Gähnend langte ich nach meinem tiefschwarzen Brokatumhang und legte ihn mir über die Schultern. Mein Nacken war völlig verspannt, mein Hals ausgetrocknet und meine Laune bereit zu kippen. Es war keine besonders gute Idee gewesen mich zum Lesen in die schmale Fensternische zurückzuziehen, in der es schrecklich zog, und dann auch noch einzuschlafen. Die langen, schwarzen Haare klebten mir kalt und klamm im Nacken und ich musste schon wieder niesen, diesmal heftiger. Besser ich besorgte mir schnell etwas Warmes zum Trinken.
Ich zog den schweren Umhang fester um mich, sodass nichts mehr von dem zitrusfarbenen Stoff darunter zu sehen war, und machte mich auf den Weg. Während ich durch das steinerne Labyrinth eilte, das die Rosenburg war, betete ich darum, mich nicht erneut zu verlaufen und eine Bedienstete nach dem Weg fragen zu müssen. Obwohl ich in einem Schloss weitaus größeren Umfangs aufgewachsen war, brachten mich diese engen Gänge mit ihrer schlechten Beleuchtung stets durcheinander. Die schwere Fichtentür auf, die Steintreppe hinunter, den Gang entlang, vierte Tür rechts, durch die Halle und ...
„Wie siehst du denn aus, Raven? Ist etwas passiert?"
Die heisere Stimme ließ mich am Absatz herumschnellen, doch es war nur Katrina, mit einer Gaslampe in ihrer Rechten und Besorgnis in ihrem gespenstisch blassen Gesicht. Die hellblonden Haare hoben sich kaum von ihrem Teint ab und ließen sie im Dunkeln leuchten. Man könnte sie beinahe für ein Gespenst halten, kam es mir bei ihrem Anblick unwillkürlich in den Sinn.
„Das könnte ich dich genauso fragen", erwiderte ich angesichts ihrer geröteten Wangen und glasigen Augen ohne auf ihre Frage einzugehen. „Es ist nicht gut für dich, bei solch einem Wetter durch den eiskalten Salon zu wandern. Du weißt genau, wie sich John aufregen wird, wenn er das sieht. Hast du eine gute Ausrede oder sollen wir uns gemeinsam eine ausdenken?"
Meine Cousine war ihrer Mutter gleich von klein auf kränklich gewesen. Ein ungeklärtes Fieber jagte das andere in manchen Jahren, sodass mir rasch verboten worden war, sie zum Spielen aus dem Haus zu locken. Es war daher kein Wunder, dass sich auch die alteingesessenen Bediensteten in ständiger Sorge um sie befanden. Dennoch stand sie nun inmitten eines ungeheizten Raums mit einem blütenweißen Blatt Briefpapier in der Hand, während draußen ein Gewitter tobte. Der strahlende Sonnenschein hatte sich kurz nach meiner Ankunft in eine tosende Sintflut verwandelt.
Fröstelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust – ein erfolgloser Versuch, die fliehende Körperwärme zurückzuhalten. Im westlichen Königreich gab es nur selten einen Anlass, um meinen dicken Brokatmantel zu tragen, doch hierzulande zog der eisige Wind durch jede Ritze und Spalte, so klein sie auch war. Wie meine Cousine hier überlebte war mir seit jeher ein Rätsel.
„Oh, sorg dich nicht, denn eine bessere Ausrede könnte es gar nicht geben." Selten hatte ich Katrina mit solcher Überzeugung sprechen hören. Doch was konnte John besänftigen, wenn die Gräfin sich in Gefahr brachte? Man konnte über die Bediensteten der Rosenburg vieles sagen, doch sie nahmen ihre Pflicht ernst, die Herrin vor der Welt und sich selbst zu schützen.
Mit einem ungewohnt schelmischen Grinsen wedelte Katrina mir mit dem Brief vor der Nase herum. "Sieh doch. Du bist sicherlich neugierig, wovon ich spreche."
„So sehe ich gar nichts", fauchte ich und fischte nach dem Blatt, doch sie brachte es schnell unter ihrem Mantel in Sicherheit. Dann deutete Katrina auf den kleinen Beistelltisch neben uns. Eine exakte Kopie ihres Briefes lag dort, nur war diese Version an mich adressiert.
Flink befreite ich das Briefpapier aus dem Umschlag und las. Es war eine Einladung auf das Schloss Silbermeer und zu Prinz Jonathan. Enttäuschung machte sich in mir breit. Darum hatte Katrina solchen Wind gemacht?
„Vergebene Liebesmüh', wenn du mich fragst. Die sollten eigentlich wissen, dass ich komme; eine formelle Einladung ist zwar eine nette Geste, aber überflüssig." Desinteressiert warf ich den Brief zurück auf den Tisch, damit ich meine eiskalten Hände wieder aneinander reiben konnte.
„Schicken sie dir immer so förmliche Einladungen?", wollte meine Cousine plötzlich wissen.
Ihre Frage stimmte mich nachdenklich. Bis jetzt war höchstens eine informelle Eilschrift von Jonathan gekommen, um mir mitzuteilen, dass ich auch in diesem Jahr jederzeit auf Silbermeer willkommen wäre, aber eine förmliche Einladung?
„Nein, ich glaube nicht."
Katrina begann zu strahlen, doch gerade als sie ihren Mund öffnete, um mir etwas darüber zu sagen, stürmte John herein. Er war blass; blasser noch als seine geisterhafte Herrin.
„Ihr beiden holt euch noch den Tod", stieß er mit erschrockenem Gesichtsausdruck aus, bevor Katrina oder ich etwas zu unserer Verteidigung sagen konnten. Als sie schließlich damit begann, sich zu rechtfertigen, wiederholte er bloß immer wieder, dass sie trotz der Umstände auf ihre Gesundheit achten müsste.
Mit leiser Neugierde beobachtete ich, wie meine Cousine sich widerstandslos einen Arm um die Taille legen ließ, bevor John sie aus dem Raum führte. Er war das Oberhaupt der Gärtner der Rosenburg und bereits vor dem Unfalltod ihrer Eltern stets an Katrinas Seite gewesen. In meiner Erinnerung an die zahlreichen Besuch auf der Rosenburg war John stets ein fixer Bestandteil gewesen; anfangs noch am Rande des Geschehens, dann zunehmend im Mittelpunkt. Seine Position hatte sich über die Jahre verändert. Inzwischen erinnerte er mich an eine Art Tutor, wobei seine Fächer weniger mit Algebra und mehr mit der Zucht von Rosen und der Pflege kranker Gräfinnen zu tun hatten. Bei genauerer Überlegung sollte ich vermutlich froh sein, dass er Katrina nicht einfach über die Schulter geworfen hatte wie einen Sack Mehl.
„Selbst in meinen Augen sind ihre Bediensteten speziell", murmelte ich, den beiden nachblickend. Lange hielt ich mich mit Johns Benehmen jedoch nicht auf, denn Szenen wie diese waren keine Neuigkeit. Der Brief hingegen ...
Für einen Moment überlegte ich John und Katrina nachzulaufen, um sie nach dem Grund für ihre Aufregung zu fragen. Für mich war der Brief immer noch einfach ein Brief. Doch nach einem Blick den langen, dunklen Korridor entlang, machte ich mich lieber auf die Suche nach der Küche. Nach einigen Irrgängen stand ich schlussendlich in der Tür zu meinem neuen Lieblingsraum in der Rosenburg. Die Küche überzeugte mit einem großen Backsteinkamin in dem ein behagliches Feuer loderte, welches die Kälte vertrieb und meinen steifen Muskeln gut tat.
Mit einem zufriedenen Seufzer ließ ich mich auf einem grob gearbeiteten Stuhl am Feuer nieder und beobachtete die Magd dabei, wie sie mir mit geübten Handgriffen meinen Zimt-Tee zubereitete. Bevor die Bedienstete angefangen hatte zu sprechen, wusste ich bereits, dass es nur sinnbefreite Höflichkeiten sein würden. Tief einatmend unterdrückte ich den Drang ihr zu sagen, sie solle schweigen.
„Bevor Ihr diesen Tee gebracht habt, Eure Hoheit, da hatte ich keine Ahnung, dass er existiert. Aber jetzt – er füllt die ganze Küche mit seinem wunderbaren Duft und die Gräfin trinkt kaum noch etwas anderes. Sie freut sich übrigens sehr, dass Ihr hier seid, auch wenn sie es nicht gleich zeigen mag. Sie ist recht einsam, und Ihr bringt immer Ablenkung mit euch."
Ich nickte ihr in Ermangelung der richtigen Worte einfach zu und schlang die Hände um die dampfende Tasse, die mir in die Hand gedrückt wurde. In großen Schlucken begann ich zu trinken; zu gierig, denn ich verbrannte mir sofort die Zunge.
„Verdammt", rutschte es mir heraus und die Magd sah mich so anklagend an, als ob sie Zwiesprache mit meiner Gouvernante gehalten hätte.
„Bitte. Bitte sagt mir jetzt nicht, dass sich fluchen für den Adel nicht gehört." Ich sah sie bei meinen Worten unverhohlen genervt an und sie schnalzte doch tatsächlich missbilligend mit der Zunge; zweifelsohne war es nur der Respekt vor meiner Position, der sie an einer patzigen Antwort hinderte.
Anstatt unter der Aufsicht meiner Gouvernante 2.0 zu verweilen, beschloss ich mit dem Tee auf mein Zimmer zu gehen, und erhob mich. In dem zugigen Turmzimmer würde er schneller auskühlen und ich musste mich beim Trinken nicht von Katrinas freimütigen Bediensteten bevormunden lassen. Den Weg zurück fand ich zum Glück leichter als den Hinweg und bald schon befand ich mich wieder neben dem großen, knarzenden Himmelbett, das mir für einige Nächte gehören würde.
Bis ins Bett verfolgte einen die Kälte, dachte ich bei dem Anblick der eisblauen Leinen missmutig.
Vorsichtig stellte ich meine dampfende Tasse auf dem Schreibtisch ab und holte aus der staubigen Lade Schreibutensilien sowie schweres Briefpapier heraus. Ich musste Jonathan nur in wenigen Worten Bescheid geben, dass sie wieder mit mir rechnen durften und mich für die Einladung bedanken. Mehr war zwischen uns nicht vonnöten.
Katrinas Gesellschaft wirkt sich bereits auf mich aus, erkannte ich, als ich mir der guten Manieren gewahr wurde, die ich mit einer angemessenen Antwort zeigen würde. Ohne groß nachzudenken setzte ich die lange Kopfzeile auf, hielt jedoch bei der Anrede inne.
Mit einem Schlag mir bewusst, worauf Katrina mich hinweisen hatte wollen. Die Einladung war gar nicht von Jonathan gewesen, sondern von König Almar. Seit wann schickte denn der König persönliche Einladungen an Freunde seines Sohnes? War er nicht ein stolzer Vertreter der Meinung, dass sein Erbe sich gefälligst selbst um seine Angelegenheiten kümmern sollte?
Nun wusste ich nicht mehr genau, wie ich meine Antwort formulieren sollte. Meine Hand war schwer geworden. Irgendwie klingelte da bei König und Einladungen zur Sommersaison etwas, als hätte ich bereits etwas darüber gehört. Vielleicht Zuhause, im Wasserpalast? Oder hatte Jonathan mir bereits dazu geschrieben?
Mir fiel beinahe die tintengetränkte Schreibfeder auf das Pergament, als es mir siedend heiß wieder einfiel.
Bei den Göttern, konnte das tatsächlich Almars Ernst sein?
Wollte er wirklich riskieren, dass jemand wie ich sein Königreich übernehmen könnte?
Sprachlos sank ich im Sessel zurück. Womöglich wurde der alte Herr senil, anders konnte ich mir diese Entscheidung nämlich nicht erklären.
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