Der Tag strich an ihm vorbei wie müde Augenaufschläge und irgendwann ließ er sich nahe eines Baumstammes nieder, den die Holzfäller an diesem Tag geschlagen hatten. Er versuchte unablässig bei Bewusstsein zu bleiben, driftete beim Einbrechen der Nacht jedoch in das Reich der Dunkelheit ab, wobei ihn eine tiefe Ruhe beschlich, die seinen Atem ruhiger und seinen Puls langsamer werden ließ.

Als er die Augen wieder aufschlug, konnte er Grace´ Gestalt zwischen den dunklen Bäumen erahnen und glaubte sie würde ihn nun auch in seinen Träumen verfolgen. Zart wie eine Elfe sah sie aus, nur in ihren seidenen weißen Morgenmantel gehüllt, der ihr um den schlanken Körper geweht wurde. Doch etwas war merkwürdig. Er konnte das Brennen seiner Wunde fühlen und spürte wie sein nasses Fell ihn frösteln ließ. Er träumte nicht. Sie war tatsächlich hier.

Mit einem kläglich klingenden Laut streckte er sehnsüchtig den Kopf in ihre Richtung, sackte jedoch zurück auf den Boden als der Schmerz durch seinen Körper fuhr. Er wollte die Angst aus ihrer Miene vertreiben, wollte sie zurück nach Hause schicken, wo sie sich an die Nacht wie an einen Traum erinnern würde, doch er konnte es nicht. Stattdessen schloss er die Augen und sein Fell verschwand, genauso wie das tierische Winseln, das sich nun in ein raues menschliches Keuchen verwandelte.

„Hilfe“, entwich seiner trockenen Kehle und seine menschliche Stimme klang fremd in seinen Ohren.

„Bitte...hilf mir“, flehte er erneut, dieses Mal lauter und mit kräftigerem Ton. Es schmerzte ihn, sich ihr zu erkennen zu geben, ihr zu offenbaren, dass ihr Schlafwandeln viel mehr als nur ein böser Traum war. Dass es mehr gab, als nur ihre heile Welt, auch wenn er sich nach dieser Frau verzehrte, die er nun schon seit so vielen Wochen Nacht für Nacht beobachtete.

Bei seinem Ruf fuhr Grace erschrocken herum und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Doch auch ohne jemanden ausmachen zu können, tat sie langsame Schritte in die Richtung des Verletzten, dessen bloße Anwesenheit sie anzuziehen schien.

„Hier“, versuchte er ihr den Weg zu weisen, wobei er ihren zögernden Bewegungen mit den Augen folgte, bis sie schließlich bei ihm war und er die Hand seines unversehrten Armes vorsichtig nach ihr ausstreckte. Tastend ergriff Grace seine Hand, die sie aber augenblicklich mit einem entsetzen Aufkeuchen wieder losließ.

„Wer bist du?“

Panik schwang in ihrer Stimme mit, als sie den nackten Mann am Boden entdeckte und hastig einen Schritt zurücktrat.

„Bitte geh nicht!“, gab er schnell zurück und versuchte sich aufzusetzen, was ihm ein dumpfes Keuchen abverlangte. „Ich bin verletzt“

Wie ein aufgeschrecktes Reh sah sie ihn aus großen Augen an, doch er fand Anklang bei ihr mit seinen Worten. Zögernd ließ sie sich neben ihn auf das feuchte Moos sinken.

„Was ist passiert?“

„Unwichtig“, erwiderte er knapp, als sie den blutgetränkten Verband an seinem Arm mit gerunzelter Stirn betrachtete.

„Ich muss einen Krankenwagen rufen“

„Nein, bitte nicht“

Mit flatternden Lidern fielen ihm die Augen zu, woraufhin er seinem flach gehendem Atem lauschte, um sich auf etwas zu konzentrieren, das ihn davon abhielt erneut das Bewusstsein zu verlieren.

„Aber du bist verletzt“, versuchte Grace ihm ins Gewissen zu reden, was ihn aber nur träge den Kopf schütteln ließ, als sich ein dumpfer Schmerz durch seine Glieder zog. Mit einem leisen Knurren verzog er das Gesicht, schaffte es aber die Augen zu öffnen, um die blonde Frau ansehen zu können.

„Ich brauche deine Hilfe Grace“

Mit überrascht geöffneten Lippen sah sie ihn an, verwundert darüber, dass er ihren Namen kannte.

„Aber woher-“

Schnell brachte er sie zum Schweigen, indem er ihr den Zeigefinger auf die Lippen legte. Er musste der Versuchung widerstehen ihre fein geschwungene Oberlippe mit der Fingerkuppe nachzufahren und konzentrierte sich deshalb hastig wieder auf den Schmerz, der sich von seinem linken Arm ausgehend durch seinen gesamten Körper zog.

„Du kannst mir vertrauen“

Mit einem beruhigenden Lächeln sah er sie an und hasste sich schon im nächsten Augenblick dafür sie so zu beeinflussen. Sein Lächeln zaghaft erwidernd half sie ihm sich aufzusetzen, wobei all ihre Ängste verflogen, die sie einem fremden Mann eigentlich entgegenbringen sollte. Sie verspürte nichts weiter als eine tiefe Verbundenheit und dem Drang ihm zu helfen.

„Kannst du aufstehen?“, fragte sie mit ruhiger Stimme, war jedoch noch immer von seinen goldenen Augen in den Bann gezogen.
Mit einem Nicken gab er ihr zu verstehen, dass er es konnte, auch wenn er das nur tat um sich selbst Mut zuzusprechen, um nicht in dieser Nacht elendig im Dreck zu verrecken. Der Biss des Bären brannte mehr als er es sonst tat. Wahrscheinlich hatte in dem dichten braunen Fell einer dieser kleinen Giftpfeile der Jäger gesteckt, sodass das Gift nun auch durch seine Adern floss.

„Sicher?“, riss Grace ihn aus seinen Gedanken.

„Ja“

Und damit legte sie sich seinen unversehrten Arm über die Schultern und half ihm aufzustehen, wobei er wankend auf die Füße kam und sich an sie klammerte, aus Angst der Schwindel könnte ihn zu Boden reißen. Sein Kopf kippte auf ihre Schulter, wobei der Duft ihrer Haare ihn umhüllte und die Tatsache, dass sie kaum genug Kraft hatte seinen muskulösen Körper zu stützen, für ihn zu einer Nichtigkeit wurde.

Während sie ihn festhielt, ließ sie die kühlen Finger über seinen Rücken gleiten und ertastete heiße Haut, die sich über gewölbte Muskeln spannte.

"Du glühst ja richtig"

Bestimmt hat er Fieber, kam ihr, weshalb sie besorgt das Gesicht verzog und den Griff um seinen Unterrücken verstärkte.
"Wir müssen gehen. Ich bringe dich zu mir" Ihre ruhige Stimme machte ihn schläfrig, doch er zwang sich dazu die Augen zu öffnen und mit ihrer Hilfe loszulaufen. Einen Schritt nach dem anderen näherten sie sich dem mit Sägespänen bedecktem Weg, der sie aus dem Wald führen würde. Etliche Minuten später, die ihm vorkamen wie Stunden, in denen der Schmerz ihn peinigte, erreichten sie die Veranda des Hauses, das Grace von ihrer Großmutter geerbt hatte. Das Licht brannte noch, so als hätte sie es in aller Eile verlassen, doch er wusste, dass sie der Schlafwandel dazu getrieben hatte mitten in der Nacht in den Wald zu gehen, in den sich tagsüber nicht einmal Wanderer verirrten.

Mit einem erschöpften Seufzen hievte Grace den entblößten Mann die Stufen zur Tür hinauf, die weit geöffnet stand und ihr so den heimeligen Duft entgegenwehte. Alles kam ihr so merkwürdig bekannt vor. Das Licht, das durch die Tür auf die Holzdielen der Veranda fiel. Die aufgewühlten Decken auf dem Sofa, auf dem sie am Abend zuvor eingeschlafen war. Sowie das Laub, das der Wind auf die bunten Teppiche im Wohnzimmer gekehrt hatte. Doch das Ächzen des Unbekannten entriss sie ihren Gedanken und mahnte sie dazu ihn hastig auf die Couch zu setzen, wo sein Arm zitternd von ihren Schultern glitt.

"Was soll ich tun?", fragte sie mit hilflos klingender Stimme, wobei sie den Blick über den Fremden gleiten ließ, der sich mit bebendem Brustkorb an das Polster lehnte.

"Was ist überhaupt passiert?" Ihre Stimme nahm einen schrillen Ton an, als ihr Blick über den blutgetränkten Verband an seinem Arm wanderte, der die Erinnerungen an den Morgen in ihr wach rief. Mit hilflos verzogenem Gesicht begann sie das weiße Mull von seinem Oberarm zu wickeln, wobei sie langsam den blutigen Abdruck großer Zähne entblößte.

"Was zum..?!" Entsetzt schnappe Grace nach Luft, als ihr die Ähnlichkeit zu der Wunde des grauen Wolfs auffiel, dem sie eben diesen Verband am Morgen angelegt hatte.

"Ein Bär", antwortete er ruhig und öffnete die schweren Lider um die hübsche Frau ansehen zu können, deren Nähe ihm noch immer wie ein Traum erschien. Ihre Miene war vor Schock verzogen, doch er nahm behutsam ihre zierliche Hand in seine und sah sie an.

"Du musst dich beruhigen Grace", flüsterte er eindringlich und genoss den Klang ihres Namens aus seinem Mund. "Ich brauche deine Hilfe und nur deine" Sein Blick nahm die selbe Dringlichkeit an wie seine Stimme, die Grace dazu brachte ruhiger zu werden. Schnell zog sie die Hand aus seinem Griff und auch wenn er sie am liebsten festgehalten hätte, ließ er sie ziehen und sah ihr nur stumm hinterher, als sie aus der Tür in den angrenzenden Raum verschwand.

HowlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt