Während sie sich ihr Handy vom Nachttisch schnappte und den Schlüssel unter dem Kleiderhaufen hervor fischte, überlegte sie, was sie unternehmen könnte. An so einem strahlend sonnigen Tag wie heute war das Freibad in der Stadt bestimmt überfüllt. Es gab auch noch einen See nicht weit von ihr mit dem Fahrrad entfernt, doch auch dort wäre sie nicht die Einzige, die auf diesen Gedanken gekommen wäre. Elena hatte keine Lust, sich mit schwitzenden Menschen um einen guten Liegeplatz zu streiten, und eine Radtour zu machen, fiel ebenfalls ins Wasser, denn die Strecke, die sie immer entlangfuhr, wurde umgegraben, daher war der Weg versperrt worden. Also beschloss sie, laufen zu gehen.
Vor etwa zwei Jahren war sie dem Sportteam der Schule beigetreten, und auch als das Team sich aufgelöst hatte, da es zu wenig Wettkampfdisziplinen gewann, blieb das wöchentliche Laufen im Wald ein Hobby für sie. Anfangs hatte sich Claire noch Sorgen um sie gemacht, weil sie oft bis spät am Abend im Wald geblieben war, aber sie war froh, dass ihre Tochter Sport machte, und sich nicht auf irgendwelchen Partys mit Alkohol betrank. Denn wenn es eine Frau gab, deren Gesundheit wichtiger war als alles andere, dann war es ihre Mutter. Ja, Elena wollte endlich wieder Laufen gehen. Kurz entschlossen steckte sie sich den Schlüssel in die Hosentasche, zog ihre Turnschuhe an und schloss die Tür hinter sich zu. Nachdem sie der Hauptstraße bis zu ihrem Ende gefolgt war, schlug sie einen kleinen, verschlungenen Feldweg ein. An dessen Ende erstreckte sich der große, dunkle Wald, den Elena kannte, seit sie ein Kleinkind war.
Vogelgezwitscher hallte in der klaren Luft nach, und der modrige Geruch wurde stärker, als sie sich unter tief hängende Äste hindurch duckte. Leichter Wind strich ihr die Haare nach hinten, als sie den Waldweg betrat und zu Laufen begann. Früher war sie immer hier entlang gelaufen, wenn sie gestresst war oder einfach nur weg wollte vom Trubel des Alltags. Die friedliche Ruhe übertrug sich auch diesmal auf das Mädchen und es lief tiefer in den Wald hinein. Sie brachte Rhythmus in ihren Atem, machte eine Biegung und wurde schneller, bis ihre Beine brannten. Keuchend verlangsamte sie ihr Tempo etwas und joggte gemütlicher weiter. Schließlich verließ sie den üblichen Pfad und lief quer zwischen die Bäume hindurch. Je tiefer sie in den Wald hinein ging, desto kälter wurde es und sie fragte sich, warum sie keine Weste mitgenommen hatte. Elena holte tief Luft, versorgte ihre stechenden Lungen wieder mit Sauerstoff und hob den Kopf.
Über ihr war ein dichtes Blätterdach, nur wenige Sonnenstrahlen kamen hier durch. Neugierig ging sie weiter. Seit Jahren kannte sie jedes Fleckchen des Waldes und doch war sie sich sicher, noch nie auf diesem Weg gewesen zu sein. War das schon das Ende des Forstes? Ein kleiner Bach plätscherte an der Seite der Lichtung über die Steine und weiter vorne erspähte Elena eine glatte, graubraune Felswand. Elena runzelte die Stirn. Diese Lichtung hatte sie bestimmt noch nie gesehen.
