Pfefferminzfantasie

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Gedankenverloren rühre ich stückchenweise Pfefferminzstangen in meine heiße Schokolade und wickle meine dünne Decke enger um den zitternden Körper. Grün und zuckrig verschwimmen die Muster im Kakaopulver.

Ich starre an das nächtliche Firmament, diesen undurchdringlichen, tiefschwarzen Seidenteppich, gewebt aus Milliarden von goldenen Glitzersternen. Haselnussgroße Hagelkörner prasseln gegen die Scheibe. Der nasse Wind schlägt mir flach ins Gesicht.

Der Halbmond steht blass und schwach über dem Schornstein, und ich beuge mich vor, um das nächtliche Schauspiel in meinem Zimmer auf dem Dach nicht zu verpassen.

Ich blende die heiseren Schreie und das verzweifelte, abgehackte Schluchzen aus der Küche aus, kneife meine Augen zu und atme so tief ein, dass die eiskalte, nach Regen schmeckende Nachtluft mich zum Husten bringt, und die bläulichen Adern durch meine schneeweiße Haut am Unterarm hindurchschimmern.

Nach gefühlten zwei Sekunden schwinge ich mich schweren Herzens auf und folge dem unverkennbaren Duft verbrannter Instantnudeln in die Küche neben meinem Zimmer.

In einer brüchigen Porzellanschüssel dümpeln helle, labbrige Udonnudeln müde von angesprungener Ecke zu angesprungener Ecke. Die Schüssel verbreitet einen penetranten, salzigen Geruch in der Wohnung, den ich bewusst ignoriere, als ich mich still hinsetze und mein Abendessen löffle.

Ich muss nachhause. Ich muss hier weg.

Der heiße Nudeldampf in Kombination mit dem grauen Rauch von Mamas Mentholzigaretten lässt die ohnehin stickige Luft schwer auf mir lasten.

Ihre wirren Worte benebeln meine Sinne, und bald dringen die leeren Phrasen nicht mehr zu mir durch. Aus dem Augenwinkel beobachte ich müde, wie sich ihr rechter Arm mechanisch hebt, senkt und halbvolle Gabeln an den Mund führt. Die altbekannte Schläfrigkeit übermannt mich, zwingt mich, meinen Kopf auf den kühlen Holztisch zu senken.

Ich versuche einzuatmen, doch meine Brust fühlt sich plötzlich tonnenschwer und eingeklemmt an.

Meine Lungen füllen sich mit pechschwarzem Wasser. Ich hole pfeifend Luft, und das Meer überflutet meine Sinne. Ich kann wieder atmen.

Salz auf meiner Zunge. Ich spucke lachend aus und lasse mich auf der neongelben Luftmatratze über den Wellen treiben. Das strahlende Licht der heißen Mittagssonne färbt das hellblaue Wasser um mich herum goldgelb. Ein paar Meter entfernt spielen zwei Kinder ausgelassen mit ihrem Wasserball.

Mein Vater hebt mich hoch und wirbelt mich herum, bis sich die Welt in einem bunten, schwindelerregenden Farbenspiel um mich dreht, einem Kaleidoskop der verschiedenen Nuancen des Glücks.

Meine Mutter, mit ihren lustigen braunen Augen, sieht uns vom Liegestuhl aus hinter ihrer Zeitung zu. Sie grinst breit und winkt uns zu. Ihre Backen leuchten erdbeerrot. Später reißen wir große Stücke von einem weißen, knusprigen Baguette ab, stopfen uns dazu reife Tomaten, Oliven und Ziegenkäse in den Mund.

Mein kleiner Bruder, Jasper, kräht fröhlich in seinem Kinderwagen und nuckelt an einer der saftigen Erdbeeren vom Markt, deren Säfte an seinem geringelten T-Shirt herunterrinnen. Sein Mund ist zu einem dunkelroten Lächeln verschmiert.

Später werden wir im Strandrestaurant zu Abend essen. Vielleicht gibt es sogar einen kleinen Eisbecher für mich. Schokolade oder Haselnuss, Vanille und Erdbeere.

Es ist ein glühend heißer Spätsommertag, trunken vor Glück, vier Jahre her.

Kurz trifft meine letzte schöne Erinnerung auf den bitteren, üblen Geschmack der Realität, der wie hartnäckiger Schleim in meinem Rachen festsitzt und mir den Atem raubt.

Ich weiß, dass sie mich beobachten, dass ihre Spielregeln Ausflüge in die Vergangenheit nicht vorsehen. Ich würge, stehe auf und zähle langsam von zehn rückwärts, um mich nicht in hellgelbem Schwall auf den Holzboden zu übergeben.

Es ist nicht meine Mutter, die dort in der Altbauküche sitzt und mit ihren kalten, leblosen Händen auf den Tisch trommelt, die mit dem ewig gleichen schiefen Lächeln auf mich wartet.

Sie möchte mich an ihrer Seite haben, mich in ihre Brust ohne Herzschlag schließen, mich mit eisigen, knöchernen Fäusten umarmen, und ihren Liebling nie wieder loslassen.

Ich weiß nicht, wann, aber ich werde mir mein Leben zurückholen.

Minuten später wache ich mit unregelmäßigem Herzschlag aus todesähnlichem Schlaf auf.

Der feuchte Wind bauscht die gelbgesprenkelten Vorhänge auf und schleicht sich unter meine Daunendecke. Es ist ein Frühlingsmorgen der unangenehmen Art, schwül, stickig und klebrig wie Akazienhonig.

Meine Lippen sind ausgetrocknet, mein Nacken verspannt. Meine Zunge fühlt sich wie ein unnützes, ausgedörrtes Stück trockener Stoff an. Die häufige Flucht in die Vergangenheit, meine Flucht vor ihrem perfiden Spiel hat ihren Preis, auch wenn das hier meine letzte Reise war.

Angewidert lecke ich mir mit den letzten Speichelresten ein wenig Feuchtigkeit an die pelzigen Lippen.

Der Spiegel zeigt ein gestochen scharfes Bild von meinem teigigen, aschfahlen Gesicht, gekrönt von riesigen violetten Augenringen, die sich mit dem restlichen grauen, sommersprossigen Teint beißen und zusammen mit meinen scharf hervorstechenden Wangenknochen ein bemitleidenswertes Erscheinungsbild abgeben. Ich setze mein einstudiertes Lächeln auf und gehe zurück, zurück zu den Bergen von Geschirr, garniert mit angetrockneten Essensresten und klebrigen, braunen Soßen, und zurück zu den leeren Augen meiner falschen Mutter.

Wenn sie traurig und enttäuscht von mir ist, wie jetzt, glänzen sie wie blankpolierte, schwarze Knöpfe, die jemand notdürftig an eine Puppe angenäht hat.

Die Schokolade, bräunlich-blau, steht erfroren am Fensterbrett und die ewig blasse Sonne löscht die letzten Sterne vom Himmel. Mein Herzschlag geht noch immer unregelmäßig und hart. Ich schließe die Augen und lächle. Mein Atem schmeckt nach Pfefferminzbonbons. Meine Hand schließt sich fest um den hölzernen Griff des Messers auf meinem Kopfkissen.

Heute ist es soweit.

Das Spiel ist aus.

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⏰ Last updated: Jan 07, 2018 ⏰

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