🌸 Kapitel 12 🌸

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Vor ihnen erstreckte sich ein breiter Fluss aus weißem Nebel. Es war unmöglich, das andere Ufer durch die Schwaden zu erkennen. Sie bewegten sich hin und her wie lebendige Wesen. Leo schien es, als reckten sich Gliedmaßen aus dem Dunst. Die Stille war durchzogen von einem unheilvollen Wispern.

Während Leontien den Fluss beobachtete, fielen die Augen des Hünen auf das Adium an ihrem Arm. Er fletschte die Zähne wie ein wildes Tier. ,,Woher hast du das?" Leontien folgte seinem Blick. ,Oh, mince! ' Sollte sie ihn anlügen? Das könnte ihre Lage jedoch noch verschlimmern. Sie entschied sich für die Wahrheit.
,,Ich habe es einem Reflektiker abgenommen."
Die Augen ihres Entführers verengten sich, aber sein linker Mundwinkel zog sich nach oben, als belustige ihn die Antwort zugleich. Dann packte er blitzschnell ihren Arm und quetschte ihn mit seiner riesigen Hand zusammen.

,,Au!", schrie Leo, aber er beachtete sie nicht, verstärkte seinen Griff sogar noch. Es knackte. Der Hüne löste seine Hand und die zerbrochenen Überreste des Adiums fielen auf den steinernen Untergrund. Leo rieb sich ihr Handgelenk, wo sich deutlich ein rosa Bluterguss abzeichnete.

,,Peilsender. Komm mit", sagte der Hüne, als würde das alles erklären. Leo schluckte eine zynische Bemerkung herunter und folgte ihm zu einem Steg. Die vermosten Planken, unter denen der kalte Nebel schwabbte, knarrten bei jedem Schritt. Am Ende des Stegs ragte ein Holzpfahl empor, an dessen Ende eine eiserne Glocke hing. Der Hüne ergriff ein herabbaumelndes Seil und zog daran. Die Luft um sie herum vibrierte, als der Klöppel gegen die Innenwand der Glocke schlug. Die Schwingungen brachten den Nebel des Flusses in Wallung, einige Dunstsäulen schlugen empor wie Sonneneruptionen und das unheimliche Flüstern schwoll an. Leontien lief ein Schauer über den Nacken. Ein, zwei, drei kräftige Glockenschläge später konnte man ein schwaches Leuchten über dem Nebel erkennen, das sich ihnen näherte.

Leo schaute ihren wortkargen Begleiter von der Seite an. Ihr war immer noch übel, aber sie musste mehr über die Welt, in der sie sich befand, erfahren, wenn sie es schaffen wollte, auf die Erde zurückzukehren. Falls das überhaupt möglich war.

,,Wohin bringst du mich?", fragte sie und ärgerte sich über das Beben in ihrer Stimme.

,,Zum Höllentor", brummte der Hüne, ohne seine bernsteinfarbenen Augen von dem näherkommenden Licht abzuwenden. Man konnte bereits die Silhouette eines gebeugten Mannes ausmachen.

,,Und danach?"

,,Zu deiner Mutter."

Leos Herz setzte einen Takt lang aus.
,,Meiner Mutter? Wie kann das sein? Sie ist doch ..."

Der Hüne wirkte verärgert. ,,Deiner Mutter, meiner Mutter, unser aller Mutter. Schweig jetzt!"

Wäre Jasper doch bloß hier. Dann hätten sie sich wenigstens streiten können. Irgendetwas, bitte, einfach nur irgendwas, um dieses grauenhafte Wimmern und Raunen zu übertönen! Aber wie jedes verdammte Mal seit ihrer Geburt war Leontien ganz auf sich allein gestellt.

Das Licht war ihnen jetzt so nah, dass Leontien Einzelheiten erkennen konnte. Es stammte von einer altmodischen Gaslaterne, die am Bug einer morschen Barke befestigt war. Ein knochiger Mann in einem zerschlissenen Kittel tauchte in regelmäßigen Abständen einen Stab in den wirbelnden Nebel. Manchmal schien es, als hielten sich durchscheinende Hände an dem Paddel fest, die er mit dem nächsten kräftigen Stoß abschüttelte.

,,Orcus, alter Barbar!", krächzte der greise Fährmann ihnen entgegen, während das Schiffchen anlegte. ,,Komme er doch bitte mal her und nehme einem gebrechlichen Freund diesen schweren Stab ab!" Er ginste und entblößte dabei eine Reihe von schwarzen Zahnstümpfen. Leo musste unwillkürlich an Gollum denken.

Orcus - offensichtlich der Name des Hünen - kam näher und schlug dem Greis kräftig auf die Schulter. ,,Du versuchst es immer wieder, was Charon?", grollte er. ,,Als würde ich vergessen, dass jeder, der den Stab annimmt, den Rest der Unendlichkeit mit dieser Nussschale die Verdammten über die Styx bringen muss." Er sprang mit einem Satz in den Kahn und drehte sich zu Leontien um. Als er mit ihr sprach, war seine Miene ernst. ,,Komm."

Afterlife - Flucht vor dem TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt