Den Gedanken, Bogen und Kescher, die ich im Wald versteckt hatte, zu holen, verwarf ich schnell wieder, da ich nicht die Zeit für einen solchen Luxus hatte, außerdem wäre es nur sperriges Gepäck. Obwohl es eine Erleichterung zum Überleben wäre, um meine wenigen Münzen zu sparen und mein Essen selbst zu jagen - aber dann musste ich wohl mit Fallen arbeiten.
Für jeden Außenstehenden musste es wirken, als wäre ich Hals über Kopf aus meinem Leben geflohen und begab mich nun unüberlegt in die fremde Welt. Und das lediglich, weil ich keinen Fremden heiraten wollte.
Ich plante meine Flucht jedoch schon seit einigen Jahren, immer mit der anhaltenden Hoffnung, dass morgen der Tag sein wird, an dem ich sie antrat. Wie oft war ich im Wald unterwegs gewesen und war jedes Mal kurz davor, einfach noch einen Schritt und noch einen zu machen, immer weiter weg vom Cholís Anwesen. Jedoch musste ich mich jedes Mal zwingen umzukehren, denn ein impulsives Weglaufen wäre mein Tod gewesen. Deswegen waren meine Schritte zielsicher - ich wusste, wohin ich wollte und musste.
Die Sonne wanderte am strahlend blauen Winterhimmel immer weiter voran, während die Stunden an mir vorbei zu ziehen schienen. Ich wickelte den Mantel enger um mich herum, denn ich war schon seit zwei Stunden durchgefroren. Der Winter war nicht gerade ein optimaler Fluchtmonat. Meine Entschlossenheit sank jedoch nicht, stattdessen wurde ich weiterhin von dem herrlichen Gefühl der Unbeschwertheit beflügelt.
Die erste Nacht verbrachte ich in einem verlassenen Stall, in dem ich mich an einem Feuer wärmte und dabei aufpasste, nicht Ausversehen einen Großbrand mit dem trockenen Heu auszulösen. Ich kaute auf etwas Brot und Käse herum, sparte allerdings an den Rationen, um länger damit auszukommen. So nah wie möglich an die Feuerstelle zusammengerollt, schlief ich ein. Ein leichter, unruhiger Schlaf, denn jedes Knacken ließ mich aufschrecken und nach dem Küchenmesser greifen, das neben mir lag.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie gerädert, mein Magen knurrte und mein Rücken brannte wie Feuer. Es war eine Tortur und ich verfluchte meinen Onkel mit Worten, die jeden Seemann vor Scham hätten rot werden lassen, als ich mir in der grausamen Kälte die Verbände wechseln musste. Jetzt an einer Entzündung zu sterben wäre nämlich verdammt peinlich gewesen.
Ohne Einschränkung setzte ich meinen Weg fort und erreichte nach einem weiteren Tagesmarsch ein kleines Dorf, das in den Karten meines Onkels verzeichnet war. Möglicherweise bekam ich hier für wenig Geld ein Pferd, mit dem die Reise deutlich schneller und einfacher von statten gehen würde. Zudem könnte ich einen größeren Abstand zwischen mir, meiner Familie und Andrés schaffen.
Andrés.
Bei dem Gedanken an seine unendlichen Meeresaugen wurde mir warm, jedoch verbot ich mir sofort solch eine Reaktion. Dieser Mann hatte gewollt, dass mich mein Onkel ihm überlässt - als wäre ich ein Sack Getreide, auf das er Anspruch erhob. Und seine Reaktion beim Abendessen - er war wie ein wildes Tier.
Schon wieder einem unberechenbaren Monster ausgeliefert zu sein. Niemals wieder. Eher sterbe ich.
