YOUR POV
Langsam räkelte ich mich genüsslich unter den weichen Laken, die sich wie der Himmel anfühlten. Vielleicht war ich ja wirklich im Himmel.
Ich glaube, so gut geschlafen wie gerade, hatte ich noch nie. Noch verschlafen öffnete ich die Augen und die Morgensonne kitzelte mich im Gesicht. Wie spät war es eigentlich? Mein Wecker hatte noch nicht geklingelt. Gähnend tastete ich nach meinem Handy und schaltete es ein.
08:24 Uhr.
08:24 Uhr?!
Hastig schlug ich die Bettdecke zurück und sprang aus dem Bett. In sechs Minuten begann der Unterricht und hatte verschlafen. Das war mir seit Jahren nicht mehr passiert. Hatte ich gestern vergessen, meinen Wecker zu stellen?
Ich rannte aus meinem Zimmer und runter in die Küche. Von meiner Mutter keine Spur, aber auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
Ich bin kurz einkaufen, haben kaum noch was zum Essen da. Wenn du Hunger hast haben wir noch Cupcakes im Kühlschrank.
Hab dich lieb, mein Schatz.
- Mama
Gut zu wissen, dass ich mir das Frühstück sparen konnte. Ich raste wieder hoch ins Bad und machte mich fertig. Ich achtete gar nicht mal darauf, ob meine Schuluniform richtig saß. Keine drei Minuten später lief ich auch schon aus dem Haus und die Straße runter, meine Tasche fest in der Hand.
Selbst wenn ich zur Schule rannte, brauchte ich trotzdem gute zehn Minuten bis dort hin.
Ausgerechnet heute standen alle Ampeln, die ich überqueren musste, auf rot, und ich hätte mir am liebsten die Haare vom Kopf gerissen. Schon am zweiten Tag zu spät zu kommen war gar nicht gut. Das war mehr als nur gar nicht gut. Besonders, wenn man bedenkt, wer in meiner Klasse war. Die Zwillinge könnten mich ewig damit aufziehen.
Na und, warum interessiert mich das?
Ich wollte mir schon mit der flachen Hand leicht gegen den Kopf schlagen, um diese blöden Gedanken wegzukriegen, hielt mich aber noch rechtzeitig davon ab. Zwischen dem Tod meines Vaters und meiner Abreise nach London lag etwas mehr als ein Monat. In dieser Zeit ging es mir überraschend gut für ein elf-jähriges Kind, das gerade seinen Vater verloren hatte. Grund dafür war einer meiner... Ticks. Immer wenn ich traurige, wütende oder auch manchmal verstörende Gedanken hatte, schlug ich mir mit der flachen Hand gegen den Kopf. Meist gegen die Stirn oder die Schläfe. Und das wiederholte ich dann immer und immer wieder, bis diese Gedanken verschwanden. Jedesmal schlug ich dann fester zu und ich hörte erst auf, wenn es mir wieder besser ging. Ich habe auch einmal eine Therapeutin besucht, wo ihr dieser Tick als Erste aufgefallen war. Sie wollte mich dazu bringen, ihn abzutrainieren, aber es hat nicht geklappt. Nur in London - und auch nur mit Lucas' Hilfe - habe ich gelernt, diesen Tick unter Kontrolle zu bekommen und es immer weniger zu machen, bis es irgendwann ganz verschwunden war. Ich durfte nicht zulassen, dass das jetzt wieder hochkommt.
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Genau fünf Minuten später rannte ich auf das Schulgelände. Alle Schüler waren schon brav in ihren Klassen, außer ich natürlich. In Rekordzeit wechselte ich vorne bei den Schließfächer in meine Schulschuhe und rannte zum Klassenzimmer. Zum Glück begegnete ich keinem Lehrer, der mir sagte, dass rennen auf den Fluren verboten sei. Das konnte ich gerade am allerwenigsten gebrauchen.
Kurz vor dem Klassenzimmer kam ich zum Stehen und beruhigte meinen schnellen Atem, bevor ich sichtlich nervös an der Tür klopfte.
"Ah, V/N, schön, dass Sie uns auch noch beehren.", sagte Herr Sato äußerst genervt.
"Entschuldigen Sie bitte die Verspätung.", murmelte ich leise und schlich mich zwischen den Reihen zu meinem Platz.
Aber nicht ohne vorher noch einen kurzen Blick auf Atsumus selbstgefälliges Lächeln zu werfen. Als er meinen Blick bemerkte, wurde sein Lächeln noch breiter und er hob neckend eine Augenbraue. Ich biss die Zähne zusammen und setzte mich auf meinen Stuhl.
Was zum...?
Der Stuhl war... klebrig. Ich setzte mich etwas auf und starrte auf das helle Holz, das voller Flüssigkleber war. Und dieser Flüssigkleber hing gerade an meinem Rock. Ich keuchte auf.
"V/N, wenn du schon zu spät kommst, dann stör nicht auch noch den Unterricht.", sagte Herr Sato und seine Stimme hatte einen säuerlichen Ton angenommen.
"Herr Sato, mein Stuhl... ist voller Kleber.", erwiderte ich und versuchte, das verteilte Kichern im Raum auszublenden. Sofort sah ich zu Atsumu, der mit seinem Kopf auf eine Hand gestützt einfach nur da saß und ein kleines, zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen hatte.
Dieser kleine-
"V/N, hier vorne liegen Tücher. Wisch den Stuhl ab und dann setz dich endlich hin."
Beschämt ging ich nach vorne und war kurz davor, die Papiertücher mit meinen Finger zu zerreißen.
Der Typ konnte gleich was erleben.
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"Was sollte das bitte?", fauchte ich aufgebracht.
"Ich weiß nicht, was du meinst.", antwortete Atsumu unschuldig und räumte seine Notizen in seine Tasche.
"Lüg mich nicht an, Atsumu Miya. Ich weiß, dass du heute Morgen den Kleber auf meinen Stuhl getan hast."
"Du hörst dich an wie meine Mutter, V/N, und selbst wenn ich das mit dem Kleber war..." Er drehte sich zu mir um und beugte sich runter, sodass sein Kopf auf meiner Höhe war. "Was willst du dann dagegen tun, Kätzchen?"
"Nenn mich nie wieder so.", drohte ich und ignorierte den Drang, ihm ins Gesicht zu schlagen. Kätzchen hatte er mich früher immer genannt, wenn wir zu dritt Volleyball gespielt hatten und ich zuließ, dass ein Ball den Boden berührte. Er wusste, wie sehr mich dieser Name aufregte.
"Sonst was?"
Die Luft zwischen uns knisterte nur so voller Anspannung, dass es kaum aufzuhalten war. In meiner Wut war es mir nicht aufgefallen, dass sein Mund gefährlich nah an meinen gekommen war.
"Tsumu."
Danke, Gott, dass es auch einen vernünftigen Zwilling gibt.
"Samu, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht auf mich warten musst.", erwiderte Atsumu auf die stumme Aufforderung zum Gehen von seinem Zwilling.
"Ich habe nicht auf dich gewartet, du Idiot. Aber wir sollten jetzt gehen. Wir haben gleich Training."
"Geh schon vor und sag Kita, dass ich gleich komme.", grinste der blonde Zwilling und drehte sich wieder zu mir um, als Osamu mit einem Augenrollen aus dem Klassenzimmer verschwand.
"Du scheinst wirklich sauer zu sein.", flüsterte ich, konnte aber auch nicht den bitteren Unterton verbergen. Sofort bohrte sich Atsumus intensiver Blick in meine Augen und ich musste schlucken.
"Oh, Kätzchen.", säuselte er und ging langsam auf mich zu. Zum Glück waren schon alle Schüler nach Hause gegangen, sodass gerade niemand Zeuge wurde, von diesem... Spiel, das Atsumu gerade spielte.
"Wie kommst du darauf, dass ich sauer sein könnte?", fuhr er gespielt fragend fort und kam mir dabei immer näher, sodass mir meine Worte fast im Hals stecken blieben.
"M-Musst du nicht zum Training?", stotterte ich und wich immer weiter zurück, doch er ging einfach weiter.
Wie ein Raubtier kam er auf mich zu und ich merkte, wie mir heiß und kalt zugleich wurde.
"Mmh, ich bin mir sicher, die anderen können auch schon ohne mich anfangen.", antwortete er leise, seine Augen dabei nicht von meinen lassend.
"Atsumu, hör auf damit. Es bringt dir nichts, auf mich sauer zu sein.", presste ich hervor. Kurz leuchtete etwas in seinen Augen auf. War es Verletztheit? Oder auch ein wenig... Schmerz?
"Wieso bist du wirklich wieder hier, V/N?", fragte er tief und seine Stimme glich beinahe schon einem Knurren.
"I-Ich, ähm..." Ich spürte die Tafel in meinem Rücken und seine Hände hatte neben meinem Kopf so platziert, dass ich ihm völlig ausgeliefert war.
Ich sitze in der Falle.
"Komm schon, Kätzchen. Warum bist du nach fünf Jahren wieder zurückgekehrt?" Seine Stimme war tief und auch seine sonst so belustigten Augen sahen aus wie ein Meer aus endlosem schwarz. Oder war es nur die tiefliegende Nachmittagssonne, die durch die Fenster schien? Ich presste meinen Hinterkopf an das harte Material und versuchte, mein pochendes Herz unter Kontrolle zu kriegen, denn ohne Zweifel konnte der Zuspieler, dessen Mund sich gerade nur wenige Zentimeter über meinem befand, das laute Trommelschlagen hören. Atsumu lehnte seinen Kopf noch etwas weiter nach vorne, dass zwischen unsere Nasen nur noch ein einzelnes Haar gepasst hätte, bevor sie sich berührten. Ich hatte das Gefühl, er konnte mir in die Tiefen meiner Seele blicken.
Nur ein kleiner Schritt. Ein kleiner Schritt nach vorne und du liegst wieder in seinen Armen, so wie damals.
Ich presste die Lippen aufeinander und stemmte die Füße in den Boden der Klasse.
Nein.
Ich durfte nicht auf diese Stimme hören. Der blonde Miya-Zwilling hatte deutlich gemacht, dass unsere Freundschaft nun Geschichte war.
"Kätzchen, du hast mir immer noch nicht meine Frage beantwortet.", hauchte er gegen mein Ohr und ich erschauderte.
"Ich muss sie dir auch nicht beantworten.", gab ich ebenso leise zurück und er runzelte kurz die Stirn. Ich nutzte diesen Augenblick, um mich unter seinem Arm hinunter zu ducken. Erst als ich einige Schritte zwischen uns gebracht hatte, drehte ich mich zu ihm um und merkte, dass er sich wieder zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte.
"Ich schulde dir keine Antwort, Atsumu. Nicht nach so langer Zeit.", warf ich ihm noch an den Kopf und dann, ohne auf eine Antwort oder Reaktion von ihm zu warten, drehte ich mich um und war aus dem Klassenzimmer.
Doch mein Herzklopfen war nicht langsamer geworden.
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Huhu, ich hoffe, dieses Kapitel hat euch gefallen und entschuldigt bitte, dass ich es erst so spät veröffentlicht habe😅✨
Das nächste Kapitel kommt vermutlich übermorgen<3
Bis dann❤️
- A