Rose
Ich kann nicht genau sagen wie Anthony sich fühlt.
Auf dem Weg zu seinem Haus hat er kein einziges Wort mit mir geredet.
Erst als wir durch die Haustür sind, bittet er mich in die Küche zu gehen.
Sie ist schlicht in braun und ein wenig schwarz gehalten. Unordentlich ist auf jeden Fall etwas anderes, anscheinend liegt es seinen Eltern Ordnung zu halten.
„Setz dich." Ohne mir einen Blick zu widmen zeigt er auf die Hocker, welche vor der Kücheninsel platziert sind und öffnet einen der Schränke. Nervös spiele ich mit meinen Fingern, an denen das Blut schon längst getrocknet ist.
Ich habe immer noch so viele Fragen, die in meinem Kopf nicht zur Ruhe finden, doch die Angst ihn wieder zu provozieren ist zu groß.
Kurze Zeit später kommt er mit einem kleinen Verbandskasten und einem Glas Wasser auf mich zu und setzt sich auf den Hocker gegenüber von mir.
„Dreh dich um." Mit seiner Hand signalisiert er mir, dass ich mich andersrum auf den Stuhl setzen soll, was ich zögernd tue und als er mich ruckartig zu sich zieht, sodass ich seine harte Brust für einen kurzen Moment an meinem Rücken spüre, entfährt mir ein leises Keuchen.
Mit seiner linken Hand drückt er meinen Kopf nach vorne und fängt an die kleine Wunde zu säubern.
Zischend kneife ich meine Augen zusammen und umklammere den Saum meines weißen Oberteils um den Schmerz abzuleiten, der sich gerade durch meinen ganzen Schädel zieht.
„Halt still", kommt es ernst aus Anthony's Mund und zu meinem Entsetzen gehorche ich sofort.
Wie kann es sein, dass ich einem fast Fremden so viel vertraue, mit ihm zu seinem Haus gehe wo wir ganz alleine sind, obwohl er mir erst kurz vorher eine Wunde zugefügt hat?
Scheiße, ich bin so hoffnungslos.
Nach ein paar Minuten höre ich wie er seinen Hocker zurückschiebt, sich erhebt und den kleinen Koffer wieder zusammenpackt.
Zitternd greife ich nach dem Wasserglas und nehme zwei kleine Schlücke.
„Brauchst du eine Schmerztablette?"
Kurz überlege ich, bevor ich schnell mit dem Kopf schüttle und auf das halb leere Glas vor mir starre.
Er soll nicht denken, dass er mir so sehr weh getan hat, dass ich schon Schmerzmittel brauche.
Und langsam, ganz langsam, kommt die Angst zurück, die ich in diesem Moment verspürt habe.
Still kommen Tränen über meine Wangen und vermischen sich mit dem kalten Wasser in meinem Glas. „Rose", höre ich Anthony leise flüstern, ehe er bei mir ist, mich hochhebt und mich in seine Arme schließt.
Und obwohl er einer der Gründe ist, wieso ich jetzt gerade meine Tränen in sein T-Shirt weine, ist er der einzige der mich davon abhalten kann.
„Es tut mir leid", kommen die vielversprechenden Worte aus seinem Mund, während er seine Arme fester um mich schlingt und seinen Kopf in meiner Schulter vergräbt.
Lauter schluchzend presse ich mich mit meinen Beinen um seine Hüfte und lege mein Kopf noch enger an seine Brust, klammere mich an seinem Oberteil fest und will nie wieder diesen Schmerz fühlen.
„Es tut mir so leid", murmelt er zitternd, worauf ich mein verweintes Gesicht hebe und ihm nun in die Augen schaue. Erst jetzt sehe ich den ganzen Schmerz. Den Schmerz den ich fühle, fühlt er ebenfalls.
Die paar Tränen die in seinen ozeanblauen Augen vor sich hin schimmern, warten nur darauf wie ein Wasserfall auszubrechen.
Und wie aufs Wort fließt die erste Träne über seine Wange, genau wie meine. Langsam lehne ich mich zu ihm rüber, lehne meinen Körper stärker gegen ihn, durch die Angst, dass er mich fallen lassen könnte und lege meine Lippen auf seine.
Sofort erwidert er den Kuss. Ich spüre wie sich unsere Tränen miteinander vereinen, wie sich unsere Gefühle nur noch weiter ausbreiten und das Gefühl richtig zu sein wieder zunimmt.
Wimmernd fließen die Tränen über unsere Wangen, während unsere Zungen den Mund des anderen erobern.
„Es tut mir leid", wiederholt Anthony mit brüchiger Stimme und wieder schluchze ich laut auf.
Es ist nicht seine Schuld.
Zusammen taumeln wir ins Wohnzimmer und halten vor dem braunen Sofa.
Mit geschlossenen Augen lasse ich mich von ihm darauf legen. Wie als würde ich in Samtkissen baden, spüre ich die Wärme die mich umhüllt, als er sich über mich beugt und unseren Kuss wieder aufnimmt.
Mit geöffneten Mund lasse ich ihn in mich und spüre wie seine Zunge meine zart umschließt. Die Speichel die langsam in seinen Mund fließt, lässt mich leise keuchen. Seine Finger die ihren Weg in mein Haar finden, durchkämen den wilden Dschungel der Knoten die sich dort angereiht haben.
Doch anders als gedacht, fährt er nicht unter mein langes, weißes Krankenhausoberteil. Ist das ein Zeichen? Ist er anders als die anderen?
Ich höre wie er selber noch einmal aufschluchzt und unsere Münder von einander trennt.
Schwer atmend öffne ich meine Augen und schaue in seinen genauso verweinten Blick und sehe nicht den kleinsten Hauch von einem Lächeln.
Langsam geht er mit seinem Daumen über meine feuchte Wange und streicht eine nach der anderen Träne beiseite.
Schweigend nimmt er sich die gefaltete, graue Decke von dem Sessel neben uns, breitet sie aus und legt sie über uns. Sein Kopf schlummert in meiner Schulter und meiner lehnt sich an seinem an.
Wie in Trance schließe ich meine Augen und spüre Anthony's aufgewühlten Herzschlag, genau wie er meinen, weshalb er langsam seine Hand in meine legt und vorsichtig über sie streicht, bis ich einschlafe.
Anthony
Das umdrehen des Schlüssels holt mich aus meinem unruhigen Schlaf. Besorgt sehe ich zu Rose, die immer noch seelenruhig in der Decke eingemummelt liegt und die letzen getrockneten Tränen auf ihrer Wange funkeln.
So leise wie möglich erhebe ich mich und laufe zur Tür, die gerade von meinem Vater geöffnet wird.
„Du bist noch wach?", fragt er mit müder Stimme und schon halbgeschlossenen Augen. „Ich wollte nur was trinken-" „Hast du das Mädchen gesehen?", unterbricht er mich sofort und hängt seine Jacke auf.
„Was?" Sofort überkommt mich eine Art unangenehmer Schauer. „Ihre Mutter hat angerufen. Sie ist nicht zuhause oder bei irgendwelchen Bekannten.
Scheint als wäre sie weggelaufen", erklärt er seufzend und läuft Richtung Küche.
Mit zusammengepressten Kiefern folge ich ihm.
„Einfach wegrennen", lacht er spöttisch und nimmt sich ein altes Stück Pizza aus dem Kühlschrank.
„Dad-", versuche ich ruhig zu bleiben, in dem Wissen, dass Rose direkt nebenan auf dem Sofa liegt.
„Mir wurde erzählt sie hat eine Krankheit... Vielleicht funktioniert ihr Gehirn nicht so gut, oder-" „Halt deine Fresse!", kommt es unkontrolliert aus mir heraus gesprudelt und ich trete näher an ihn heran. Seine Augen mustern mich neugierig und als er nun versteht, verdunkeln sie sich sofort.
„In deinem Zimmer oder wo?", gibt er nun gepresst von sich, doch ich deute auf das Wohnzimmer, worauf er hysterisch ausatmet.
„Wir müssen ihre Mutter anrufen", sagt er trocken und greift nach dem cremefarbenen Telefon, bereit die Nummer zu wählen.
„Reicht es nicht wenn sie morgen nach Hause kommt? Bitte Dad. Sie braucht das", versuche ich ihn leise zu überreden, worauf er mich weiterhin düster anstarrt. „Ich arbeite bei der Polizei, Anthony!", zischt er aggressiv und kommt mahnend auf mich zu. „Es gehört zu meinem Job." „Dein Job ist es auch Vater zu sein", kommt es über meine Lippen, ohne zu wissen wie sehr ich ihn damit getroffen habe.
Sofort lässt er das Telefon in seiner angespannten Hand sinken.
Er scheint eine Zeit lang zu überlegen, schaut mich an, als würde er mir am liebsten den Hals umdrehen und antwortet schließlich.
„Morgen Früh. Nicht später." Mit diesen Worten geht er an mir vorbei, die Treppe hoch und verschwindet nach links, in die Richtung seines Zimmers. Schwer atmend fasse ich mir durchs Haar und gehe nun mit kleinen Schritten auf das Sofa zu und wie gehofft schläft sie noch friedlich auf dem braunen Leder.
Nach kurzem überlegen hebe ich sie sanft auf mein Arm, worauf sie ein leises murmeln von sich gibt. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als sie sich enger an meine Brust kuschelt, während ich den Weg zu meinem Zimmer ansteure.
Ihre leicht geröteten Wangen, ihre blonden zerzausten Haare, ihre geschlossenen Augenlieder und ihre vollen rosa Lippen...
Ich kann garnicht beschreiben wie wunderschön sie ist.
Mit ihrem zierlichen Körper im Arm, trete ich in mein kleines Zimmer und schließe vorsichtig die Tür, ohne sie dabei aufzuwecken.
Langsam lasse ich sie auf meinem Bett nieder, lege die dicke Decke über sie und mache ein paar Schritte zurück, sodass ich sie ganz betrachten kann.
Sie ist noch so jung...
So jung und schon so kurz vorm sterben.
Als sie mir erzählt hat, dass sie sehr wahrscheinlich nur noch diesen Sommer miterleben wird, hatte ich nur einen Gedanken im Kopf.
Ich muss ihr den schönsten letzen Sommer machen, den sie je erlebt hat.
Jedoch war der Gedanke, aufzustehen und weg zu gehen, nicht weit entfernt. Was werde ich machen wenn es soweit ist? Wenn ich mich wirklich in sie verlieben werde? Schon nach so weniges Tagen hat sie mich so sehr fasziniert.
Scheiße Rose, was machst du mit mir?
Würde mich sehr über Votes und Kommentare freuen<3