Ich betrat eine kleine Schenke, die nach Schweiß und Ale stank, jedoch von einer schönen Wärme erfüllt war. Beinahe seufzte ich auf, als die warme Luft mich umfing und langsam begann die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben. Der urige Raum war von einigen Gästen - Männer und vereinzelt Frauen - besetzt, die Karten spielten, lachten und tranken, wodurch eine lockere Atmosphäre herrschte. Meine Person fiel gar nicht auf, allerdings vermied ich es dennoch meine Kapuze abzusetzen, da ich den neugierigen und misstrauischen Blicken entgehen wollte.
Ich bestellte ein warmes Getränk, an dem ich mir beinahe die Zunge verbrannte, so schnell trank ich davon, damit ich ebenfalls von Innen gewärmt wurde. Die üppige Barfrau, die den Becher vor mir abstellte, musterte mich aufmerksam. Ich zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht, was ihr ein plötzliches Lachen entlockte.
"Kindchen, es gibt nichts, was du hier verstecken müsstest. Jeder Pferdearsch ist ansehnlicher als die Trunkenbolde hier - du sicherlich noch um einiges mehr", sprach die Frau mich an, die auf die grölenden Proteste der Männer nur mit einer zweideutigen Handgeste reagierte. Ich lachte leise in mich hinein und lockerte die Schultern, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie angespannt hatte.
"Da wäre ich mir nicht so sicher. Diese Männer könnten im Vergleich zu mir wie Prinzessinnen wirken", erwiderte und schob die Kapuze etwas hoch, um ihr in die Augen zu sehen. Ihr Blick fiel sogleich auf meine Narben, doch die schienen sie nicht zu kümmern. Sie war mir sogleich sympathisch, obwohl mir ein bedrückendes Gefühl im Magen lag.
"Kleine, neben dir wirkt jeder wie ein prolliger Gnom", schnaubte sie unglaubwürdig, weswegen ich schmunzeln musste. Unbewusst fasste ich mir an die Narben an meiner Wange, denn es fiel mir einfach schwer, das zu glauben. Immerhin hat mir mein Onkel immer eingetrichtert, dass ich eine schöne Katastrophe war.
Die Frau wandte sich wieder den anderen Gästen zu, die lautstark Nachschub verlangten, dabei konnte ich mich in Ruhe zurücklehnen, mein Getränk genießen und die Menschen beobachten.
Ein kahlköpfiger, großer Mann stieß seinem dürren Freund lachend den Ellenbogen in die Seite, der grunzend auf Abstand ging und sich die Stelle rieb. Eine schwarzhaarige Frau warf kichernd ihr Haar zurück und beugte sich mit klimpernden Wimpern näher an den dickbauchigen Mann heran, der seinen nächsten Krug Ale herunterkippte.
Ich war selten unter fremden Menschen und genoss das Gefühl, das Schauspiel beobachten zu können als würde ich einem Theaterstück beiwohnen. Dabei konnte ich den Gedanken, dass ich einen Ort zum Schlafen suchen musste, erstmal ausblenden.
"Was treibt dich eigentlich hier her, Kindchen?", riss mich die Barfrau aus meiner Beobachtung.
"Ich bin nur auf Durchreise. Ich möchte nach Dunhen und dort mein Glück versuchen", teilte ich einen winzigen Teil meines Plans mit der Fremden, dabei konnte ich mir mein Grinsen nicht verkneifen. Es war herrlich, selbst entscheiden zu können. Die Reise in die Großstadt wird mich zu Fuß noch eine Woche kosten, es sei denn -
"Weißt du, wo ich hier günstig ein Pferd erstehen kann?", wollte ich von ihr wissen, denn immerhin erfuhr sie in ihrem Job so einiges und kannte sicherlich jeden hier.
"Klar doch. Siehst du das Doppelpack dort drüben? Der Dürre hat einige ältere Pferde, die er schon lange loswerden möchte, der freut sich sicherlich über ein Geschäft", erwiderte sie, dabei folgte ich ihrem Blick erneut zu dem kahlen Mann und seinem dünnen Freund.
