Hast du Angst vor dem Tod?

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„Hast du eigentlich Angst vorm Tod?", fragt er mich.

Habe ich Angst vor dem Tod? Woher soll ich das denn wissen, ich bin ihm ja noch nie persönlich begegnet. Ich höre zwar überall davon, dass Menschen sterben und natürlich ist es tragisch, aber ich habe keinen Bezug zu ihnen, keine Bindung, also fühle ich nicht wirklich etwas dabei. Hat das überhaupt etwas damit zu tun? Immerhin fühle ich auch nichts bei Menschen, die ich kenne. Als Papa mir vor einigen Monaten sagte, dass Oma gestorben sei, war ich zwar etwas überrascht und es tat mir leid, aber auch da fühlte ich nichts. Ich hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen, daran muss es gelegen haben, oder? Vielleicht stimmt auch einfach etwas mit mir nicht, kann das sein? Jeder sagt doch immer, dass er Angst vorm Tod habe und ist traurig, wenn seine Verwandten sterben...wieso ist das bei mir nicht so?
Ich habe zwar Angst Menschen zu verlieren, aber sobald der Tod sich da einmischt, kann ich mir das nicht mehr so richtig vorstellen. Meine Gefühle schalten sich irgendwie aus.
Mama sagte mir vor ein paar Tagen, dass es sein könnte, dass sie Brustkrebs habe und das einzige, was ich dazu sagte, war „Okay". Ist das nicht komisch? Sollte man in solchen Momenten nicht emotionaler werden? Zum Weinen beginnen? Ich meine, so gesehen hat sie mir gesagt, dass sie bald sterben könnte. Aber genau das ist es ja, wir alle könnten jeden Moment sterben, also wieso sollte ich dann Angst davor haben? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie jetzt tot ist.
Ist es schlimmer, wenn eine Person, die einem wichtig ist, einen freiwillig verlässt oder ist es schlimmer, wenn sie stirbt und sozusagen unfreiwillig geht? Ergibt das überhaupt Sinn? Müsste es nicht schlimmer sein, wenn eine Person stirbt? Dann kann ich sie doch nie wieder sehen, ihr nie wieder etwas sagen. Aber wenn mich jemand einfach so verlässt, dann will die Person nicht mehr bei mir sein. Vielleicht hat sie keine Lust mehr auf mich. Vielleicht langweile ich sie, oder war nur eine Ablenkung für sie. Ist das dann nicht doch wieder schlimmer? Bei dem Menschen, der gestorben ist, weiß ich ja noch immer, dass er mich mochte, aber der Mensch, der einfach so gegangen ist, will mich nicht mehr in seinem Leben. Sowie sie. Eine der wenigen Menschen, von denen ich dachte, sie würde mich nie verlassen. Und doch hat sie es getan. Freiwillig. Und ich konnte nichts daran ändern. Ich habe das Gefühl, als wäre, jedes Mal, wenn ein Mensch, der mir sehr wichtig war, mich im Stich gelassen hat, ein kleiner Teil von mir mit ihnen gegangen, so als wäre er gestorben. Irgendwie gibt es zwei Arten zu sterben, die eine, in der man mit einem Mal stirbt, die alles beendet und die andere, in der man eben Stück für Stück stirbt. Durch Verluste, Schmerz, Trauer. Durch Ereignisse, die so schmerzhaft sind, dass man sie nie ganz überwindet. Vielleicht dramatisiere ich das Ganze gerade etwas, aber genauso fühlt es sich doch an.
Aber sollte der Tod nicht etwas völlig Normales sein, ist er nicht etwas völlig Normales? Ohne den Tod würde das Leben doch überhaupt keinen Sinn machen, oder? Ein Anfang muss doch immer ein Ende haben, sonst...

„Laura, bist du noch da? Ich habe dich was gefragt", sagt er und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich antworte nur mit einem schwachen „Hmm?" und er wiederholt seine Frage: „Ob du Angst vorm Tod hast, habe ich gefragt." Ohne zu zögern sage ich: „Nein, habe ich nicht, ich habe keine Angst vor dem Tod.

Hast du Angst vor dem Tod?Where stories live. Discover now