Leseprobe

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Eine ganze Weile fuhr ich schweigend mit dem ausgefransten Lappen über die Theke. Sie musste längst sauber sein, seit ungefähr zehn Minuten, doch es war eine so meditative Tätigkeit, dass ich nicht damit aufhören wollte. Bis ein Prickeln in meinem Nacken das Gefühl in mir erweckte, beobachtet zu werden. Möglichst unauffällig hob ich den Blick, doch da war es bereits geschehen. Kiran, der sich eben noch unterhalten hatte, sah mich quer durch den Raum an, als wünschte er sich nichts mehr, als mich zu berühren. Sein Lächeln war warm, doch im selben Augenblick enthielt es jene Traurigkeit, mit der er mich in letzter Zeit immer häufiger betrachtete. Traurigkeit, weil er wie ich spürte, was alles zwischen uns schief lief und doch nicht aus seiner Haut konnte? Oder Mitleid, weil er wusste, wie sehr ich mein Herz an ihn gekettet hatte – mehr, als er je würde erwidern können? Was davon zutraf, konnte ich nicht sagen, doch erinnerte ich mich, dass jene Traurigkeit sehr früh schon aufgetaucht war. Immer, wenn er mich sah, wenn er mich anlächelte, trübte etwas seine Gedanken und ließ ihn mich stumm anstarren, so als sei ich ein Geist. Einer, von dem er nicht wusste, ob er ihm begegnen wollte oder nicht.      Mit roten Wangen wandte ich mich von ihm ab und wienerte grundloser Weise ein paar Krüge, die entweder längst sauber waren oder es mit diesem Lappen nie mehr werden würden. Helfen tat mir dennoch keine dieser Tätigkeiten, denn das Bild, wie er dort saß und mich musterte, hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt.      In Gedanken schalt ich mich eine Närrin, dass ich überhaupt so viele Gedanken daran verschwendete, und vergaß in all der Aufregung die wichtigste Grundregel, die man im Umgang mit Kiran kennen sollte: Wenn du am allerwenigsten damit rechnest, wird er urplötzlich direkt neben dir stehen.      Vielleicht war ich deswegen so erschrocken, als er wie aus dem Nichts an meine Seite trat und die Unterarme auf das glänzende Holz legte. Er schwieg und sah mich nicht an. Auch ich sagte keinen Ton, wischte weiter hin und her und hin und her, doch aus den Augenwinkeln beobachtete ich eingehend seine Hände, die sich ineinander verschränkten, betrachtete die eleganten Handgelenke, die seine Ärmel freigaben.      Gott, er war so verdammt nah! Das tat er letzten Endes doch immer. Sagte kein Wort, aber kam mir so nah, dass mir der Geruch von kalter Luft und feuchter Erde das Gehirn vernebelte.     Wir sprachen kein Wort und dennoch fühlte es sich an, als würden wir ununterbrochen miteinander reden. Ein Spiel, das bei Frischverliebten niedlich ist. Bei uns jedoch, ich konnte mir nicht helfen, war ich des Spielens nur noch unendlich müde. Der ständigen Neubeginne, die mir das Gefühl gaben, wir würden uns im Kreis drehen, nur um jedes Mal an denselben Ausgangspunkt zurückzukehren. Mein Vater würde sagen „Eine dunkle Nacht hat ein helles Ende". Aber vielleicht gibt es Nächte, die nie enden und immer von vorne beginnen.     Die schmalen gepflegten Finger erinnerten mich daran, wie gern ich sie eigentlich streichelte. Jeden einzelnen. Am liebsten wollte ich es auch diesmal tun, doch eine ganze Schar von Gründen hielt mich zurück. Zwar stand er so nah bei mir, dass sich unsere Schultern beinahe berührten und ich deutlich die Wärme seines Körpers spürte, doch er war so weit weg, mir so fremd geworden, dass uns eine ganze Welt trennte.      Dabei war es mir doch so vertraut gewesen, das schmale Gesicht mit den hellen Augen, den Wimpern, die so lang waren, dass sie die Wangen berührten, wenn er blinzelte, und der Stupsnase, die mir so sehr ans Herz gewachsen war, wie einem eine Nase nur ans Herz wachsen kann.     Mein Herz schlug so laut gegen meine Rippen, dass es mir allmählich auf die Nerven ging und ich mich unwillkürlich fragte, ob er mich wirklich genauso vermisste wie ich ihn. Ob es ihn genauso viel kostete, mich in diesem Augenblick nicht zu berühren. Bevor ich etwas sagen konnte, irgendwas, und sei es noch so geistlos, hob ein Gast die Hand, um ihn zu sich zu winken, und Kiran stieß sich vom Tresen ab. Im Vorbeigehen legte er die Hand auf meinen Brustkorb als wollte er mir mit dieser Geste etwas sagen, für das es keine Worte gab. Sein Blick versank in meinem, einen kurzen Augenblick nur starrten wir einander ernst und ehrlich an, als würden wir unser Innerstes offenbaren. Im nächsten Moment waren seine Augen auf den Tisch in der linken hinteren Ecke des Pubs gerichtet, wo der scheinbar nicht sehr nüchterne Herr nach einem Ale rief, doch davon bekam ich kaum etwas mit. Kiran vermutlich genauso wenig, denn obwohl er mich nicht länger ansah, wusste ich, dass er sich seiner Berührung bewusst war. Es konnte unmöglich ein Zufall sein, dass sein Daumen die Unterseite meiner Brust streichelte, so sanft und heimlich, dass es garantiert niemand mitbekam. Kurz darauf ließ er bereits von mir ab und wand sich elegant durch den überfüllten Pub, um Bestellungen aufzunehmen. Der Moment war so schnell vergangen wie ein Wimpernschlag.     Keuchend stieß ich den Atem aus, den ich offensichtlich angehalten hatte, und hielt mich benommen an meinem Putzlappen fest. Das Streicheln, das Zwicken. Das Anstupsen und Anlehnen. Kirans Art, Zärtlichkeit zu schenken und zu erbitten, wo es ihm mit Worten unendlich schwerfiel.      Ihn zu lieben war leicht, so leicht wie Atmen. Mit ihm zusammen zu sein, und sei es nur im selben Raum, war es nicht. Da waren so viele Ängste, Wunden und Zweifel, so vieles, das mir schier das Herz zerriss, dass ich am liebsten davonlaufen wollte. Doch ihm in die Augen zu sehen, und sei es nur für zwei Sekunden, fühlte sich an, als wäre mit einem Mal ein Feuerzeug in meiner Brust. Ein Klicken, eine Flamme, und es wurde endlich wieder hell.


Gegen 0 Uhr war der Pub doch noch gerammelt voll, was ich seit Monaten nicht mehr erlebt hatte. Ein, zweimal kreuzten sich unsere Blicke über das Getümmel hinweg. Wenn sein bernsteinfarbener Blick zu mir herüberhuschte und er ein Gesicht machte, als wollte er mir etwas sagen, es aber schlichtweg nicht tat, kam ich mir vor wie in einem Kitschroman. Einem ziemlich schlecht geschriebenen Kitschroman, dessen Hauptcharaktere einem allmählich auf den Geist gingen. Denn ich konnte mir unter keinen Umständen vorstellen, dass ich heute Nacht bezüglich irgendwas Klarheit erhalten würde. Kiran würde sich herausreden, so wie immer, und ich würde mich fragen, wie lange ich diese Liebe noch aushielt. So wie immer.
     Vielleicht ist eine Kitschromanze mehr als die Wirklichkeit bieten kann. Vielleicht sehnte ich mich nach mehr, als es irgendwo gab und lief dabei blind einem Menschen hinterher, der gar nicht eingeholt werden wollte. Weil er, besser als ich, wusste, dass es nichts mehr zu hoffen gibt, wenn einen 200 Jahre trennen. 200 Jahre und so viele Geheimnisse.
     Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten wir einander gutgetan. Er war der Mensch gewesen, der mir Energie gab, etwas in meinem Leben zu verändern, der mich antrieb und der, ja, mir das Gefühl schenkte, tatsächlich am Leben zu sein. Zumindest hatte ich das einmal geglaubt. Bevor wir uns angeschwiegen, belogen und gegenseitig weggestoßen hatten. Oder vielleicht hatte ich mir nur so sehr gewünscht, mein fehlendes Puzzleteil gefunden zu haben.

Band 2: Seelenflieder (ehem. Fliedergrau und Katzengrün)Where stories live. Discover now