Während Leonie weitererzählte, war ich noch immer dabei, das zu verarbeiten, was ich bereits erfahren hatte. In den ersten zwei Jahren war Leonie noch in Deutschland gewesen. Sie wusste jedoch nicht genau, wo, weil sie in diesen zwei Jahren kein einziges Mal die Wohnung verlassen hatte. Jonathan hatte sie dort eingesperrt und ihr nie erlaubt, nach draußen zu gehen. In Deutschland war die Gefahr zu groß gewesen, dass sie erkannt wurde. Sie hatte oft darüber nachgedacht, irgendwie auf sich aufmerksam zu machen, doch Jonathan hatte ihr schon damals eingeschärft, dass er mir jederzeit wehtun konnte, wenn sie etwas Dummes tat. Also hatte sie sich jedes Mal still verhalten, wenn er sie in der Wohnung alleine gelassen hatte. Er hatte sie dann immer mit Handschellen an ein Heizungsrohr gefesselt und geknebelt, aber sie hätte ja wenigstens versuchen können, sich von dem Knebel zu befreien und um Hilfe zu rufen. Sie hatte es nicht getan. Meinetwegen.
In diesen zwei Jahren waren Angst und Trauer Leonies ständige Begleiter gewesen. Es musste ihr sehr schlecht gegangen sein. Wie grausam musste es sein, zwei Jahre lang nicht raus an die frische Luft gehen zu können, kaum Sonne abzubekommen und sich nicht ausgiebig bewegen zu können und das in dem jungen Alter! Mit zehn, elf, zwölf hatte man doch so viel Bewegungsdrang. Gleichzeitig musste sie uns schrecklich vermisst haben. Sie musste einsam gewesen sein. Und die Angst, was die Zukunft bringen würde, hatte Leonie vermutlich jeden Tag beschäftigt. Sie hatte doch keine Ahnung gehabt, was Jonathan mit ihr vorhatte! Ob er sie eines Tages töten würde. Die Vorstellung, wie diese zwei Jahre Gefangenschaft für Leonie gewesen sein mussten, schnürte mir die Kehle zu.
Nach zwei Jahren hatte Jonathan Deutschland schließlich mit ihr verlassen. So lange hatte es gedauert, bis er alles organisiert hatte. Er hatte gefälschte Papiere besorgt und sich einen Weg aus dem Land erkauft. Auf einem Frachtschiff hatten sie Deutschland von Hamburg aus verlassen und sechs Wochen für die Reise nach Australien gebraucht. Dazu hatte Jonathan Leonie die Haare kurzgeschnitten und schwarz gefärbt und sie als Junge ausgegeben. Trotzdem hatte sie abgesehen von den Mahlzeiten jede Minute in der kleinen Kabine verbringen müssen. Jonathan hatte sie dort eingesperrt und Leonie hatte die meiste Zeit durchgeweint. Der Abschied von Deutschland hatte für sie auch den Abschied von mir bedeutet. Sie hatte gewusst, dass die Polizei sie in einem fernen Land niemals finden würde. Mit Betreten des Schiffes hatte sie auch jegliche Hoffnung verloren, mich jemals wiederzusehen.
Dass es nach Australien ging, hatte sie nur nebenher von den Gesprächen der Matrosen auf dem Schiff erfahren. Beim Essen hatte sie versucht, so viel wie möglich aufzuschnappen. Jonathan hatte ihr nie erzählt, wo es hinging.
„Als wir in Australien angekommen sind, sind wir direkt ins Outback aufgebrochen. Jonathan hat die Unterkunft schon von Deutschland aus organisiert."
Seither lebte Leonie auf der Farm mitten im Nirgendwo, abgeschnitten von der Zivilisation. Ohne Kontakt zu Mitmenschen, die ihr wohlgesonnen waren.
Als Leonie gerade weiter fingern wollte, hielt sie plötzlich in ihrer Bewegung inne. Irritiert sah ich auf. Was war los? Da entdeckte ich, dass sich Jonathans Lippen bewegten. Er schien irgendetwas zu sagen.
Verdammt, ich wollte erfahren, wie es weiterging! Was hatte Leonie auf der Farm erlebt? Welche Art von Farm war das überhaupt? Äcker gab es hier nicht, es musste eine Rinderfarm sein, wie es so viele in Australien gab. Aber eine Rinderfarm brauchte Angestellte, ich hatte niemanden dort gesehen außer Leonie und Jonathan. Was also hatten sie dort acht Jahre lang gemacht?
Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis Leonies Hand wieder hinter ihrem Sitz erschien. Was die beiden wohl besprochen hatte? Ich würde es vermutlich nie erfahren.
Dann endlich fingerte Leonie weiter, doch ich erfuhr nichts mehr von der Farm. Sie schien den roten Faden verloren zu haben. Das Gespräch mit Jonathan hatte sie abgelenkt.
„Über all die Jahre hat Jonathan mir eingeredet, dass Mama der Teufel in Person sei und keine glückliche Familie verdient habe. Dass ich ihm dankbar sein könne, dass er mich von ihr weggeholt hat. Er wollte mich manipulieren, wollte mich dazu bringen, dass ich Mama hasse. Ich glaube, er wollte, dass ich mich von meiner eigenen Familie abwende und ihn als meine Familie akzeptiere. Aber ich habe ihm nie ein Wort geglaubt, egal, was er über Mama gesagt hat. Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben und zu vermissen."
Tränen traten in meine Augen. Jonathan war ein Monster. Leonie hatte uns alle so schrecklich vermisst und er hatte versucht, uns ihr gegenüber schlecht zu machen? Ihr das eine zu nehmen, was ihr die Welt bedeutete? Den Glauben an und die Liebe zu ihrer Familie? Das, was ihr vermutlich die Kraft gegeben hatte, jeden Tag aus dem Bett zu kommen und den Tag zu überstehen? In dem Wissen, dass sie es für mich tat und damit auch Mama vor weiterem Unheil bewahrte. Was hatte Leonie nur durchgemacht? Wie hatte sie all das überstanden? Wie konnte sie nur so ruhig vor mir sitzen und hinter ihrem Rücken über Dinge fingern, die mir den Atem raubten? Ich hätte sie so gerne in den Arm genommen, hätte ihr so gerne Trost gespendet. Doch das war nicht möglich. Alles, was mir blieb, war, ihrer Erzählung zu folgen und ihr wenigstens das Gefühl zu geben, dass sie endlich mal mit jemandem über all das Grauen reden konnte, das sie erlebt hatte.
„Und es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe, Luisa. Es hat mir Mut gemacht, dass ich mit allem, was ich tat, dich beschützen konnte. Jonathans Freund, der Mann, der die Fotos macht, lebt in derselben Straße wie ihr. Er hätte dich jederzeit holen oder dir wehtun können. Das habe ich verhindert. Dafür habe ich gelebt. Jeden Tag."
Ihre Worte schmerzten so sehr. Auch ich hatte jeden Tag an sie gedacht, hatte mich gefragt, wie es ihr ging. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sie all die Jahre meinetwegen gelitten hatte. Was hatte sie die letzten acht Jahre auf dieser Farm erlebt? Was hatte sie meinetwegen für Jonathan getan? Die Gedanken zerquetschten mein Herz, sie ließen meine Brust so eng werden, dass ich kaum noch Luft bekam.
„Jetzt müssen wir zusammen stark sein, Luisa. Ich wollte nie, dass du herkommst, dass du dasselbe durchmachen musst wie ich. Aber ich kann es nicht mehr ändern. Nun müssen wir unsere kleine Schwester beschützen. Es tut mir leid, aber wir werden tun müssen, was immer er von uns verlangt, denn sonst wird sein Freund unserer Schwester etwas antun."
Verwirrt starrte ich auf ihre Hand. Hatte ich mich verlesen? Irgendetwas falsch verstanden? Wovon redete sie denn da?
„Ich habe mich so gefreut, als Jonathan mir von unserer Schwester erzählt hat. Und als ich vor zwei Jahren die ersten Fotos von euch beiden gesehen habe, ist mir mein Herz aufgegangen. Es freut mich, dass Mama und Papa ein neues Glück zugelassen haben."
Nein, das hatten sie nicht. Sie hatten Leonies Verlust nie überwunden. Ein drittes Kind zu bekommen, wäre ihnen wie Verrat vorgekommen. Sie hatten das Gefühl gehabt, Leonie zu ersetzen, wenn sie noch einmal ein Kind bekommen hätten. Leonie war nicht ersetzbar, sie war immer ein Teil unserer Familie geblieben, auch wenn sie nicht mehr da gewesen war.
Wovon also redete sie?
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Fotos mit Anastasia, unserer kleinen Nachbarin, auf die ich manchmal aufpasste. Hatte Jonathan ernsthaft behauptet, dass sie unsere kleine Schwester war? Er hatte Leonie angelogen, um sie noch mehr an ihn zu binden. Um sie noch mehr zu unterdrücken und auch noch ihre angeblich zweite Schwester zu bedrohen. So ein Mistkerl!
Ich musste den Irrtum unbedingt aufklären, auch wenn es mir im Herzen wehtat, Leonies Illusion zerstören zu müssen. Sie hatte sich über eine Schwester gefreut, die es gar nicht gab.
Leonie wollte gerade weiter fingern, als ich mich möglichst unauffällig wieder zu ihr vorbeugte. Ich ergriff ihre Hand, um sie zu stoppen. Dann legte ich meine Hand in ihre und fingerte langsam, sodass sie meine Handstellungen spüren konnte, um zu ertasten, was ich ihr sagen wollte.
„Wir haben keine kleine Schwester. Das auf den Fotos ist unsere Nachbarin. Ich passe manchmal auf sie auf."
Leonies Hand erstarrte. Einen Moment lang regte sie sich nicht. Dann zog sie sie plötzlich und ruckartig zurück.
Verdammt. Hättest du ihr das nicht irgendwie schonender beibringen können?
Leonie hatte weiß Gott genug mitgemacht. Wie verkraftete sie eine solche Nachricht? Konnte sie so etwas überhaupt verarbeiten? Ich hatte noch immer wenig Vorstellung davon, wie es in ihrem Inneren aussah. Zwar hatte ich nun in groben Zügen die Anfänge ihrer Geschichte erfahren, doch über ihr Innenleben hatte sie nicht allzu viel mit mir geteilt. Dafür war gar keine Zeit.
Was stellte meine Nachricht nun mit ihr an? Ich hasste es, dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, ihre traurigen Augen, ihren müden Mund. Veränderte sich etwas? Weinte sie?
Von hinten sah ich nur, wie sie reglos vor mir saß. Einige Minuten bewegte sie sich nicht und starrte nur geradeaus. Ich hätte mich gerne noch weiter vorgelehnt, um sie an der Schulter zu berühren. Um ihr Halt und Trost zu spenden. Doch das würde Jonathan bestimmt nicht gefallen. Also blieb ich, wo ich war, drehte unbehaglich mein schmerzendes Handgelenk in der Handschelle und wartete ab, was passierte. Vielleicht brauchte Leonie ja nur Zeit, um es zu verarbeiten, bevor sie ihre Hand wieder zu mir streckte, um sich weiter mit mir zu unterhalten?
Plötzlich kehrte Bewegung in ihren Körper ein. Intuitiv wollte ich meine Hand nach ihrer ausstrecken, als ich begriff, dass es nicht das war, was sie vorhatte. Bis ich es verstanden hatte, war es bereits zu spät. Ich schrie auf, starrte panisch nach vorn und klammerte mich mit der linken Hand am Haltegriff fest.
Leonie hatte sich ohne jede Vorwarnung auf Jonathan gestürzt und ihm ins Lenkrad gegriffen.
Wie in Zeitlupe verfolgte ich, wie wir von der Straße abkamen.
Dann blieb die Zeit vollkommen stehen.