Die Macht einer Entscheidung

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Vergnügt rannte das kleine Mädchen über das Feld aus Gräsern, aus wunderschönen Blumen, genoss das Summen der Insekten, das Rauschen des Windes, als er die Grashalme in eine wogende Welle verwandelte.
  Es sprang und hüpfte vor Freude, ließ sich den Wind um die Nase wehen  und betrachtete die Sonne, die gerade hinter der Klippe im Meer versank. 
Sie lachte, sang, drehte sich im Kreis, wobei der Rock  ihres Kleides vom Wind aufgebauscht wurde, und es für einen Moment so  aussah, als würde sie sich gleich wie eine Blume in die Luft schrauben  und in den Himmel emporsteigen.

"Komm her."

Die kühle, harte  Stimme des Mannes tönte laut und forsch über das Gras hinweg, und das  kleine Mädchen zuckte bei ihrem Klang zusammen. Rasch eilte sie auf den  Mann zu, achtete nicht darauf, dass scharfe Gräser und Pflanzen gegen  ihre kleinen Beinchen schlugen und ihr kleine Schnitte zufügten.
  Sie wusste, wenn sie nicht so schnell wie möglich die Anweisung des  Mannes befolgte, würde sie größere Probleme als ein paar Kratzer haben. Er konnte sehr verletzend sein. Das hatte man ihr zumindest erzählt.

Wenige Meter vor ihm blieb sie stehen und senkte demütig den Kopf.
  Jemandem wie ihm sah man nicht einfach in die Augen. Es schickte sich  nicht, schon gar nicht, wo das, was sie da gerade getan hatte, verboten  war, ein Verstoß gegen die heiligen Schriften. Ängstlich wartete sie  darauf, dass er sie anbrüllte, beleidigte, schlug- irgendetwas tat, um  seinem Ärger Ausdruck zu verleihen, irgendetwas, um dem Monster in seinem Inneren Raum zu bieten. Er tat das für gewöhnlich äußerst gerne. Zumindest ließ nichts in seinem Blick, keine seiner Bewegungen auf Mitleid schließen. Musste er dadurch nicht... erbarmungslos sein? Kaltherzig?

Doch nichts kam.
Nur ein leises "Heb den Kopf, Mädchen."
  Hin- und Hergerissen zwischen dem, was man ihr immer eingebläut hatte,  und dem, was er ihr befahl, hob sie langsam ihr Kinn, den Blick jedoch  weiterhin auf einen Punkt gerichtet, der in weiter Ferne lag.

"Schau mich an.",  befahl der Mann mit einem harten Unterton in der Stimme, der jedoch  sofort wieder verflog, als sie panisch ihren Blick auf ihn richtete,  angstvoll und voller Anspannung. Seine Worte klangen rau. Abgenutzt. Und es kam ihr vor, als spreche er nur äußerst ungerne. Für gewöhnlich machte sein Schweigen ihn noch respekteinflößender. Als wüsste er ganz genau, dass er nicht zu reden brauchte. Dass seine Anweisungen trotzdem beachtet werden würden.

Mit einer  Handbewegung forderte er das Mädchen auf, näher an ihn heranzutreten.  Dann ging er in die Knie. Er verlor kein Wort darüber, dass sie nicht  hatte hier sein dürfen, dass sie Regeln missachtet hatte, die so alt  waren wie die Welt selbst. Regeln, bei denen sich nicht einmal die Ältesten trauten, sich ihnen zu widersetzen.
Er pflückte nur eine kleine,  unscheinbare, Blume mit einer seltsam lilafarbenen Blüte aus der Erde.  Sie hatte einen Knick in ihrem Stängel.
Jemand war achtlos auf ihr herumgetrampelt.

"Du hast heute ein  Leben beendet mit deiner ungestümen Art. Du hast einem unschuldigen  Geschöpf die Möglichkeit zu wachsen zunichte gemacht, weil du dich nicht  darum gekümmert hast, was um dich herum geschieht. "

Er sah ihr tief in die schreckgeweiteten Augen. Dann umfasste er die Blume an beiden Enden und riss sie in der Mitte entzwei.

"Mit deinem eigenen,  egoistischen Handeln, zerstörst du alles um dich herum. Manchmal muss  man sich an Regeln halten, um Dinge zu retten, die wichtiger sind als das eigene Vergnügen. Merk dir eins. Ohne Achtung vor dem Leben, wirst du nicht weit kommen."

