Die Bestie

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,,Du bist so eine Bestie!", das waren ihre letzten Worte im Krankenhaus, ehe ich merkte, dass ich das größte Arschloch überhaupt war und sie nun für immer verloren hatte.


Jeden Tag begegnete ich ihr in der Schule mit ihren Büchern im Arm und ihrem roten langen Haar, was ihr über die Schulter fiel. Ihre Augen grünen erinnerten mich an einen Diopsid und auch ihr Lächeln war unbezahlbar. Sogar ihre Figur war von Gott gesegnet. Eine Traumfrau. Sie schaute mich an und schaute wieder weg, sobald ich einen blöden Spruch über die Lippen brachte, um sie vor der ganzen Klasse zu blamieren, um ihr meinen Hass auszudrücken, den ich gar nicht empfand.
Mittlerweile stand sie mit ihrer besten Freundin auf der anderen Seite des Ganges und weit entfernt von unserer Klasse. Im Klassenraum saß sie ganz vorne und ignorierte die Kommentare ihrer Mitschüler und mir. Vielleicht auch nur die von mir. Ihre Schutzwände waren so hart wie Eisen. Doch ich wollte diese brechen, ich lies es nicht auf mir sitzen, dass das Mädchen, was neben mir wohnte und damals Tag für Tag mit mir gespielt hatte, mich nun ignorierte. Es gab kein Spiel, das ich verlor. Ich war ein Gewinner.
Einst trafen wir uns auf einer Wiese. Ihr Kopf lag auf meinem Schoß, ihre Beine waren angewinkelt und ich streichelte ihr Haar, dessen Duft nach Vanille mir einfach ewig in Erinnerung bleiben würde. Sie pflückte die Gänseblumen um sich herum, kordelte sie zu einer Kette und berichtete mir, welche ihre Lieblingsblumen waren. Löwenmäulchen. ,,Man denkt, sie seien gefährlich und in Wirklichkeit sind sie einfach süß und wunderschön", so erläuterte sie mir viele ihrer Vorlieben. Sie achtete niemals auf den Gegenstand, es ging ihr viel mehr um die Bedeutung und die Ironie dahinter.
Sie drückte mir einen Zettel in die Hand, doch den dürfte ich nicht öffnen. Nicht heute. Und ich tat es so, ich wollte ihrem Wunsch nachkommen.
Sie setzte sich auf und schaute mir tief in die Augen. Ich konnte ihre funkelnden Augen und ihre geweiteten Pupillen erkennen, ich wusste direkt, wie sie sich fühlte. Sie grinste mich an und ich sie. Eine Nasenlänge waren unsere Gesichter voneinander entfernt und mein ganzer Körper wurde von einer Gänsehaut und einem Kribbeln versehen. Ihre Haut ähnelte der einer Königen, einer Göttin. Wie konnte dieses Mädchen noch so lieb zu mir sein, womit hatte ich das verdient?
Ihr Gesicht kam meinem näher, ich spürte einen hauch warmen Atem an meinem Ohr, als sie mit ihrer melodischen, feinen Stimme flüsterte: ,,Du bist mein einziger Anhaltspunkt und der Grund, warum ich atme." Sie kam meinem Mund näher, erreichte fast meine Lippen, während ihr Blick immer zwischen diesen und meinen Augen wechselte. So zärtlich, so weich. Sie zögerte, doch wollte es wagen, sie wollte diese Spannung brechen. Es fühlte sich unglaublich aufregend an, sie war unglaublich. Es war so weit, in letzter Sekunde stieß ich sie weg, stand auf und verabschiedete sie als Schlunze.
Heute war sie nicht in der Schule aufzufinden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt und keiner hatte sie gesehen. Mein Magen fuhr eine Achterbahn und ich griff panisch nach dem Zettel, den ich seit einer Woche in meiner Jackentasche bei mir trug. Doch er war weg. Meine Konzentration galt dem gesamten Tag mir selber, ich lief mit einem Tunnelblick umher und schwieg. Hatte ich etwas schlechtes gegessen oder wieso war mir so übel?
Der Tunnel wurde erst belichtet, als Nachbarin klingelte und fassungslos berichtete, dass ihre Tochter im Krankenhaus sei. Erfasst von einem Auto.
Instinktiv schwang ich mich auf den Sattel des Fahrrads und radelte zum Krankenhaus.
Da lag sie. Gefesselt vom Blutbeutel und anderen Maschinen, doch sie konnte gerade noch selber atmen. Mein Herz setzte einen Moment lang aus und stockte wie ein Pferd, das mehrmals stolperte. Sie schlief wie eine Königin, denn sie sah trotz ihrer Kratzer und Narben wunderschön aus. Ich gab ihr einen sanften Kuss auf ihre Stirn. Ich glitt mit meiner Nase sanft an ihrer weichen Haut entlang und gab ihr dann einen Kuss auf ihre Wange. Auf ihrem Tisch lag ein Zettel, der genauso aussah, wie der, den sie mir gab. Hatte sie ihn mir weggenommen? Ich kniete mich vor ihr Bett und bemerkte, dass ich sie liebte. Ja, ich liebte sie, unglaublich vom ganzen Herzen. Ich wollte es ihr sagen, es aus meiner Seele herausschreien, sodass sie davon wach werden würde, doch der Kloß in meinem Hals verschlug mir die Sprache. Es tat weh, ich konnte ihn kaum zurückhalten, meine Lippen bibberten und Wasser lief mir die Wangen herunter. Ich griff ihre Hand und drückte sie fest an meine Brust. ,,Verlass mich jetzt nicht, du hast es doch geschafft. Dieses eine Spiel habe ich verloren. Ich akzeptiere es. Ja, du hast gewonnen. Du bist ein stärkerer Mensch als ich es je sein werde", flüsterte ich, obwohl mir bewusst war, dass sie mich nicht hören konnte. Ich griff nach dem Zettel und zerdrückte ihn in meiner Hand.  
Stundenlang saß ich hier, beobachtete sie und umspielte den Zettel mit meinen Fingern. Zwischendurch kamen Ärzte und dokumentierten ihre Fortschritte, doch keiner sprach mit mir. Meine Gedanken waren leer. Keinerlei Gedanken gewährte ich ansatzweise in meinem Kopf den Zutritt. 
Ihr Atem wurde mit jeder Stunde und Minute kräftiger, lauter, stabiler. Mittlerweile hatte sie leichte Zuckungen und bewegte sich. 
Es vergingen etliche Stunden, die von Sekunden geprägt waren. Niemals würde ich diesen Moment vergessen, als ihre Wimpern zuckten und mein Herz schneller schlagen ließ als ein Marathonlauf. Sie blickte mich an, ich blickte sie an. Ihre Pupillen weiteten sich und ihr Atem  wurde kräftiger, ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Zum ersten Mal lächelte ich sie an und ich meinte es auch so. Mein Magen kribbelte. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Berg bestiegen und endlich die Spitze erreicht. Als wäre ich eine Achterbahn gefahren oder als hätte ich einen Bungeesprung betätigt. 
Als ich nach ihrer Hand griff, zuckte sie weg. Es fiel ihr schwer, ihr Körper war schlapp und energielos, doch sie stoß mich ab. Ich hielt ihr den Zettel in die Luft, fragte sie vorwurfsvoll, wieso dieser bei ihr lag.
Mühevoll öffnete sie ihren Mund. Sie hatte ihn mir in der Schule aus der Tasche genommen und in ihre Jacke gesteckt. Ich wusste, dass ich ihn niemals verdient hatte. Ich sollte ihn gar nicht erst in der Hand halten. Ich schwieg von nun an. Ich redete kein Wort und blieb stumm neben ihr sitzen. Sie will mich nicht hier haben, sie will mich nicht hören. Diesen Wunsch erfüllte ich ihr. Mein einziger Auftrag war, ihr Gesellschaft zu leisten, sie sollte nicht alleine sein. Keiner sollte jemals alleine sein. 
Sie sprach ihre letzten Worte und starrte wieder an die Wand. Ich antwortete nicht darauf. Verdient, schrie mein Inneres zu mir, eine Bestie bist du. Minuten später wurde ihr Atem flacher und sie schlief ein. Für immer, wie ich später bemerkte. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging. 

Draußen griff ich nach meinem Feuerzeug, zündete den Zettel und meine Zigarette an. Ich las ihn nie. Ich wusste, dass ich ihn niemals verdient hatte.

Weg war sie. Ich auch.


Teufel der kleinen DingeOn viuen les histories. Descobreix ara