Sie ging weiter und trat ins helle Sonnenlicht, als ihr ein jäh aufkommender Windstoß entgegenkam. Schützend hielt sie die Hand vor sich und kniff die Augen zusammen. Sie erwartete, dass der Windstrom schwächer wurde, doch er schien sich nur aufzubrausen. Blätter und kleine Äste wurden durch die Luft gewirbelt und bildeten kleine Kreisel um sie. Mit der Hand vor den Augen versuchte Elena herauszufinden, woher dieser plötzliche Windstoß herkam, doch am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Die 14-jährige erkannte, unter einer Art Bogen zu sein, den zwei zueinander geneigte Eichen bildeten. Sie hatten mächtige Stämme, lange Wurzeln und hielten dem brausenden Windsturm stand. Elena schloss ihre tränenden Augen, bis sie spürte, dass der Sturm abebbte und schließlich ganz erstarb. Sie strich sich Blätter aus den Haaren, öffnete die Augen und - stutzte.
Wo bin ich? schoss ihr durch den Kopf und unsicher sah sie sich um. Vor ihr tanzten goldene und rotbraune, herumwirbelnde Tupfen in der Luft, die sich als Blätter herausstellten, als der Wind ruhiger wurde. Unter ihren Schuhen spürte sie weiches Gras und zwischen ein paar Wolkenfetzen blitzte der königsblaue Himmel über ihr auf. Völlig perplex machte sie einen Schritt nach vorn und sah sich nach allen Seiten um. Wo auch immer sie hier gelandet war, es kam ihr nichts bekannt vor. Sie befand sich zwar immer noch in einem Wald, doch es war nicht der Wald, den sie kannte. Grünes, hüfthohes Gras und fliederfarbene Blumen wiegten im warmen Wind sanft hin und her, die Bäume standen hier in voller Blüte und die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher. Warmes Sonnenlicht strahlte durch die hohen Baumkronen auf sie herab, aus Bäumen, die so hoch waren, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um zu den obersten Ästen blicken zu können. Irgendwo keckerte ein Eichhörnchen und ein Schwarm kleiner Vögel flog über sie hinweg.
Verblüfft und gleichermaßen begeistert von der malerischen Landschaft ging sie weiter, strich an duftenden Farnwedeln vorbei und stieg über einen schmalen Bach, der aus dem Wald führte. Egal, wohin sie sah, nichts kam dem Wald gleich, den sie kannte, nichts an diesem Ort war ihr vertraut. Doch die Neugier war stärker als ihre Zurückhaltung, also wurde sie schneller, bis sie schließlich an den Waldrand gelangte. Vor ihr fiel der Hang steil ab und sie blickte in ein schillerndes Tal hinab. Sonnenlicht strahlte zwischen majestätisch aufragenden Berggipfeln empor, zahlreiche Flüsse schlängelten sich durch weitläufige Wiesen, Wälder und Felder hindurch und aus kleinen, grauen Fleckchen in der Landschaft, die sich beim genaueren Hinsehen als steinerne Häuschen herausstellten, stieg Rauch auf. Einige Leute wuselten im Dorf hin und her, andere führten Pferde mit sich, ein paar Kinder liefen lachend zwischen den Häusern herum.
Sprachlos starrte Elena ins Tal. Wo war sie hier gelandet? Sollte sie um Hilfe fragen? Oder einfach zurückgehen? Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter in den hellen, herbstlich strahlenden Wald und dachte daran, ins Dickicht zurück zu kehren. Doch sie war sich sicher, dass sie den Weg, den sie gekommen war, nicht wieder finden würde, nicht in dem fremden, riesigen Wald. Unschlüssig sah sie wieder ins Tal. Die Hand wie einen Schirm über die Augen gehalten, um im hellen Licht der Sonne etwas erkennen zu können, machte sie am anderen Ende des Tals eine mächtige Burg aus. Die imposant gebaute Festung hatte rote Mauern, zahlreiche Türme, die in den Himmel emporragten und mehrere, oben spitz zulaufende Fenster. Daneben lag in einiger Entfernung ein dichter Tannenwald und weiter hinten, fast schon am Horizont, wo man im Nebel vereinzelte, zerklüftete Bergketten erkennen konnte, glitzerte es malerisch. Konnte das das Meer sein? Elena schüttelte den Kopf. Eines war ganz klar: Das war nicht die Welt, in der sie geboren war.