"Carlsen, komm mal her! Die junge Dame hier braucht ein Pferd", donnerte ihre kräftige Stimme durch den kleinen Raum.
Er zuckte zusammen, jedoch tappte er zusammen mit seinem gegensätzlichen Kumpel zum Tresen herüber und stützte die Unterarme auf das alte Holz. "Das junge Fräulein benötigt also ein Pferd - wie viel hast du denn zu bieten?", sein Atem stank nach saurem Ale, weswegen ich innerlich die Nase rümpfte. Die beiden wirkten vom Nahen recht schmierig.
Ich brauche aber ein Pferd. Reiß dich zusammen, an solche Menschen musst du dich gewöhnen.
"Ich kann dir drei Silbermünzen anbieten", handelte ich tief, immerhin waren seine Pferde scheinbar schon älter und er wollte sie los haben. Der Glatzkopf prustete in seinen Krug als er meinen Preis hörte und der Pferdebesitzer schüttelte den Kopf.
"So kommen wir nicht ins Geschäft, Kleine. Für drei Silbermünzen bekommst du allerhöchstens einen alten Esel aber kein gutes, stattliches Pferd", er lehnte sich näher zu mir, dabei konnte ich die tiefen Furchen seiner Pockennarben deutlicher erkennen.
"Ich lasse mir kein Pferd als gut und stattlich verkaufen, ohne es vorher gesehen zu haben", schnaubte ich und versuchte unauffällig den Abstand zwischen ihm zu vergrößern.
"Was? Vertraust du etwa meinem Wort nicht? Für wen hältst du dich...", steigerte sich der Mann hinein, dabei klatschte er mit der flachen Hand auf den Tresen. "Wenn du dich selbst darüber versichern willst, können wir sie uns gleich anschauen gehen", er packte meinen Arm und zog mich von meinem Hocker.
"Nein, vielen Dank. Ich glaube, ich brauche doch kein Pferd mehr", wehrte ich mich und spannte mich unter dem Griff an. Sein größerer Freund gesellte sich schwankend an meine andere Seite und ich spürte, wie er seine Nase gegen meine Kapuze drückte und einen tiefen Atemzug nahm.
Angewidert verzog ich das Gesicht und zerrte meinen Arm aus seiner Umklammerung, gleichzeitig stemmte ich die Fersen in den Boden, um sie daran zu hindern, mich weiterzuziehen. Ich griff in meine Tasche und umklammerte den Griff meines Küchenmessers. "Doch doch, Süße. Ich beweise dir, dass du an meinem Wort niemals zweifeln solltest. Es sind prachtvolle Exemplare", grummelte er.
"Jungs, was zum Teufel treibt ihr da...", mischte sich nun auch die Barfrau misstrauisch ein, dabei spürte ich, wie der kahle Mann seine Hand unter meinen Mantel schob und an der Tasche zerrte. wobei meine Münzen darin klimperten.
"Hörst du, Carlsen? Das Miststück hat noch viel mehr Münzen! Die wollte uns übers Ohr hauen", grölte er, dabei versuchte ich meinen Besitz am Riemen festzuhalten und vor seinem Gezerre zu schützen. Mein Puls raste mir in den Ohren, denn die beiden waren größer und stärker als ich. Das war mein zweiter Abend in Freiheit und ich war schon drauf und dran ausgebraubt zu werden.
"Lass verdammt nochmal los, du widerlicher Ochse", zischte ich wütend, dabei benebelte das Adrenalin den Schmerz auf meinem Rücken, der durch das grobe Ziehen ausgelöst wurde. "Wie hast du mich gerade genannt, du...", er wollte mich packen, da riss ich meinen Arm unter der Mantel hervor und zog ihm das Küchenmesser über das Gesicht.
Mit einem hässlichen Aufschrei stolperte der Mann zurück, der sich fluchend die Hände vors Gesicht presste. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Sein dürrer Kumpane starrte seinen blutenden Freund erschrocken an, bevor er sich mit einem wütenden Knurren auf mich stürzen wollte.
Ich hatte mich von dem Schreck schneller erholt als meine Angreifer und stürzte bereits aus der Schenke auf die dunkle Straße. Ich hörte ihre schweren Schritte und Rufe hinter mir, doch ich ließ mich nicht beirren. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich lief, jedoch ignorierte ich das Brennen in meiner Seite und hastet um die nächste Ecke.
Zwischen zwei Hütten quetsche ich mich in eine Lücke und presste mir die Hand auf den Mund, um mein lautes Atmen zu dämpfen. Ich wünschte, ich konnte auch mein Herz festhalten, damit es nicht so donnernd klopfte. Das Messer presste ich mir an die Brust.
Als ich hörte, wie die beiden näher kamen, kniff ich die Augen zu und betete zu allen Göttern, die mir einfielen. Die Gestalten rannten an meinem Versteck vorbei und stießen laute Flüche aus. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, wie ich in der Dunkelheit saß und darauf wartete, dass meine Verfolger vielleicht wieder kamen.
Mein Herz hörte auf zu rasen, das Adrenalin ließ nach und die Kälte drang langsam durch meine Kleidung, doch ich sagte mir, dass ich noch etwas länger warten würde - nur, um sicherzugehen.
Irgendwann traute ich mich zwischen den Häusern hervor. Ich blickte die Straße rauf und runter, ehe ich erleichtert die Schultern lockerte.
Das hast du dir gewünscht, Rhory. Jetzt musst du damit klar kommen.
Ich rieb mir das Gesicht ehe ich mich langsam auf den Weg machte, um mir einen halbwegs geschützten Unterschlupf zu suchen. Die Müdigkeit überfiel mich urplötzlich, sodass ich erst verzögert bemerkte wie sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte. "Haben wir dich, Schlampe."
Jede Faser meines Körpers spannte sich an als die schiere Panik meinen Körper flutete.
Ich sah meinen Onkel Redrik vor mir, der mit einem widerlichen Grinsen den Stock hob. Ich roch seinen heißen, stinkenden Atem an meinem Nacken. Ich spürte seinen alten, erregten Körper an meinem Rücken. Ich schmeckte die bittere Galle, die in mir aufstieg.
Da schaltete mein Verstand ab, mein Körper hingegen reagierte wie von einer fremden Macht geführt. Ich duckte mich unter dem Arm hinweg, wirbelte herum und rammte das Messer kreischend immer wieder in den Oberkörper des Angreifers. Die Kapuze rutschte mir vom Kopf. Ich spürte das warme, klebrige Blut an meinen Händen, in meinem Gesicht und auf meiner Kleidung, jedoch nahm ich es nicht wahr. Ich sah, wie mein Angreifer gurgelnd zur Boden ging, jedoch nahm ich es nicht wahr. Ich war blind vor Angst und Wut, dass nichts zu mir durchdrang - nicht einmal der Schmerz als eine Faust meine Wange traf.
Fauchend wie ein wildes Tier wirbelte ich herum und stürzte nach vorne. Carlsen schlug mir das Messer aus der Hand, doch das hielt mich nicht auf. Stattdessen kratzte ich ihm mit den Nägeln über das Gesicht und wollte zubeißen, als zwei starke, warme Hände meine Hüfte packten und mich von ihm weg zogen.
Ich schlug, trat und schrie in meinem Wahn um mich, doch derjenige hielt mich ruhig und sicher an seinen kräftigen Körper gedrückt. Seine tiefe, raue Stimme murmelte immer wieder in mein Haar: "Ich hab dich, Liebling. Ich hab dich."
Langsam begann die Welt um herum wieder zu mir durchzudringen, da war mein letzter Gedanke, bevor meinen Körper die Kräfte komplett verließen:
Wer war er?