"Was schreibt man da ganze drei bis vier Seiten?" wundert sich Selma verärgert. "Es tut mir Leid, Alfie. Aber dein Bruder ist ein Depp. Lässt dich erst ausfindig machen, von wegen er vermisst dich und was weiß ich, lässt dann ganze zehn Jahre nichts von sich hören und jetzt schreibt der, als wär nix gewesen? Ich mein, was bildet er sich ein?!"
"Der Brief war ned von Thomas." teilt ihr Alfred mit, ohne sie dabei anzuschauen. "Er ist von Hanna. Meiner Cousine."
"Was?" Es ist nicht ganz klar festzustellen, ob diese Information Selma nun noch mehr verärgert oder gar gänzlich verwirrt.
Emanuel überlegt. Er erinnert sich an keine Hanna.
"Und die muss hundert Seiten schreiben, um dir mitzuteilen, dass der Alte den Löffel abgegeben hat? Das wär doch auch anders gegangen, wir sind doch keine kleinen Kinder mehr, die sich ned trauen, einander ins Gesicht zu gucken, meine Herrn!" Selma fährt munter damit fort, sich über die Pichler Familie aufzuregen, sie kommt gerade erst so richtig in Fahrt.
Unterdessen greift Alfred nach dem Kuvert und zieht einen sorgfältig ausgeschnittenen Schnipsel heraus. Wortlos hält er ihn der plappernden Selma hin. Augenblicklich hält sie inne. "Was ist das?"
"Todesanzeige." bringt Alfred nur mit großer Mühe zustande. In wenigen Sekunden wird sich auch erschließen warum. Selma nimmt ihm die Anzeige aus der Hand und liest mit gerunzelter Stirn. Sie liest alles mehrmals durch. Es ist ein relativ kleiner, viereckiger Zettel, so viel Zeit dürfte das doch gar nicht in Anspruch nehmen.
Exakt genau so wie Alfred vorhin, hebt Selma jetzt die Augenbrauen, sie schaut Alfred entsetzt an. Emanuel schaut zwischen den beiden hin und her und platzt fast vor Ungeduld. Qamar scheint es ähnlich zu gehen. Sie hat sich von der Teekanne abgewandt und mustert ihre Freundin gespannt.
"Nein." sagt Selma klar wie ein Herbstmorgen. "Das haben die ned gemacht. Alfred, das ist ned deren Ernst."
Ja was denn?! Emanuel hat übel Lust, seinen Senf dazuzugeben, aber das wäre wohl unangebracht.
Ein angespannter Zorn scheint von Selma Besitz zu ergreifen. Mit zitternden Händen zerknüllt sie langsam das Papier. "Alfred, sag mir, dass das ein mieser Scherz ist."
"Was denn?" rutscht es Emanuel nun doch raus. Selma funkelt ihn an, jedoch nicht aus Missgunst ihm gegenüber, sondern weil sie allgemein schon derart von Zorn erfüllt ist.
"Sein Name steht ned dabei." teilt ihm Selma mit, faltet den Zettel wieder auf und hält ihn Emanuel entgegen, als ob er das von seiner Position aus wirklich lesen könnte. "Schau da. Alle seine Brüder sind aufgelistet, alle Onkel und Tanten und weiß der Kuckuck. Nur unser Alfred steht ned da!"
"Das..das ist doch sicher a Missverständnis." versucht Qamar Licht ins Dunkel zu bringen. Man sieht ihr aber an, dass sie sich das selbst nicht abkauft. Es ist nur das, was sie gern für wahr geglaubt hätte. Dass letztendlich alles nur ein Missverständnis war.
"Nah, das war mit Absicht so." meldet sich Alfred schweren Herzens zu Wort. "Hanna hat sich mit der Mama gestritten deswegen. Die wollte das so. Die wollten das alle so." Alfred schließt die Augen, wie um eine ihn plötzlich überkommende Müdigkeit zu ertragen, dann vergräbt er das Gesicht in den Händen. Emanuel sieht das alles mit an und hat das Gefühl, gerade zum zweiten Mal gestorben zu sein. Das erste Mal hat sich nicht ansatzweise so grausam und schmerzhaft angefühlt.
"Dieses biestige Teufelsweib." knurrt Selma hasserfüllt vor sich hin. "Die eigene Mutter. Das eigene Kind...wie kann man denn...das eigene Kind?" Sie schüttelt den Kopf, scheint an ihre eigene Mutter zu denken und schüttelt wieder den Kopf. "Die ganze Bagage war schon immer so ein übler Haufen. Diese scheinheiligen, falschen, hinterfotzigen Mistkerle. Die sollen mir einmal über den Weg laufen..."
Alfred legt den Kopf auf die verschränkten Arme. Er gibt keinen Ton von sich, aber seine Schultern beben leicht. Selma eilt sofort zu ihm hin, nimmt neben ihm Platz und umarmt ihn so fest sie kann. "Es tut mir so Leid, Alfie. So Leid. Alles wird wieder gut, mein Schatz, ich versprech's dir. Da schaffst du's auch noch durch."
Sie ist wirklich eine unglaublich gute Freundin. Emanuel kommt sich vollkommen nutzlos vor. Man erkennt sofort, dass Selma und Alfred etwas sehr altes verbindet. Etwas, das stärker und langlebiger ist als jede leibliche Liebe.
Er sieht hinüber zu Qamar, die dort bei der Küche steht, offensichtlich den Tränen nahe und von der Situation völlig überfordert. Auch sie klettert jetzt von der anderen Seite auf die Eckbank und legt Alfred traurig den Kopf auf die Schulter. Zu dritt bleiben sie so sitzen, während Emanuel im Abseits verweilt.
