Der nächste Morgen zog sich wie Kaugummi. Gestern war noch bis spät in die Nacht hinein gefeiert worden und auch wenn Gerald, John und ich die Party bereits früher verließen, fühlte ich mich wie gerädert, als ich von einer Stunde zur nächsten schlurfte. Doch auch den anderen schien es nicht besser zu gehen, Ana war den gesamten Morgen richtig grün im Gesicht und sippte nur immer wieder vorsichtig an ihrem Wasser. Genau wie ich schien sie also drei Kreuze zu machen, als die schwarze Limousine am späten Nachmittag endlich in der Einfahrt der High School stehen blieb und uns einsteigen ließ, um uns zurück in die Häuser zu bringen. Ich quetschte mich als eine der ersten in das Auto und warf Ana einen mitfühlenden Blick zu, die sich mit einem schwerfälligen Satz neben mich plumpsen ließ. „Na, harte Nacht gehabt?" Versuchte ich zu scherzen, doch sie zog nur missbilligend die Augenbrauen zusammen. „Val, bitte, leise! Mein Kopf schwirrt immer noch! Warum habe ich auch so übertreiben müssen gestern?" Jammerte sie, und lehnte ihren Kopf hilfesuchend an meine Schulter. Ich grinste nur und kam ihrem Wunsch nach, indem ich Ruhe gab.
Jedoch schien es der Tag nicht gut mit Ana und den anderen zu meinen, denn als die erste Limousine gerade durch das große Tor unserer Unterkunft fuhr, vibrierten alle unsere Handys und eine Nachricht poppte auf unseren Bildschirmen auf.
Neue Nachricht: Alexandra: Dressurstunde in einer dreiviertel Stunde auf dem Dressurplatz.
Ana stieß daraufhin einen Fluch auf Russisch aus, bei dem ich wahrscheinlich froh war, dass ich die Sprache nicht beherrschte und grummelte weiter, während sie sich aus dem Wagen schälte. Gerald hatte vor ihr schon den Wagen verlassen und verkniff sich ein Grinsen. „Grins nicht so blöd, Eventing boy!" Fauchte die blonde Russin daraufhin und piekte ihm anklagend auf die Brust. „Hättest du jetzt gleich eine Reitstunde bei deiner Tante, dann würde dir auch die Laune vergehen." Fügte sie hinzu und rauschte dann mit erhobenem Haupt an ihm vorbei die Stufen hinauf in Richtung Aufzug. „Weiber..." Daniel, der hinter mir aus dem Wagen geklettert war und sich gerade seine Sonnenbrille von den Haaren auf die Augen schob, verdrehte bloß die Augen. Ich warf ihm einen gespielt ärgerlichen Blick zu, den er mit einem Schulterzucken abtat. „Mit Ausnahmen natürlich!" schleimte er und zwinkerte mir schelmisch zu. Dieses Mal war ich es, die die Augen verdrehte. Gerald tat es mir gleich und lachend stiegen wir die Stufen zur Eingangshalle hinauf, um uns für die kommende Trainingssession fertig zu machen.
Zwanzig Minuten später, ich hatte mich inzwischen in Reithosen geworfen und noch einen Apfel aus dem Kühlschrank verspeist, herrschte in den Stallungen hektische Betriebsamkeit. Auch Olympio wirkte sehr wach, als ich ihn aus dem überdachten Stallgang hinaus in die Sonne führte und steigerte sich sogar so weit hoch, dass er mit hoch erhobenem Kopf und Schweif neben mir her passagierte, die Nüstern und Augen weit aufgerissen. „Na, na. Das fängst du mit deinen zwölf Jahren jetzt nicht mehr an!" Mahnte ich ihn mit einem Grinsen im Gesicht an und klopfte ihm auf die breite Brust, um ihn etwas zur Räson zu rufen. Es war klar zu erkennen, dass es sich bei seinem Gehabe um reinen Übermut handelte und er eigentlich keine Angst vor den großen Palmen hatte, die längs unseres Weges uns Schatten spendeten. Und doch ließ er sich nicht beirren und passagierte den gesamten Weg zur Halle neben mir her, wobei sein kupferfarbenes Fell kerngesund in der Sonne glänzte. Keine Spur mehr von dem abgestumpften Fell nach dem Unfall und auch die Brandnarben waren kleiner und unsichtbarer geworden. „Oh la, Val, deiner ist aber heute gut drauf!" Mit großen Augen kam Dana auf ihrem Braunen angeritten und schien nicht schlecht zu staunen, wie sich mein kastanienbrauner Hengst neben mir bewegte. Ich winkte bloß ab. „Keine Sorge, das sind nur die Frühlingsgefühle!" scherzte ich und war aber dennoch heilfroh, endlich in der Halle angekommen zu sein. Vor dem Eingang fand ich einen kleinen Hocker, den ich zum Aufsteigen nutzte, bevor Olympio sich auch schon hinter Danas Hengst her stapfte und in die Halle schritt. Ana war bereits mit ihrem Fuchs in der Halle und hatte auch schon die Zügel aufgenommen. Mit mehreren kurzen Reprisen Schenkelweichen und Schritttraversalen bog sie ihren Wallach und stellte so gleichzeitig sicher, dass er an beide Zügel gleichmäßig herantrat.
Nach zwei Schrittrunden am langen Zügel machte ich ihr diese Übung nach und trabte dann so lässig wie möglich an. Olympio schien seine Energie heute nicht wirklich unter Kontrolle zu haben, denn er explodierte förmlich unter mir und trabte mit so viel Elan los, dass ich Mühe hatte, ihn bei mir zu halten. Mit gespitzten Ohren durchmaß er in langen Tritten die Halle und federte nur so über den hellen Sand. Lass mich mal machen! Schien er mir zu sagen, und die ersten zehn Minuten unseres Trainings ließ ich ihn gewähren. Und so galoppierte er schneller als sonst, warf sich fast in jedem Galoppsprung nach vorne- oben und ich grübelte schon darüber nach, ihn später versammelt zu bekommen, als unsere Trainerin die Halle betrat. Schlagartig parierten Ana, Dana und ich zum Schritt durch und sammelten uns oberen Zirkel, in dessen Mitte Alexandra gestiefelt kam.
Auch heute saß das blonde Haar glatt an ihrem Kopf an und war straff in einem Dutt zusammengebunden. Ihre grauen Augen musterten jeden von uns dreien eingehend. „Es freut mich, euch heute Mittag alle zu sehen! Ich hoffe, ihr habt euch schon eine Musikidee für eure Kür am Samstag ausgesucht, denn die Komponisten brauen bis morgen Abend 9 Uhr eure Ideen, um mit der Zusammenstellung der Musik beginnen zu können. Wie ihr ja bereits aus eigener Erfahrung wisst, bedeutet das auch, dass ihr bis dahin auch schon eure Linienführung braucht." Mir schwirrte bereits der Kopf, doch Alex fuhr unbeirrt in ihrem Monolog fort. „Um euch dabei zu helfen, habe ich mir gedacht, dass ihr heute während des Trainings gefilmt werdet und ihr dann seht, welche Elemente besondere Highlights darstellen und welche noch ausbaufähig sind. Deshalb habe ich auch heute das Filmteam dabei." Sie deutete hinter sich und wir entdeckten die drei Männer, die bereits damit beschäftigt waren, Kamera und Ausrüstung aufzustellen. „Habt ihr sonst noch Fragen?" Ale zog mit dieser Frage die Aufmerksamkeit wieder auf sich und blickte uns nochmal prüfend an. „Das Motto diese Woche lautet ja Musik aus dem Heimatland, ich denke, da werdet ihr schon genug Ideen haben. Also, können wir jetzt starten?" Sie klatschte aufmunternd in die Hände, unser Zeichen, abzuwenden und wieder anzutraben.
Und noch während ich Olympios federnde Tritte unter mir spürte, schweiften meine Gedanken heute bereits zum unzählbaren Male ab. Ich wusste immer noch nicht, welche Musik ich für meine Kür wählen würde, vor allem, da ich mit der österreichischen Musikbranche nichts zu tun hatte, mal ganz abgesehen von Alphörnern- oder waren die aus der Schweiz? „Valerie? Wenn dein Pferd weiterhin so unkontrolliert durch die Halle düst, sehe ich schwarz für Samstag." Die harsche Stimme von Anas Tante riss mich aus meinen Grübeleien. Sofort wirkte ich bremsend ein und konzentrierte mich wieder voll und ganz auf mein Pferd. Nach einer kurzen versammelnden Arbeit nahm ich mir die erste Diagonale mit Wechseln vor. In der Ecke stupfte ich ihn nochmals an, um ihn aufmerksam zu machen und zählte dann die Galoppsprünge mit. Eins, zwei, drei, Wechsel, zwei, zwei, drei, Wechsel. Olympio galoppierte kraftvoll unter mir und sprang die Wechsel wie am gezogenen Faden. Insgesamt sechs Wechsel gelangen mir auf der Diagonale und als ich den letzten Wechsel erfolgreich gesetzt hatte, lobte ich meinen tollen Fuchs ausgiebig und strahlte über das ganze Gesicht. Vielleicht war der Knoten ja doch geplatzt! Das Gespräch mit London hatte mir wohl endlich die Befreiung gegeben, die ich mir die ganze Zeit gewünscht hatte. Und so testete ich immer mehr Lektionen an. Über Pirouetten, Zick-Zack- Traversalen und einer, ins Vorwärts angelegten Piaffe, gelang über weite Teile hinweg fast alles, auch wenn man klar erkennen konnte, dass Olympio und ich noch lange nicht auf unserem alten Niveau waren.
Und doch strahlte ich wie ein Kind an Weihnachten, als Alex die Stunde schließlich für beendet erklärte und uns die Galoppbahn rund um das Anwesen ans Herzen legte. Ana, Dana und ich waren uns daraufhin wirklich auf die Galoppbahn geritten, ließen unsere Pferde jedoch nun nicht fetzten. Stattdessen gingen alle drei Pferde am hingegebenen Zügel Schritt, während wir uns unterhielten. „Puh, deine Tante ist ja echt ne Marke!" pfiff Dana durch die Zähne und blickte mitleidig zu Ana, die lediglich nickte. „Ja, jede Eiskunstlaufmutti ist ein billiger Abklatsch für sie!" prustete diese los und verdrehte ihre großen babyblauen Augen. Ich grinste lediglich. Es stimmte, Alex war eine knallharte Trainerin, jedoch war sie mir bisher immer fair vorgekommen.
„Aber Mädels, lass uns von was Besserem sprechen. Ich habe da von sicheren Quellen etwas von einer Party erfahren...", Wechselte Ana schnell das Thema und machte eine effektvolle Pause, in der sie Dana und mich eingehend musterte. Als sie sah, dass unser Interesse sich eher aufs Mäßige beschränkte, schnaubte sie sichtlich gekränkt durch ihre Nase und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na gut, wenn es euch nicht interessiert, dann brauche ich euch heute Abend ja auch nicht mitnehmen!" erklärte sie spitz. Dana schien den Humor Anas nicht zu verstehen und fing hilflos an zu stottern: „Ana, ich würde ja gerne mit, aber ich habe noch so viel zu tun, die Kür und alles, das ist einfach zu viel,..." Mit großen Augen musterte sie die blonde Russin, in deren Augen nun der Schalk blitzte. „Dana, mach dir bitte keine Sorge um Ana, sie ist sowieso immer die erste, die man auf einer Party verliert." Stichelte ich und schlug mich so auf die Seite der schüchternen Mexikanerin.
„Pah, das stimmt gar nicht!" Entgegnete Ana sofort und grinste diabolisch. „Und wer ist dann gestern mit Daniel verschwunden?" Konterte ich und fing haltlos an zu kichern. Inzwischen hatte auch Dana verstanden, dass wir nur scherzten und stieg mit ein. „Und wer wurde gestern mit Logan Fischer allein in einem Hinterhof gesichtet?" Fragte sie zuckersüß, woraufhin Ana vor Überraschung beinahe von ihrem Fuchs fiel. Ich grinste lediglich breit. „Dana! Ich wusste gar nicht, dass du so austeilen kannst!" Japste Ana und klopfte der neben ihr reitenden Dunkelhaarigen respektvoll auf die Schulter, die das mit einem Lachen kommentierte. „Stille Wasser sind tief!" gab ich altklug von mir und so erreichten wir, ausgelassen kichernd wie klein Schulmädchen, die Stallungen.