☆☆☆

Jetzt stand sie hier,  einen juwelenbesetzten Dolch in der linken Hand, und starrte auf die  Menschen vor ihr, Kinder, hustend, die sich ängstlich an ihre Eltern, an ihre Geschwister und Verwandten klammerten. Mütter und Väter, mit erschöpfen Augen, Wunden an Schultern, Armen, Beinen, Schnitte in ihren Gesichtern, aus denen tiefrotes Blut troff. Sie hatten alle gekämpft, hatten sich gewehrt, bis zum bitteren Ende. Doch jetzt waren sie plötzlich machtlos. Ihr Schicksal lag nun nicht mehr in ihren Händen, und die Angst in ihren Blicken zeugte von der Sorge, sie könnte die falsche Entscheidung treffen. Sicherlich war es verwerflich zu hoffen, sie würde es tun, doch Menschen waren nun einmal nicht perfekt. Ihre Kleidung starrte vor Dreck und verkursteten Blut, Staub schien sich in jeder noch so kleinen Hautfalte abgelagert zu haben, und sie standen still, als würde niemand wagen zu atmen, weil alle  darauf warteten, was sie tun würde.

Wenn sie es tat, würde  sie damit hoffentlich genug Magie entfesseln, um diese armen, verletzten  Menschen zu retten, vor einem Monster, dass niemand außer ihr selbst zu  bändigen vermochte.

Ihr fiebriger Blick  schwenkte zu dem jungen Mann, der auf ihrer anderen Seite stand und  flehend die Hände nach ihr ausstreckte.

"Tu es nicht. Bitte, tu es nicht. Wir finden einen anderen Weg. Ich darf dich nicht verlieren."

Sie sah die Verzweiflung, die Sehnsucht,  in seinem Blick und alles in ihr rief danach, zu ihm zu stürmen und  sich in seine Arme zu werfen. All die wunderschönen gemeinsamen Momente an ihrem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen, die wenigen Augenblicke, in denen es ihm gelungen war, dass sie sich wie ein echter, richtiger Mensch fühlte. Tanzen unter dem Sternenhimmel. Seichtes Wasser, dass ihr Hüfte umspülte, als er sie in das kühle Nass gezogen hatte. Seine Lippen auf ihren, warm und weich. Lebendig.
Nur für eine Sekunde erlaubte sie sich, zu überlegen, wie es nun wäre, ihren Kopf in seiner Halsbeuge zu vergraben. Daran zu glauben, dass alles gut werden würde. Dass ihre Momente noch nicht gezählt waren.

Dann aber erinnerte sie  das leise Wimmern eines Babys daran, dass all diese Menschen dort  unschuldig waren. Dass sie ihr Leben retten konnte, wenn sie nur einmal  nicht egoistisch war.

Es tat so weh. Noch  einmal sah sie ihn an, sah die Hoffnung in seinem Blick, dass sie sich  für ihn entscheiden würde. Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass er sie  aufhalten würde, dass er sie vor sich selbst beschützen würde. Doch tief  in ihrem Innern wusste sie bereits, dass sie ihn verloren hatte.
Nie könnte sie damit leben, ihn zu haben, wenn sie so viele Leben hätte retten können.

Er war ein Löwe. Der Einzige, der es je geschafft hatte, die Gefahr, die von ihr ausging,  ihren inneren Drachen, zu bändigen.
Er hatte sie vor sich selbst gerettet, als sie zu schwach dafür gewesen war.
Hatte sie beschützt- immer und immer wieder.
Aber jetzt war es an der Zeit, dass sie das Monster in sich freiließ.

Ihre Stimme klang brüchig, rau, als hätte sie sie lange nicht benutzt.
 Sie schluckte, dann hob sie den Blick, legte all den Kummer und den Schmerz in ihren Augen frei.
"Ich wünschte, ich könnte dir diesen Wunsch erfüllen."

Ein grausames, trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihre Augen glitzerten wie Diamante , gläsern, als eine einzige Träne sich ihren Weg ihre Wange hinab bahnte.
  "Doch dann eben im nächsten Leben.", hauchte sie und schloss die Augen.  Sie spürte das kalte Metall des Dolches in ihrer Hand, holte tief Luft  und stieß sich die glänzende Klinge mitten ins Herz.

Ihre Magie entfesselte  sich, sie schrie, ruderte mit den Armen, und brach in sich zusammen,  während um sie herum alles im Chaos versank.

Die Macht einer EntscheidungWhere stories live. Discover now