Sie musste herausfinden, wo sie hier war und wie sie wieder nach Hause kam, bevor es dunkel wurde, sonst würde ihre Mutter noch ausflippen. Vielleicht konnte sie im Dorf ja doch um Hilfe fragen. Langsam atmete sie aus und kletterte zusammen gekauert, vorsichtig schlitternd den steilen Abhang hinunter und rannte in Richtung der kleinen, steinernen Häuschen. Als sie sich zwischen den Häusern vorbei schlängelte, warfen ihr die vorbeikommenden Leute, misstrauische und zum Teil ungläubige Blicke zu. Sie trugen einfache, braunrote Kleidung und Elena wurde verunsichert, als sie sie leise tuscheln hörten und in ihre Richtung merkwürdige Blicke warfen sah. Sie entschied sich, nicht im Dorf um Hilfe zu fragen, sondern es eher in der Nähe des Schlosses, das auf einem erhöhten Hang thronte, zu versuchen. Sie beeilte sich, auf kurzem Weg aus der Stadt zu kommen und lief zu grasbewachsenen Hügel. Als sie im schnellen Tempo dort ankam, erkannte sie überrascht und leicht außer Atem, dass das massive, dunkelbraune Tor offen stand. Elena setzte sich rasch in Bewegung, und rannte in das Schloss, als sie plötzlich im vollen Lauf gestoppt und unsanft zu Boden gerissen wurde. Erschrocken schnappte sie nach Atem, als ihr beim unsanften Aufprall die Luft aus dem Körper gepresst wurde. „Tut mir leid, bist du verletzt?", fragte eine helle Mädchenstimme, als sie sich wieder hochrappelte. Elena hob den Kopf und sah in hellgrüne, funkelnde Augen, die sie besorgt ansahen. Vor ihr stand ein äußerst hübsches Mädchen, ungefähr in ihrem Alter, dass etwas kleiner war als sie selbst. Sie hatte helle Haut, hellgrüne Augen, und schwarze, lange, gewellte Haare, von denen die vordersten Strähnen nach hinten gebunden waren. Ihre Kleidung bestand größtenteils aus geschmeidigem Leder, also einer brauner Hose, einem beigen Oberteil und in einem Gürtel, den sie um ihre Hüfte geschnallt hatte, steckte ein kleiner Dolch.
„Nein, alles okay.", sagte Elena rasch und sah, wie sich das Mädchen entspannte. „Wie heißt du? Ich bin Bella.", sagte es freundlich. „Elena. Könnest du mir vielleicht sagen wo ich bin? Oder wie ich von hier nach Hause komme?" Bella sah sie für einen Moment lang nur nachdenklich an und runzelte die Stirn. Dann huschte Erkenntnis über ihr Gesicht und sie strahlte plötzlich. „Elena! Komm mit, meine Mutter kann dir helfen." Ohne auf Elena's Antwort zu warten, nahm sie sie an der Hand und zog sie in die Burg hinein. Vor ihnen tauchte ein gewaltiger Saal auf. Die Eingangshalle hatte einen spiegelglatt polierten Marmorboden und die hohe, nach oben gewölbte, weiße Decke wurde von mächtigen Säulen an jeder Seite gestützt. Soweit Elena hinschaute, führten Treppen, Türen und zahlreiche Gänge von der Halle weg. Spiegel in allen Größen, Bilder und kunstvoll gemalte Zeichnungen von Reitern mit erhobenen Speeren schmückten die Wände und von der hohen, nach oben gewölbten, weiß gestrichenen Decke hingen zwei riesige, glänzende Kronleuchter herab. Als sie am Ende der Halle waren, drehte sich das Mädchen zu Elena um. „Ich weiß, dass ist alles verwirrend für dich, aber meine Mum kann dir helfen. Ich bin gleich wieder da, okay?" Elena blieb derweil sowieso nichts anderes übrig und als Bella eine junge Frau in einem braunen Kleid zu sich rief und sie bat, für Elena heiße Schokolade und Kuchen zu bringen, wurde Elena etwas zuversichtlicher. Als Bella verschwand setzte sie sich auf das rot-golden bestickte Sofa vor einem Kamin und trank in kleinen Schlucken den heißen Kakao, der ihr gebracht wurde.