021 ** Kirschkernspucken ** Di. 13. + Mi. 14.8.2019

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Als die Dose leer ist, krabbeln wir runter vom Baum.
„Lasst uns die Kerne einsammeln, da kann man drauf ausrutschen."
Wir gehen grade zum Mülleimer, um die daneben geflogenen Kerne aufzuheben, da steht plötzlich wie aus dem Boden gewachsen - Frau Hartmann vor mir. Wohlbemerkt - nicht vor uns. Sie steht vor mir.
„Maximilian Gersten. Sie lernen wohl gar nichts dazu. Für diese Verunreinigung des Schulhofes werden sie nach der sechsten Stunde dableiben und den gesamten alten Schulhof fegen. Solche Unsitten wollen wir doch in Ihrem Abschlussjahr gar nicht erst einreißen lassen. Das kommt in Ihre Akte!"

Völlig automatisiert greifen Moritz und Paul nach meinen Armen und zerren mich rückwärts. Mir gefriert das Blut in den Adern.
Nachsitzen! Nicht schon wieder!
Lasse versucht zu vermitteln.
„Aber wir waren grade auf dem Weg, die Kerne aufzuheben. Und warum überhaupt der ganze Hof?"
„Weil Sie nicht beweisen können, dass Sie die Kerne aufheben wollten. Ich glaube Ihnen kein Wort. Und wenn Sie jetzt nicht aufhören zu diskutieren, gibt es sofort einen blauen Brief nach Hause."
Mit überlegenem Glitzern in den Augen starrt sie mich an.

Ich habe keine Chance. Scheiß Schicksal. Ich habe einfach keine Chance!
Ich wehre mich nicht mehr. Aber da steht plötzlich Frau Süß zwischen Frau Hartmann und mir.
„Darf ich Sie vorsichtig darauf aufmerksam machen, liebe Kollegin, dass Einträge in die Akte nur von Klassenlehrern und Tutoren erfolgen? Selbst dann, wenn es tatsächlich einen Grund dafür gibt? Denn den gibt es hier nicht!"
„Was mischen Sie sich denn da ein? Ich werde doch wohl noch Strafen für unangemessenes Verhalten erteilen dürfen!"

„Das dürfen Sie gerne versuchen. Aber dummerweise habe ich genau daneben gesessen und weiß darum, dass die Jungs tatsächlich auf dem Weg waren, um die Kirschkerne einzusammeln. Darüber hinaus ist völlig klar, dass es Ihnen nicht um die Kerne geht sondern darum, Maximilian Gersten zu maßregeln. Sonst hätten Sie diese Strafe nämlich allen vier Jungs auferlegt und nicht nur dem einen. Und außerdem - habe ich hier die Aufsicht auf dem alten Hof. Sie waren eigentlich jetzt für den neuen Hof eingeteilt. Vernachlässigung der Aufsichtspflicht finde ich persönlich deutlich schlimmer als ein paar Kirschkerne auf dem Boden."

Mit wütendem Blick und der Nase hoch im Wind rauscht Frau Hartmann davon. Und ich muss mir schon wieder die Tränen verkneifen. Frau Süß starrt ihr richtig sauer hinterher und atmet einmal tief durch.
„Sch... ich kann hier nicht weg. Aber die rennt jetzt bestimmt zum Direx, und da sollte ich dabei sein."
Da taucht Dr. Fahrendorf auf.
„Los, hinterher, Antonia. Ich mach die Aufsicht hier alleine weiter. Sind ja eh nur noch zwei Minuten."

„Danke, Lennart! O.K., Jungs, ich komme gleich zu Sport zu spät. Sagt den anderen Bescheid. Und Max?"
„Hm?"
„Ich gebe mein bestes. Wie weit darf ich gehen?"
Hei, sie fragt! Sie hats kapiert.
„Bis nach Timbuktu und zurück, wenns sein muss. Ich ... hab Schiss vor meinem Vater."
„Wird gemacht. Timbuktu."
Mit diesen Worten sprintet sie los, umkurvt einige Schüler und verschwindet im Gebäude Richtung Verwaltungstrakt.

Wir fangen an, die Kirschkerne aufzusammeln. Kurz darauf ist die Pause zu Ende, und Dr. Fahrendorf zerrt noch die Hirntoten aus der „heimlichen" Raucherecke, bevor sich der Hof schnell leert und wir uns zur Sporthalle aufmachen. Ich kriege noch immer nicht wieder richtig Luft, als wir vor den Umkleiden ankommen. Moritz übernimmt das Erklären.
„Leute, machts euch gemütlich, die Süß hat noch eine Unterredung mit dem Direx."
Sofort plumpsen ettliche Taschen auf den Boden, und Schülerrücken rutschen an Flurwänden runter. Ich bleibe stehen, wo ich grade war, und starre die Wand an.
Wenn die Süß recht hat und die Hartmann eigentlich ganz woanders hätte sein müssen, dann heißt das - sie hat mich gesucht. Und sie wird es immer wieder tun. Das ist der Horror. DAS halte ich NICHT durch!

Es dauert über eine Viertelstunde, bis Frau Süß angesaust kommt, uns die Umkleiden und die Halle aufschließt und selbst in einem Affenzahn in die Halle flitzt. Ich lunze um die Ecke.
Äh ... was ...
Frau Süß schlägt keuchend und mit großer Wucht auf die große Turnmatte an der Wand ein.
Schreitherapie??? Das heißt nichts Gutes für mich.

