„... ich schwöre, wenn ich den Teufel erwische, der ihm das angetan hat, dann..."
Ob Prophezeiung oder leere Drohung einer trauernden Schwester, Frau Millefiores Worte noch deutlich im Ohr, erwachte Schrödinger am nächsten Morgen zerschlagen und mit schweren Gliedern, wie nach einer durchzechten Nacht. Die Blumenhändlerin zu beruhigen und ihr gut zuzureden, damit sie ihren Worten nicht irgendwann eine Verzweiflungstat folgen lassen würde, hatte doch stärker an seinen Kräften gezehrt als gedacht.
Halbherzig setzte er sich an den Frühstückstisch. Irgendwie wollte der Kaffee heute morgen so gar nicht schmecken, und auch das herzhafte Aroma von gebratenen Würstchen bereitete ihm ein Unbehagen, das er in dieser Form auch schon lange nicht mehr verspürt hatte. Wann war er zuletzt so verkatert gewesen? Eines der zehn Bierchen muss verdorben gewesen sein? Was für ein blöder Witz! Dabei hatte er noch nicht einmal den Reagenz-Gin aus dem Dorfkrug angerührt. Lustlos rührte Schrödinger in seiner Tasse und ließ das Radioprogramm aus der hintersten Ecke des Frühstücksraums an sich vorbei plätschern.
„Mit Firma Brück zum Abfallglück", schreckte ihn plötzlich eine schnarrende Stimme, begleitet von einem Fanfarentusch und schrillen Klängen aus dem Lautsprecher, auf. Wessen Idee es auch immer gewesen war, das Radio mit seinem Lokalsender, dessen Frequenz selbst den NDR überlagerte, ohne Vorwarnung lauter zu drehen, im Nachhinein war er dankbar für die Störung mit gleitendem Übergang zu den Acht-Uhr-Nachrichten. Ob sie den Täter schon gefasst hatten? Er hoffte es sehr für Giulia Millefiore, die geschworen hatte, etwas zu unternehmen, wenn nicht bald etwas geschah. So oder so überschatteten die beiden Todesfälle, die vermutlich nicht einmal etwas miteinander zu tun hatten, den ersehnten Weihnachtszauber.
Ungeachtet jeglicher Hoffnungen, brachten die aktuellen Nachrichten nichts Neues, im Gegenteil, ohne viel Federlesens ging man gleich zu den nationalen und globalen Nachrichten über, um die Sendung mit dem Bericht über eine wissenschaftliche Entdeckung abzuschließen.
„Peking. FAST, das größte Radioteleskop der Welt, hat über 1600 Strahlungsausbrüche eines einzigen Objekts im Sternbild Fuhrmann aufgezeichnet. Mit dieser Intensität an Strahlung ist der FRB 121102 eine astronomische Sensation, die selbst den gerade erst wieder in den Fokus gerückten Supernovaüberrest in der Großen Magellanschen Wolke in den Schatten stellt."
Warum auch immer ihn diese Meldung aufhorchen ließ, aber dieses Phänomen erschien ihm als Erklärung für das ungewöhnliche Himmelsleuchten vom Wochenende plausibler als das, was der Pastor bei seiner Sternenführung über die wilden Farbspiele erzählt hatte. Salbungsvolle Worte bei einer Predigt waren das eine, aber poetische Ausführungen zu nicht alltäglichen Erscheinungen am Firmament nach Sonnenuntergang, eine ganz andere Baustelle. Durchsetzt mit Bezügen zum Alten und Neuen Testament und der stillen Hoffnung, mutvoll und mit Zuversicht der Ankunft des Herrn entgegenzublicken, hatte seine lange Rede jeglichen Sinn verloren, als sie Roberto Millefiore gefunden hatten. Die vor der Baracke der örtlichen NABU-Gruppe ausgebreitete Picknickdecke, nur wenige Meter abseits des Tatorts hatte die Bluttat in ein noch schaurigeres Licht gerückt und gleichzeitig seltsamerweise verhindert, dass seine Schwester noch an Ort und Stelle vollends zusammengebrochen war. Ein Zusammenbruch, der nun mit Verzögerung eingetreten war und dazu geführt hatte, dass die Blumenhandlung nun endgültig geschlossen war, zumindest für die nächsten Tage.
Landvermesser mit Stativ ermordet.
Ja, wie oft denn noch? Wie eine Raubkatze im Zoo, tigerte Giulia Millefiore in ihrem Gewächshaus auf und ab. Sich hinzulegen, hatte nur bedingt geholfen. Was für ein Glück, dass dieser Herr Schrödinger zur Stelle gewesen war und ihr beigestanden hatte, und er hatte wahrlich mit Engelszungen auf sie eingeredet, bis sie nachgegeben und etwaige Rachepläne auf Eis gelegt hatte. Auch wenn er im Prinzip damit recht hatte, dass mit blinder Rache niemandem geholfen war (und am wenigsten ihr selbst), eine Logik, die sie geradezu ansprang und sie dort biss, wo es am meisten wehtat, gärte es unterschwellig in ihr weiter. Aufgeschoben war nicht gleich aufgehoben? Gefangen in einer Spirale der Unzufriedenheit, hervorgerufen durch in dieser Hinsicht ambivalente Gefühle, spürte sie, wie sie dieses erzwungene Nichtstun so langsam aber sicher noch verrückt machte.
Wenn nicht bald etwas geschah und das Team rund um die Fuchs zu einem Ergebnis kam, wäre sie spätestens zur Wintersonnenwende ein komplettes Wrack. Und nicht nur sie. Sie hatte zwar Herrn Schrödinger versprochen, nichts Unüberlegtes zu tun; dennoch rotierten ihre Gedanken fieberhaft. Ob es schadete, auf eigene Faust tätig zu werden und hier und da ein paar unverfängliche Fragen zu stellen? Je länger Giulia Millefiore darüber nachdachte, desto brillianter erschien ihr ihre Eingebung. Dass Herr Schrödinger, anscheinend selbst Polizist, noch nicht selbst darauf gekommen war! Aber wie sollte er auch... Und selbst wenn: Als langjähriger Stammgast war er leider immer noch Außenseiter, und als solcher würde es ihm wohl kaum gelingen, in das Kaleidoskop von Verbindungen, die sich durch Bali wie ein Spinnennetz zogen, einzutauchen, geschweige denn, auch nur an der Oberfläche zu kratzen. Als unmittelbar Betroffene hatte dagegen sie die besseren Karten.
Vielleicht bekam sie beim vom Pastor ins Leben gerufene Trauercafé, jeden Dienstagabend im Pfarrhaus, die Gelegenheit dazu. Sie war schließlich nicht die Einzige, die einen geliebten Menschen verloren hatte. Auch die verwitwete Erna Kind, deren Liebster unter wesentlich weniger dramatischen (wenn auch nicht minder tragischen) Umständen von ihr gegangen war, würde dem Stuhlkreis regelmäßig beiwohnen.
Die Teilnahme Giulia Millefiores am Trauerkreis als Herumstochern im Ameisenhaufen? Das ewige Herumsitzen und Blättern in Büchern und Unterlagen, die er schon zum x-ten Mal gelesen hatte, gefiel Schrödinger so gar nicht. Dennoch war er mäßig begeistert, wusste er doch, dass Miss-Marple-Spielen auch durchaus nach hinten losgehen konnte, wenn dem vorsichtigen Ausloten oder Herumtasten doch eher die Tendenz zum Stich ins Wespennest anhaftete. Außerdem gab er nur ungern den Mister Stringer, obwohl... Wenn er es recht bedachte, war der Plan seiner potentiellen „Partnerin in Crime", die Partitur für eine Solistin in eine für ein Duett umzuwandeln, vielleicht gar nicht so verkehrt.
Sich dumm zu stellen, mochte zwar nur bedingt weiterhelfen, wenn man sich vor Augen hielt, dass seine Tätigkeit bei der Berliner Polizei den meisten in Bali bekannt war. Andererseits: Was hatte er zu verlieren? Wenn er es geschickt anstellte, und sich als durch seine angeschlagene Gesundheit leicht bis mittelschwer zerstreuter Biedermeier gab, würde niemand so schnell dahinter kommen, dass seine grauen Zellen noch einwandfrei funktionierten.
Vielleicht hatte er ja doch bessere Anlagen zum Geheimkünstler, als ihm bewusst war.