Eine wackelnde Hulapuppe mit Bastrock, eine Miniaturausgabe der Golden Gate Bridge und ein Collegeblock mit verschiedenfarbigen Textmarkern – Erinnerungen an ein Leben, das mir in diesem Moment schon weit weg erschien.
„Wir verstehen, dass diese Situation für Sie nicht leicht ist. Seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um Ihnen den Übergang so angenehm wie möglich zu gestalten", hatte der Mann am anderen Ende des Landes gesagt.
Ich saß in einem spärlich beleuchteten Raum. Die schlechte Verbindung ließ sein Gesicht auf dem kleinen Bildschirm vor mir grotesk aufflackern. Ich dachte, er wollte mir die Wahrheit sagen – wie unfair das Leben nur allzu häufig sein konnte, wie enttäuschend. Doch ihm kamen keine anderen Worte über die Lippen außer denen, die schon viele meiner Kollegen vor mir hören mussten. Es tut uns leid waren keine davon.
Der Mann am anderen Ende der Leitung verlor ja auch nicht seinen Job. Er war nur irgendein externer HR-Mensch, der uns alle nicht einmal kannte. Nach einem Jahr, in dem ich wirklich hart gearbeitet und alles gegeben hatte, fanden sie keine anderen Worte für mich außer einem Verweis auf die Broschüren vor mir. Sie sollten mir die Motivation geben, nicht in der Niedergeschlagenheit steckenzubleiben, nach vorn zu blicken, eine Perspektive zu haben, auch wenn es mir im Moment so vorkam, als gäbe es kein Licht mehr am Ende des Tunnels.
Also packte ich meine Sachen in einen kleinen Karton und lief zum Aufzug, der mich in eine Welt voller Ungewissheit entlassen sollte.
Die von Sonnenlicht durchflutete Lobby hatte sich an diesem Tag in einen düsteren Ort des Chaos verwandelt. Eine Empfangsdame war dabei, alles, was in Reichweite lag, in Boxen zu verstauen. Sie legte auf besondere Sorgfalt keinen Wert. Bildschirme wurden mitsamt den Kabeln aus ihren Halterungen gerissen.
„Ist doch unglaublich, was hier passiert", beschwerte sie sich lautstark bei mir. „Sollen sie doch alle zur Hölle fahren! Wenn sie mir meinen Lohn nicht geben wollen, nehme ich mir eben, was ich kriegen kann."
„Dafür werden Sie aber mehr als ein paar Bildschirme brauchen", antwortete ich entgeistert.
Unsere Löhne hatten sie schon seit einiger Zeit nicht mehr gezahlt. Wir dachten, es sei temporär – dass es uns, wenn wir nur genug arbeiten würden, bestimmt bald wieder besser ginge. Falsch gedacht. Keinen Cent würden wir jemals davon sehen.
„Sie haben sich verzockt. Sollen alles auf das falsche Pferd gesetzt haben, und wir sind jetzt die Leidtragenden." Ein etwas älterer Kollege war Zeuge unserer Unterhaltung geworden und stimmte nun in die Anschuldigungen mit ein.
„Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll", erwiderte ich.
„Schätzchen, das weiß keiner von uns."
Das hier hätte mein Neuanfang sein sollen. Philadelphia. Eine fremde Stadt, fernab von allem, was ich kannte. Ich hatte mich auf meinen Job konzentriert, nichts anderes war wichtig gewesen. Ich hatte keine Freunde, und das, obwohl ich diese Stadt schon seit einem Jahr mein Zuhause nannte. Meine Familie war an der Westküste im immer sonnigen Kalifornien geblieben. Und ich hatte keine Bekanntschaften, schon gar keine romantischen.
Und das alles für einen langweiligen Bürojob, bei dem ich den ganzen Tag nichts anderes getan hatte, als ahnungslosen, unbedarften Menschen Versicherungen aufzudrängen, die sie nicht einmal brauchten – nichts, worauf ich wirklich stolz war, doch ein notwendiges Übel. Und nun setzten sie uns, ohne mit der Wimper zu zucken, vor die Tür, weil sie Insolvenz angemeldet hatten.
Seufzend ließ ich die beiden und die sich rasch leerende Lobby hinter mir und ging zum letzten Mal durch die vergoldete Drehtür, hinter der mich der kalte Atem des Winters rücksichtslos empfing.
Ich wollte flüchten, hinein in mein wohlig warmes Zuhause, weg aus dem Trubel der Stadt, dorthin, wo mich niemand sonst finden würde. Nicht, dass mich großartig jemand suchen würde.
Mitleidige Blicke umgaben mich in der Bahn, denn jeder Mitreisende kannte die Bedeutung meines Kartons und meiner hängenden Mundwinkel. Er wäre mir fast aus den Händen gefallen, während ich versuchte, meinen Schal zu richten und den Kragen meiner Jacke in Vorbereitung auf den kalten Heimweg wieder aufzustellen.
Mein Wohnhaus ging in einer nicht enden wollenden Reihe gleich aussehender Bauten aus den Anfängen des Zwanzigsten Jahrhunderts unter – einst schön mit Torbögen und reichen Verzierungen an den Fassaden geschmückt. Leider hatte sich seit langem niemand mehr um die Häuser gekümmert.
Noch nie zuvor war mir meine unmittelbare Nachbarschaft so bewusst aufgefallen wie jetzt. Ein wenig erinnerte mich dieser trostlose Anblick an mich selbst. Alles war längst nicht mehr so strahlend, wie es zu Beginn einmal gewesen war.
Ich bemühte mich, nicht zu weinen. Dennoch verschleierten auf meinem Weg nach Hause immer mehr aufsteigende Tränen meine Sicht. Nicht einmal den Haustürschlüssel konnte ich in meiner Tasche erkennen. Alles war gänzlich verschwommen, und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich es endlich geschafft hatte, diese hässliche Tür aufzuschließen.
Ich ließ meinen Karton auf den Stufen stehen und öffnete die Tür zum warmen Treppenhaus. Fast schon wehmütig beäugte ich die inzwischen irgendwie liebgewonnene Tapete, die sich an vielen Stellen bereits von den alten Wänden löste. Auch hier wäre schon seit meinem Einzug eine Renovierung angebracht gewesen, doch ich hatte mich längst an sie gewöhnt.
Der Gang roch wie meine Wohnung leicht modrig, als hätte sich beinahe unbemerkt ein Teppich aus Verfall über das gesamte Haus gelegt.
Ich stieg die knarrenden Stufen nach oben und begann die alltägliche Suche nach dem passenden Schlüssel, was mit den sich anbahnenden Tränen, die ich immer noch tapfer zurückkämpfte, nicht einfacher wurde. Gedankenverloren stocherte ich damit, nachdem ich ihn gefunden hatte, nach dem Schlüsselloch und bemerkte erst zu spät, dass ich dabei etwas durchbohrt hatte. Konnte es wirklich sein ...
„Oh, scheiße", flüsterte ich, als ich den unscheinbaren Aufkleber näher betrachtete. „Das kann doch nicht ... Bitte, nein ..." Ich hatte Probleme, zu lesen, was auf dem offiziell aussehenden Bescheid stand. Meine Tränen kannten nun kein Halten mehr. „Scheiße! Fuck! Nein!"
Ich trat mit aller Wut, die sich in mir angestaut hatte, gegen die Tür und heulte auf. Die Tür hielt unbeeindruckt stand.
Ich drehte den Schlüssel im Schloss. Nichts, keine Bewegung.
Sie hatten mich ausgesperrt, einfach so. Mr Blake wusste, dass ich meine Miete seit Monaten nicht bezahlen konnte, ich hatte es ihm gesagt. Zunächst hatte er Mitgefühl gehabt – schließlich besaß er gleich mehrere Immobilien, die er allesamt vermietete. Doch selbst das größte Mitgefühl hatte ein Ende, wenn das Geld nicht kam.
Erst mein Job, dann meine Wohnung? Ich war verloren – allein in dieser Stadt, in der ich niemanden kannte. Hätte ich doch nur geahnt, dass dieses verlockende Jobangebot so ein Reinfall sein könnte ...
Wie in Trance riss ich mich von der Tür los, rannte wieder nach unten und trat ins Freie. Panik überwältigte mich. Ich fröstelte und rieb meine eiskalten Hände aneinander. Kraftlos sackte ich unmittelbar vor dem Hauseingang in mich zusammen und vergrub mein Gesicht in den Händen. Der einzige Trost dabei war, dass zumindest alle meine relevanten Dokumente noch ihren Platz in meinem alten Zuhause hatten. Bis auf meinen Ausweis war ich also auch in diesen Belangen nackt.
Atme, denk nach!
Meine Hände verkrampften sich um meinen Kopf, als wollten sie ihn daran hindern, in tausend Teile zu explodieren. Wieso ich? Wieso ausgerechnet ich?
Womit hatte ich es bloß verdient, dass mir andauernd neue Steine in den Weg gelegt wurden? Immer dann, wenn ich allmählich das Gefühl bekam, angekommen zu sein und mein Leben auf die Reihe zu bekommen, passierte so etwas.
Und jetzt? Jetzt saß ich hier, auf der nassen, kalten Stufe und hatte nichts. Ich griff nach der Hulapuppe in meinem Karton und musste beinahe lachen.
„Jetzt gibt es nur noch dich und mich", flüsterte ich dem dicken Mann im Bastrock unter Tränen zu.
Vorsichtig tastete ich nach dem Medaillon an meinem Hals. Nicht viele meiner Erinnerungsstücke hatten den Umzug überlebt. Ich wollte vergessen, verdrängen. Aber das Medaillon hatte ich immer bei mir.
Ich konnte mir nur ausmalen, dass in wenigen Wochen der Gerichtsvollzieher den Großteil meines Hausrats in Besitz nehmen würde. Nicht dass in meiner Wohnung viel zu holen gewesen wäre. Sie war klein und billig gewesen und hatte bereits eine notdürftige Einrichtung vorzuweisen gehabt. Alte Schränke und Stühle, Reste von hunderten Mahlzeiten in der Küche, ganz andere Reste im Bad. Aber das hatte mich nicht gestört. Hohe Ansprüche konnte ich mir sowieso nicht leisten.
Mein Bankkonto war leer, also hatte ich keine Möglichkeit, mich in ein Hotel einzubuchen. Und die Familie ... Ich konnte nicht ... Nein, ich wollte mich nicht bei ihnen melden. So oder so lebten sie am anderen Ende der USA, und ich hatte kein Geld für ein Busticket.
Sofort ließ ich das Medaillon wieder aus den Fingern gleiten und hob meinen Kopf, um mich umzusehen, auch wenn ich beim besten Willen nicht wusste, wonach ich eigentlich suchte.
Mittlerweile war es stockdunkel geworden, und es waren nur noch wenige Menschen auf den Straßen unterwegs. In den Fenstern der Häuser brannten vereinzelt Lichter. Dort saßen Familien beisammen am Tisch, lachten und aßen. Szenen, die ich selbst noch nie erlebt hatte.
Ich war obdachlos. Bittere Galle stieg in mir hoch, als ich daran dachte, dass ich ja unter einer Brücke unweit von hier übernachten könnte, wo ich schon sehr oft Menschen hatte schlafen sehen. Ich war ebenso verloren und hoffnungslos. Verdammt noch mal.
Und so machte ich mich auf. Wohin? Das wusste ich selbst noch nicht. Aber hierbleiben konnte ich nicht, das würde mich noch verrückt machen. Mir musste schnell etwas einfallen, ehe die Nacht noch kälter werden würde.
Ich ging über die wenig befahrene Straße und lief weiter geradeaus und an Häusern vorbei, die ich noch niemals zuvor gesehen hatte – durch kleine Nachbarschaften, in denen die Grundstücke immer mehr Fläche einnahmen und bunte Laubbäume den dreckigen Asphalt zurückdrängten.
Ich beneidete die Menschen, die dieses Viertel ihr Zuhause nennen konnten. Vielleicht könnte ich auch Unterschlupf im Dickicht der Bäume finden? Nein, so ganz allein im Dunkeln wollte ich nicht sein.
Die Straßenlaternen beleuchteten mir den Weg – weiter, immer weiter ins Ungewisse. Ich musste ewig gelaufen sein, denn plötzlich stand ich vor dem letzten Haus der Stadt. Letzter Stopp vor dem Nirgendwo. Abrupt blieb ich stehen und starrte weiter in Richtung der sich im Wald verlierenden Straße, ehe etwas rechts von mir meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Seit ich in Philadelphia lebte, war ich noch nie hier gewesen. Deshalb hatte ich auch noch nie diesen Mini-Bus entdeckt. Das Gefährt sah ähnlich heruntergekommen aus wie das Gebäude, hinter dem es zurückgelassen worden war.
Zögernd sah ich mich um, doch ich konnte weit und breit keine Menschenseele ausmachen. Alles vereinnahmende Finsternis.
Ob der Bus abgeschlossen war, und ob er jemandem gehörte? Ich könnte zumindest einmal nachsehen. Hoffentlich lag die Lösung meines Problems direkt vor mir. Unschlüssig wanderte mein Blick zurück zu den verschmutzten Fenstern und dem überquellenden Briefkasten des Hauses. Verlassen?
Ich lief durch den zugewucherten Garten und achtete auf jedes Knarzen, das ich aus dem Haus zu vernehmen glaubte. Doch ich war allein. Bis hierher schienen sich nicht viele Menschen zu verirren, denn weder an Türen, noch Fenstern konnte ich Spuren von Einbrüchen erkennen.
Ob diese Bruchbude doch noch jemand sein Zuhause nannte? Aber wer war ich schon, um zu urteilen. Meine aktuelle Lebenssituation sah nicht besser aus. So oder so wollte ich nicht zum Verbrecher werden, egal, wie hilflos ich gerade war. Nun doch der Mini-Bus.
Meine Knochen knackten, und meine Beine brannten vom weiten Weg. Ich wollte mich eigentlich nur noch hinlegen, weinen und schlafen, ehe mich am nächsten Morgen die harte Realität einholen würde.
Hier hinten gab es keine Straßenlaternen. Ich überlegte, mein Handy zücken, als ich mich daran erinnerte, dass ich keine Möglichkeit hatte, es heute noch mal aufzuladen. Nun hoffte ich doch sehr darauf, allein zu sein.
Im Dunkeln konnte ich schemenhaft die Umrisse des Busses ausmachen. Ich tastete mich vorsichtig an der rauen Außenwand entlang, während ich fieberhaft nach einem Einstieg suchte. Eines der kaputten Fenster war dick mit Klebeband verschlossen worden.
Durch die anderen Fenster konnte ich nur alten Polsterstoff sehen – keine übliche Ausstattung. Das Innenleben erinnerte eher an eine sehr spartanische Unterkunft. Jemand musste in diesem Bus gewohnt haben.
„Hallo?", rief ich, ehe ich mich weiter um das Fahrzeug bewegte. „Ist hier jemand?"
Nein, du bist alleine, hallte es in meinem Kopf.
Die Tür war geschlossen, doch ich ertastete einen kleinen Spalt in ihrer Mitte, der es mir ermöglichte, sie unter großen Anstrengungen und Ächzen gerade so weit zu öffnen, dass ich mich hindurchquetschen konnte.
Ich lugte vorsichtig in das Innere des Busses. Schließlich wollte ich keine bösen Überraschungen erleben. Ich ging leise hinein und öffnete die Vorhänge an den Fenstern. Ein Schwall von Staub brachte mich zum Husten. Meine Augen begannen zu brennen.
Ich entdeckte eine kleine Küchenzeile und die Gitter eines Gasherds. Aufgeräumt wie das gesamte Innere des Fahrzeugs, kein Müll, keine Scherben. Im hinteren Teil befand sich eine Holztür. Vermutlich führte sie zu einem Bad oder einer Abstellkammer. Meinen sehnlichsten Wunsch fand ich gegenüber der Küchenzeile erfüllt.
Ich machte ein kleines Bettgestell aus und konnte mein Glück kaum fassen, als ich darauf eine dicke Matratze erkannte. Auch hier: Wenige Flecken, kein Dreck. Alt, aber augenscheinlich sauber. Ich strich über die Matratze und war positiv davon überrascht, wie weich und gemütlich sie zu sein schien. Einen besseren Schlafplatz konnte ich mir zumindest für heute Nacht nicht wünschen.
Ich setzte mich auf den Rand des Bettes und kramte in meiner Tasche nach dem Pfefferspray. Sicher war sicher, denn viel konnte ich in meinem Zustand nicht mehr ausrichten. Danach legte ich mich seufzend hin und ergab mich meiner Erschöpfung.
Eine Decke war mir leider nicht vergönnt, daher zog ich stöhnend die Beine an die Brust. Es war hier drinnen nicht viel wärmer als draußen, aber immer noch besser, als unter freiem Himmel zu übernachten. Ich schloss die Augen.
Schritte.
Ich war schlagartig wach und wurde von gleißendem Licht geblendet, welches mir in die Augen fiel. Wo war ich? Was ...?
Dann brachen die Erinnerungen an all die Ereignisse wieder über mich herein. Meine Entlassung. Der Verlust meiner Wohnung. Der heruntergekommene Mini-Bus. Ich musste doch eingeschlafen sein.
Als sich meine Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, blickte ich auf und machte vor Schreck einen Satz in die Luft. Vor mir stand ein vollbärtiger Mann mit dunkelblondem Haar, von welchem sich einzelne Strähnen in seine Stirn gekämpft hatten.
„Was tust du hier?", presste er mit erhobener Stimme zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und ich wich so weit vor ihm zurück, wie ich nur konnte.
Jeder Muskel in meinem Körper stand schlagartig unter Strom. Ich musste schnell hier weg!