„Man Andreas! Geh mir doch aus dem Weg", schimpfte Stefan und drückte sich an mir vorbei in Richtung Kasse.
Wenn man alleine in der Hütte stand, wirkte sie irgendwie so groß, aber mit meinem Bruder zusammen hier drinnen, während wir beide versuchten irgendwie zu arbeiten, war es dann doch eher wie in einer Sardinendose.
Dass noch dazu echt die Hölle los war und wir kaum hinterher kamen Tassen zu befüllen, half nicht gerade dazu. Stattdessen fuhren wir uns einfach dauerhaft gegenseitig an, weil wir uns im Weg standen. Die Spülmaschine lief auch im Dauerbetrieb. Kaum war sie fertig, wurde sie von einem von uns ausgeräumt und mit den gestapelten, benutzten Tassen wieder gefüllt.
Wer hätte gedacht, dass Glühwein ausschenken wie Akkordarbeit war...
Heute war das Wetter wieder richtig gut. Es war zwar immer noch arschkalt, aber der Schneefall und der Wind waren weg, sodass es sich etwas wärmer anfühlte. Zudem sah alles super weihnachtlich aus, da über Nacht noch mal mehrere Zentimeter Schnee gefallen waren, die durch die Minusgrade nicht wegschmolzen.
Dem waren auch die zahlreichen Menschen geschuldet. Es war gerade mal Mittag, also eine Stunde nach Öffnung des Marktes, und es war jetzt schon völlig Land unter. Stefan und ich schlugen uns wacker, aber wenn die Nachfrage an Heißgetränken den restlichen Tag so anhalten würde, machte ich mir schon etwas Sorgen um unseren Vorrat. Hinter dem roten Stoff standen zwar noch zahlreiche Flaschen vorrätig, aber die mussten nicht nur heute, sondern auch noch morgen reichen. Andernfalls müsste ich heute Nacht noch eine Kochsession einlegen, um morgen noch genügend zu haben.
Mit Weihnachtsidylle hatte das heute auch nichts mehr zu tun. Die Menschen schoben einander regelrecht durch den Markt und drängten sich wie Erfrierende um die Feuertonnen. Die Schlangen an den Bratwurst- und Glühweinständen waren schier endlos und selbst die Sockendame mir gegenüber kam kaum mit ihrer Kundschaft hinterher.
Da konnte nicht einmal mehr die besinnliche Weihnachtsmusik oder die weiße Winterlandschaft etwas ändern.
Heute war ich erstmals wirklich froh, wenn der Tag endlich vorbei war.
„Wir haben fast keine Euros mehr", ließ Stefan mich wissen und drückte sich im nächsten Moment wieder an mir vorbei zu der Dame, die noch auf ihr Pfand wartete.
Auch das noch...
Ich seufzte angestrengt auf und warf einen Blick über die noch anstehenden Leute, während ich abwägte, ob es sinnvoller war Stefan kurz alleine zu lassen, um neue Euros zu holen, oder ob ich einfach hoffen sollte, dass die nächsten Kunden nur mit lauter Euros bezahlen würden.
Ich seufzte erneut. Option zwei war Schwachsinn, deswegen holte ich ein paar Scheine aus unserer Kasse und rief Stefan zu, dass ich gleich wieder da war. Dafür erntete ich zwar einen bösen Blick von meinem Bruder, weil ich ihn alleine ließ, aber das war mir gerade herzlich egal. Die Blamage, kein Pfand mehr rausgeben zu können oder kein Wechselgeld mehr zu haben, wollte ich wirklich verhindern.
Der Schnee und der Kies knirschten unter meinen Winterboots als ich mich durch die Massen wuselte, um beim Eingang des Marktes, der Eintrittspreis betrug zehn Euro, was in meinen Augen fällig angebracht war, immerhin gab es ein abwechslungsreiches Showprogramm, das nicht nur für Kinder schön anzusehen war, meinen Schein in Münzen wechseln zu können.
Die Sonne blitzte hell vom blauen Himmel, wodurch der Schnee märchenhaft glitzerte. Dazu hüpften gerade wieder Wichtel durch die Gäste, was das alles noch märchenhafter aussehen ließ.
„Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away. This year, to save me from tears, I'll give it to someone special", sang ich mit leiser Stimme die Musik aus den Lautsprechern mit und konnte dabei nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf meinen Lippen bildete.
Egal wie viel Stress war, das hier machte mir doch richtig Spaß. Die Musik, der Schnee und die Gäste, die allesamt ebenfalls ein Lächeln auf den Lippen trugen.
Die Weihnachtszeit war wirklich eine Zeit für Groß und Klein.
Der Anblick der Schlange, die gerade an der Kasse anstand, ließ mich meine Schritte jedoch verlangsamen und mein Lächeln sterben.
Die Schlange war so lang, dass ich von hier aus nicht einmal das Ende sehen konnte. Die Zweierreihe schlängelte sich bis zum Parkplatz, wo sie hinter einem hohen Bretterzaun aus meiner Sicht verschwand. Ich konnte nur mutmaßen, wie lang die Schlange wohl noch war.
Das ließ mich schlucken. Das bedeutete für mich zwangsläufig, dass ich mich heute ganz sicher noch ans Kochen machen musste, um für morgen auch noch genügend zu haben. Wenn heute schon so viel los war, dann war morgen Mittag sicherlich auch noch viel los. Zumal der Wetterbericht für morgen genauso gut aussah wie für heute.
Ich wollte nicht allzu lange darüber nachdenken, das würde mich nur noch stärker unter Druck setzen. Jetzt ging es erst einmal darum, den heutigen Tag gut zu überstehen. An morgen konnte ich morgen auch noch denken.
Das Büro der Marktleitung, das direkt neben den Kassen war, empfing mich mit einer angenehmen Wärme, die mich glatt aufatmen ließ. Wenn man eine längere Zeit draußen stand, bemerkte man gar nicht mehr, wie kalt es eigentlich wirklich war.
Dafür würde ich jetzt aber umso mehr frieren, wenn ich aus diesem Wärme-Eldorado wieder nach draußen treten musste.
„Hallo", begrüßte mich eine Frau hinter dem Tresen. Sie trug nur einen Pullover, dessen Ärmel sie sogar noch oben gekrempelt hatte, während ich ihr mit dicker Winterjacke, Mütze und Handschuhen gegenüber stand.
Nächstes Jahr sollte ich vielleicht auch lieber hier als im Glühweinstand arbeiten.
„Hallo", erwiderte ich lächelnd und zog mir meine Handschuhe von den Fingern, ehe ich die Scheine aus meiner Hosentasche fischte. „Ich bräuchte Wechselgeld."
„Wie viel denn?", fragte die junge Frau lächelnd und ging gleich zu einem Tresor, der im hinteren Teil des kleinen Büros stand.
„Eine ein Euro Rolle." Das müssten zwanzig oder fünfundzwanzig Euro sein, das sollte zumindest eine Weile lang ausreichen.
Daraufhin sperrte sie den Tresor auf, dessen Tür so aufging, dass man von hier aus seinen Inhalt nicht sehen konnte, ehe sie mir einen Augenblick später mit einer gelben Münzrolle wieder gegenüberstand und sie mir über den Tresen reichte. „Das wären fünfundzwanzig Euro."
Ich reichte ihr das Geld, steckte den Rest wieder in meine Hosentasche und verstaute die Rolle in meiner Jackentasche. Dann bedankte ich mich bei ihr, verabschiedete mich und zog meine Handschuhe noch über, bevor ich das warme Büro wieder verließ. Kaum draußen schlug mir die bittere Kälte eiskalt ins Gesicht und ließ mich erschaudern. Daraufhin beeilte ich mich gleich, um schnell wieder in unsere Hütte zu kommen, die zumindest etwas wärmer war als hier draußen.
Dabei fiel mein Blick auf Cornel und Buddy, die sich gerade mit dem Christkind auf einem weißen Pferd ihren Weg durch die Gäste bahnten. Der Anblick ließ mich gleich wieder lächeln. Cornel und ich hatten uns gestern noch lange unterhalten und uns dabei recht gut verstanden. Er hatte sogar noch mehrmals zu lachen begonnen, was mir jedesmal eine Gänsehaut verpasst hatte und mir sogar noch abends zuhause in meinem Bett in den Ohren gehangen war.
Cornel war zwar ein wenig arrogant und konnte gut über sich selbst reden, dafür war das ganze Gespräch aber positiv und heiter.
Generell hatte ich das Gefühl, dass Cornel das genau Gegenteil von mir war. Während er gesprächig und sehr redegewandt war, war ich eher der Zuhörer und ruhig. Ich hatte zwar auch was zu sagen, aber das war viel bedachter als Cornel, der einfach drauflos reden konnte. Dabei spielte ihm seine Selbstsicherheit gut in die Karten, wobei diese teilweise schon fast in eine Überheblichkeit überging, die er aber gleichzeitig durch seine Offenheit und Neugier in andere Leute runterspielen konnte.
Allem in allem war Cornel ein richtiger Darsteller, der die Aufmerksamkeit genoss und gerne unter Menschen war. Dabei auf einem Pferd zu sitzen und seelenruhig durch die Menge zu reiten, wo er von allen begeistert beobachtet wurde, puschte sein Ego meiner Meinung nach schon sehr.
Trotzdem war ich nach dem Gespräch mit ihm gestern nur noch begeisterter von ihm als zuvor schon.
Auch Cornel erblickte mich in der Menge und hob sogar die Hand, um mich zu grüßen. Das lockte auch den Blick des Christkindes auf mich, wodurch ich schnell realisierte, dass das die Frau war, die mir anstatt Cornell seine Tasse wieder zurückgebracht hatte. Da sie da aber braune Haare gehabt hatte, waren die goldenen Locken also tatsächlich eine Perücke, wie ich von Anfang an vermutet hatte. Auch sie hob ihre Hand, was mich gleich noch breiter Lächeln ließ.
„Andreas", begrüßte mich Cornel, nachdem er sein Pferd extra in meine Richtung gelenkt hatte. „Dass man dich mal außerhalb deiner Hütte sieht."
„Ich bin auch schon wieder am Weg zurück", ließ ich ihn wissen und sah zu Buddy, der kurz an mir schnupperte und seinen Kopf dabei sehr nah an mich heranbrachte.
„Er tut nichts", beruhigte mich Cornel gleich. „Du kannst ihn gerne streicheln, wenn du möchtest. Am besten am Hals. Das mag er."
Etwas unsicher hob ich langsam die Hand und führte sie zu seinem Hals, ehe ich sachte dagegen klopfte. Buddy zeigte daraufhin nicht viel Reaktion, was mir eh lieb war. So nah vor so einem großen Pferd zu stehen, war doch irgendwie umheimlich, auch wenn ich das vor Cornel nicht zugeben würde.
„Ich muss wieder zurück zum Stand." Ich klopfte ein letztes Mal gegen Buddys Hals und sah dann wieder zu Cornel hinauf. „Die laufen uns regelrecht die Bude ein."
Das brachte Cornel zum Lachen, was mir wiederum erneut eine Gänsehaut über den Körper jagte. Ob mein Körper sich irgendwann daran gewöhnen würde? Oder würde ich auch in Zukunft jedes Mal so reagieren, wenn ich sein Lachen hörte?
„Ich hole mir später auch nochmal was", kündigte Cornel an und auch die Brünette nickte gleich begeistert.
„Oh ja, ein Heißgetränk hört sich gut an. Es ist eiskalt."
Dass ihr kalt war, wunderte mich bei ihrem knappen Kostüm nicht. Das Kleid, das sie trug, war zwar nicht aufreizend oder sehr freizügig, aber dennoch keinesfalls für Minusgrade gemacht. Da half nicht einmal mehr das weiße Fell, dass sie um die Schultern trug.
„Na dann", lächelte ich Cornel entgegen. „Dann sehen wir uns da."
Nur knapp zwanzig Minuten später, standen Cornel und die Brünette dann tatsächlich bei mir am Stand. Diesmal jedoch ohne ihre Pferde. Dabei war aber leider so viel zu tun, dass ich keine Zeit hatte, um mich wirklich mit ihnen zu unterhalten.
Diesmal bestand Cornel darauf, seinen Glühwein zu bezahlen, was uns für wenige Sekunden miteinander diskutieren ließ, bis mir Stefan kräftig den Ellenbogen in die Seite donnerte, damit ich endlich weitermachte.
„Aua! Arsch", knurrte ich und verzog schmerzhaft das Gesicht, ehe ich das Geld von Cornel und seiner Begleitung in die Kasse warf.
„Selber Schuld", erwiderte mein Bruder daraufhin nur und reichte einer Kundschaft eine volle Tasse Punsch.
„Und das ist für dich", grinste Cornel, als ich mich ihnen nochmal kurz zuwandte und reichte mir ein paar Münzen. „Für deine Trinkgeldkasse." Daraufhin zwinkerte er mir zu, was meine Wangen schlagartig aufheizte und ich das Glühen regelrecht spüren konnte.
„Man sieht sich, Andi", rief Cornel mir noch zu, ehe die Beiden sich auch schon wieder entfernten.
Der Seitenblick meines Bruders, als ich die stattlichen vier Euro Trinkgeld aus meiner Handfläche in die provisorische Trinkgeldkasse rutschen ließ, und dabei grinste wie ein Honigkuchenpferd, entging mir nicht.
Auch als Cornel an diesem Tag noch zwei weitere Male vorbeikam und sich Glühwein von mir holte, gab er mir jedes Mal großzügig Trinkgeld. Das war mir zwar mittlerweile fast unangenehm, er brauchte mir wirklich nicht so viel Geld schenken, aber er weigerte sich auch es zu behalten. Wenn ich es nicht annehmen wollte, legte er es einfach auf den Tresen, ehe er sich mit seiner Tasse wegdrehte, um den anderen Gästen in der Schlange Platz zu machen.
Darüber konnte ich nur den Kopf schütteln, aber irgendwie fand ich es auch süß.