Und für uns alle. Denn kaum sind wir alle umgezogen und in der Halle, kommt das ungewöhnlich strenge Kommando „Handball. Tortraining!" Das heißt für uns: Tore aufbauen, alle Bälle raus und Dauerfeuer mit Manöverkritik. Und das heißt auch: heute werden wir gerupft wie die Weihnachtsgänse.

Bingo! Eine Stunde später tragen wir völlig verausgabt und schweißgebadet die Tore zurück in die Gerätekammer und räumen die Bälle in die Netze. Niemand, wirklich niemand ist heute mit heiler Haut davon gekommen. Jeder falsche Schritt, jeder schlechte Wurf bekam postwendend eine zackige Korrektur und fünf Wiederholungen. Ich ahne schon, was kommt und bleibe gleich in der Halle, als alle anderen rausgehen, um sich umzuziehen.

„Und? Bleibt mein Kopf dran?"
„Der Kopf ja. Aber deine Mittagspause leider auch. Ich konnte erreichen, dass Frau Hartmann sich strikt von deiner Akte fernzuhalten hat und keine Briefe schreiben darf. Und dass sie einen Rüffel bekommen hat dafür, dass sie ihre Aufsichtsposition verlassen hat. Aber fegen musst du trotzdem. Und vermerken muss ich es auch."
„Sch..."
„Es tut mir echt Leid, Max. Zeit ist jetzt dein kostbarstes Gut."
Ich lasse den Kopf hängen.
„Schon gut. Der Hausmeister hat mehrere Besen. Die anderen werden mir helfen."
„Nicht gut! Aber mehr konnte ich nicht rausholen. Sie hat die 'erfahrene Kollegin' gegen mich 'jungen Hüpfer' ausgespielt. Und den Direx würde ich am liebsten erwürgen. Feige Nuss."
...
„Ähm. Das ... war wieder was fürs 'gaaaaanz tief im Herzen begraben' ...?"
Wir grinsen uns an.
Solange wir unseren Humor nicht verlieren ...

Ich gehe auch nach nebenan, um mich umzuziehen, und dann trotten wir Jungs gemeinsam zum Hausmeister. Dennis Reinhard ist echt cool. Noch gar nicht so alt, total nett und unglaublich beliebt. Er kriegt schon seit ein paar Jahren immer bei der offiziellen Abifeier vom Jahrgang ein witziges Geschenk und seine eigene kleine Rede. Und da kommt er uns auch schon an der Eingangstür entgegen.

„Kommt gleich mit, Jungs. Ich weiß schon Bescheid. Beide Versionen ... Das geht ganz schnell. Ich hol die große Kehrmaschine aus dem Schuppen. Ihr fegt nur alles von den Wänden und Blumenkübeln Richtung Mitte des Hofes, und ich fahre da schnell mit der Maschine durch. Der Hof ist hinterher so sauber, dass sie davon ihr Pausenbrot verspeisen kann."
Mit diesen vor Ironie nur so triefenden Worten stapft er Richtung Geräteschuppen und kommt kurz darauf mit der großen Kehrmaschine rausgefahren.

Wir schnappen uns jeder einen Besen, teilen den Rand des Hofes in geschätzte vier Viertel und fegen Müll und Dreck raus auf den Hof. Nach einer halben Stunde sind die Besen wieder verstaut, die Maschine hat den ganzen Dreck verschluckt, wir bedanken uns ganz dicke bei Herrn Reinhard und trollen uns zu unseren Fahrrädern.
„Danke, Jungs. Ihr seid die besten. Ohne euch hätte das viel länger gedauert."
„Kein Problem, ich füll schonmal wieder unser Planschbecken ..."
„Gute Idee, das mit der Fliege über nackisch Bauch stand dir echt nicht schlecht."
„Und Eis geht immer."
„Idioten! Meine Lieblingsidioten."

Zu Hause beim Mittagessen beichte ich Tanja die Begebenheit und genieße ihr Mitleid und ihre aufbauenden Worte. Ich weiß, dass sie dichthalten wird, will aber nichts verschweigen. Dann mache ich mich an die Hausaufgaben für morgen und Freitag, soweit es schon geht. Der Donnerstag ist extrem voll. Da sollte ich nichts unnötig hinschieben. Noch ein paar Englisch-Vokabeln, und schon sause ich wieder los zur Süß.

Diesmal fahre ich viel lieber hin. Wenn ich dran denke, mit was für einem Gefühl ich da am Montag angetreten bin ... Mir dreht sich jetzt noch der Magen um. Das relativ moderne Haus hat Fahrradständer davor. Ich kette mein Rad an und mache mich auf nach oben. Wir reden nur noch kurz über den Vorfall in der Pause, und es ist offensichtlich, dass die Süß genauso frustriert ist wie ich. Und dann machen wir uns über die Klassenarbeiten der 7. Klasse her. Tja, ab da hatte ich die Hartmann ... Zur 8. Klasse kommen wir heute nicht. Ich hab genug zu tun, den Stoff der 7. zu kapieren. Und das ist echt übel.

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5.10.2020    -    9.4.2021

Funfact: ich hatte da erst stehen: "Und Moritz hatte eine große Dose voller Kirchen mit."

Was sich neckt, das hasst sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt