„Es geht um die Versammlung heute Nacht. Nach deiner ersten Übungsstunde dachte ich, dass du nichts Besonderes bist. Du warst weder besonders klug oder charmant noch waren deine Fähigkeiten überragend, aber in unserer letzten Trainingseinheit habe ich erkannt, dass vielleicht doch mehr in dir steckt, als ich zuerst dachte."
Gedankenverloren streicht die Königin über den samtenen Stoff ihres monströsen Kleids. Ich frage mich, ob sie extra eine lange Pause macht, um die Spannung zu steigern.
„Mir ist klar geworden, dass deine Fähigkeiten stark sind. Stärker als die von anderen. Deshalb habe ich beschlossen, dich auf die heutige Versammlung des Dunklen Rates einzuladen. Ich will, dass du etwas aus deinen Fähigkeiten machst. Der Rat ist ein Ziel, auf das du hinarbeiten kannst", schließt sie und meine Gedanken wandern zurück an meinen Geburtstag vor etwa einer Woche.
Augenblicklich schießt mir die Prophezeiung durch den Kopf.

Ein Mädchen, am Tag einer totalen Sonnenfinsternis zur Welt gekommen, wird die Kräfte Normalsterblicher übertreffen.

Mein Herz flattert wie ein keiner Vogel in meinem Brustkorb, während ich nach den richtigen Worten suche. „Ich ... ich würde mich wirklich freuen, an einer Versammlung teilzunehmen", sage ich schlussendlich, „Wo finden die Treffen statt?"
Die Königin lächelt selbstzufrieden. „Rancor wird dich um Mitternacht abholen."'
Wie Königin Zinariya sich verabschiedet und zum Schloss zurückkehrt, nehme ich gar nicht mehr war. In Gedanken bin ich schon bei der Versammlung heute Nacht.
Wieder einmal wird mir bewusst, dass ich hier nicht hergehöre. Dass ich Teil eines Plans bin. Nur eine Variable in einer Gleichung, die es gilt, zu lösen.
Der Dunkle Rat. Auf einmal scheint mein Ziel greifbar. Wenn ich nur an einer Versammlung teilnehme, werde ich zwar nicht genügend Informationen sammeln können, aber es ist ein Anfang.
Wer sagt, dass ich es nicht schaffen kann, in den Rat aufgenommen zu werden?

Der Rest des Tages zieht an mir vorbei wie im Film. Ich erzähle niemandem von dem Gespräch mit der Königin und Janaes bohrenden Fragen weiche ich gekonnt aus.
Nach dem Abendessen gehe ich duschen und putze meine Zähne. Ich versuche mich abzulenken, um nicht zu viel nachdenken zu müssen. Eine halbe Stunde lang kämme ich mich, bis meine Kopfhaut bitzelt und meine Haare schon ganz elektrisch aufgeladen sind. Dann lege ich mich ins Bett, in Gedanken bei der Versammlung. Ich will wenigstens eine Stunde schlafen, aber meine Augen wollen einfach nicht zufallen.
Um zehn Uhr gebe ich es frustriert auf und lasse all die Gedanken und Sorgen herein, die wie wild in meinem Kopf herumschwirren und mich ganz nervös machen.
Endlich – um kurz vor Mitternacht – klopft Rancor an meine Tür.
Ich werfe einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, bevor ich auf den Gang hinaustrete. In den zwei Stunden, in denen ich ununterbrochen nachdenken musste, habe ich mich auch für ein geeignetes Outfit entschieden.
Ich bin heute in veränderter Gestalt unterwegs, weil erstens die Kleiderauswahl hier nicht gerade berauschend ist und zweitens, weil ich denke, dass ich dadurch gleich Eindruck bei den Mitgliedern des Rates schinden kann.
Also trage ich ein knöchellanges, mitternachtsblaues Kleid mit schwingendem Rock und einem schmalen, diamantbesetzten Band rund um meine Taille. Ich fühle wie mich wie der wolkenlose Nachthimmel höchstpersönlich.

Rancor führt mich in die große Eingangshalle im Erdgeschoss, die verlassen vor uns liegt. Der Mond wirft sein blassbläuliches Licht auf den schwarzweißen Schachbrettboden und mein Schatten wird dadurch in die Länge gezogen.
Rancor humpelt auf den Thron der Königin zu und ich folge ihm gespannt. Bis jetzt hatte ich nur Theorien, wo die Versammlungen stattfinden. Eine meiner Ausgefallensten war, dass sich die Mitglieder im Wald auf einer Lichtung treffen, wo sie – in schwarze Kutten eingehüllt – im Kreis angeordnet stehen und Beschwörungsformeln in einer fremden Sprache murmeln.
Zu meiner Enttäuschung verlassen wir das Schloss nicht. Rancor betritt die kleine Erhöhung, auf der der Thron steht, und deutet auf den Boden hinter dem Thron.
Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch. Es ist so dunkel, dass ich rein gar nichts erkennen kann.
Rancor bückt sich mit einem Ächzen und schiebt den Thron etwa dreißig Zentimeter nach vorne. Mit seinen faltigen Händen tastet er über den Boden und ich sehe, wie er etwas zu fassen bekommt und daran zieht. Beinahe lautlos öffnet sich eine Falltür und schummriges Licht und murmelnde Stimmen dringen aus dem Inneren hervor.
Vor lauter Spannung halte ich die Luft an. Das ist einfach nur genial.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt