch besorgten Gesichtsausdruck hatte, dass ich ihn sogar hier unten noch erkennen konnte. Ich streckte die Hand mit dem Daumen nach oben gerichtet in die Luft, um ihr zu versichern, dass mit mir alles okay war und ich nicht als Fischfutter und Wasserleiche hier unten trieb.
Der Dunkelhaarige, wie ich ihn jetzt mal nannte, war zeitgleich mit mir aufgetaucht. Genau wie ich hielt er sich mit langsamen Arm- & Beinbewegungen über Wasser. Ich sah zu ihm rüber, während er mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck ansah. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte, schließlich hatte ich ihn von der Klippe gefegt und wäre an seiner Stelle echt angepisst. Er hingegen blieb einfach stumm und sah mich abwartend und skeptisch an, eine Augenbraue leicht angehoben. Dabei fiel mir selbst mit vom Salzwasser tränenden Augen auf, dass seine Augen genauso dunkel waren, wie seine Haare, die ihm feucht in die Stirn fielen. Da ich dieses abwartende und alles andere als angenehme Schweigen eindeutig keine Sekunde länger aushielt, ergriff doch ich zuerst das Wort.
"Sorry, du standest leider echt ungünstig."

Seine Augenbraue ging ein Stück weiter nach oben, sein Gesichtsausdruck war weiterhin eine Maske, die ich nicht deuten konnte. Mir fiel auf, dass der Satz die Situation wohl ein wenig falsch darstellte, weshalb ich mich dazu entschied das Ganze vielleicht doch lieber genauer zu erklären. Normalerweise machte ich mir nicht die Mühe mich zu verteidigen, aber es war auch das erste Mal, dass ich jemanden von einer Klippe gestoßen hatte. Bekanntlich gab es ja für alles ein erstes Mal.
"Einer der spanischen Knirpse oben hat mich geschubst und ich stand eben direkt hinter dir. Ich hoffe übrigens du kannst Deutsch und guckst mich nicht so an, weil du kein Wort verstehst von dem, was ich hier sage."
Nachdem ich nun endlich wieder normal sehen konnte, blickte ich erneut direkt in die Augen des Dunkelhaarigen und erkannte sie plötzlich. Sie lösten bei mir die Erinnerungen an bestimmte Gefühle aus, wobei diese sich teilweise komplett widersprachen. Ausgelassenheit, Freude, Vertrautheit waren ebenso dabei, wie Enttäuschung, Wut und Trauer. In diesem Moment konnte ich diese Emotionen jedoch nicht zuordnen und runzelte lediglich leicht die Stirn beim Versuch, mir nichts anmerken zu lassen.
Hätte ich nochmal an den ersten Satz gedacht, den ich nach dem Auftauchen zu ihm gesagt hatte, wäre womöglich so einiges klarer. Es waren die selben Worte, die ich bereits bei unserem Allerersten Treffen an ihn gerichtet hatte, vor mehr als 5 Jahren.

Do You Believe In Fate?Where stories live. Discover now