Nach einer Weile hebt Alfred den Kopf. "Ich werd hingehen."
"Mach das lieber ned!" versucht Qamar ihm das auszureden. "Du bist so schon genug gequält."
"Wenn ich du wär, würd ich dort aufkreuzen und einen Sauladen anfangen, der sich gewaschen hat." meint Selma. "Aber du bist halt ned ich, sondern du, und damit will ich sagen, dass Qamar recht hat und du am besten hier bleibst."
"Hanna hat geschrieben, dass sie auch kommt und sich zu mir stellt." berichtet Alfred. "Ich bin dann nicht mal allein."
Selma seufzt ergeben. "Alfie, mach dir doch nix vor-"
"Ich kann mitgehen." fällt ihr Emanuel prompt ins Wort. Er hat das nicht mal geplant, es war einfach wie ein Reflex. Alle Blicke richten sich auf den Dämon, dem wohl entfallen war, dass er momentan nur als Kulisse herhält.
"Du?" Selma mustert ihn kritisch. "Weiß ned, wie mich das trösten soll."
Emanuel kämpft noch mit dem Drang, etwas freches zu kontern, da kommt ihm Alfred zuvor. "Sei ned so bös zu ihm, Selma. Er meint's nur gut."
"Ja eben." bestätigt Emanuel selbstzufrieden. "Macht doch am meisten Sinn. Im Gegensatz zu euch hab ich keine Verpflichtungen und weiß beim Teufel nix mit mir anzufangen. Damit wär ich der perfekte Chauffeur."
Selma winkt mit heftigen Gesten ab. "Neinneinnein! Du fährst nicht. Alfred fährt." stellt sie klar und wendet sich zur Sicherheit noch einmal direkt an Alfred. "Du lässt diesen Frischluftdepperten* auf keinen Fall ans Lenkrad, hearst du?"
Emanuel verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust. "Ich war nie ein schlechter Fahrer."
"Dein tolles Fahrtalent war übrigens auch das, was dich umgebracht hat." erinnert ihn Selma im selben Tonfall, in welchem Obelix oftmals daran erinnert wird, dass er ja als Kind in den Zaubertrank gefallen war.
"Jetzt bitte ned streiten." meint Alfred flehentlich. "Das ertrag ich jetzt ned."
Selma und Emanuel klappen beide den Mund zu, aber wechseln noch einmal feindselige Blicke untereinander.
Die Autoreifen knirschen Stunden später über den feinen Kies, der über dem vereisten Parkplatz verstreut liegt.
Alfred schaltet den Motor ab und das Surren des Autos erstirbt mit einem Mal. Eine ganze Weile bleibt er noch sitzen und starrt einfach geradeaus. Emanuel rutscht unsicher auf den Sitz herum. "Soll ich mitkommen?"
"Nein." sagt Alfred und so ausdrücklich hat er zuvor noch nie etwas verneint. Deshalb klappt Emanuel den Mund sofort wieder zu und wartet, bis Alfred aus dem Wagen gestiegen ist und die Tür hinter sich zuschlägt.
Weiter vorne führt ein gepflasterter Gehweg an einer Hecke vorbei. Dahinter sieht man einen Kirchturm, der zwischen nackten, knorrigen Bäumen durchguckt. Eine Frau bleibt unten stehen,
als Alfred mit angespannten Schritten auf sie zu geht. Sie gehen gemeinsam den Weg hoch, und sind bald hinter der Hecke verschwunden.
Emanuel hat sich nun fürs erste selbst zu beschäftigen. Irgendwann gibt es keine Neuankömmlinge mehr, die aus ihren Autos steigen und die man so unauffällig wie möglich durchs Fenster beobachten kann. Aus Langeweile durchsucht Emanuel das Handschuhfach. Er schaut sich Alfreds Führerschein an und bewundert das Foto. Er schiebt eine Kassette nach der anderen ein, aber nach fünf Strauss-Walzern und einem halben Tschaikowski-Ballett hat er genug und schaltet das Radio wieder ab. Der Brief von Cousine Hanna steckt noch im Seitenfach. Emanuel kann der Versuchung noch eine ganze Weile widerstehen, bevor er bäuchlings über den Fahrersitz robbt und den Brief an sich reißt.
Mein guter Alfred, Jetzt bitte net erschrecken!
Kein guter Anfang, findet Emanuel. Mit sowas macht man dem Leser doch erst recht Sorgen. Hanna schreibt sehr eng, als müssten sich die Buchstaben dicht aneinander drängen, um sich vor der Kälte zu schützen. Zudem schreibt sie wild durcheinander, springt in ihren Erzählungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her und schweift immer wieder ab, bevor sie zum Punkt kommt. Trotzdem gelingt es Emanuel problemlos, ihr zu folgen. Seine Gedanken sind immerhin auch nie wirklich geordnet. Hanna schreibt, dass sie Alfreds Adresse nicht von Thomas, sondern von irgendeiner Anna bekommen hat. Emanuel hat keine Ahnung, wer diese Anna ist. Wahrscheinlich dem Thomas seine Freundin.
Sie hat übrigens noch all deine Bilder, die du früher für sie gemalt hast. Kein einziges davon ist ihr abhanden gekommen. Bei dir hat man immer gewusst: Wenn du freiwillig für einen gemalt hast, war das ein großer Liebesbeweis.
Ein großer Liebesbeweis. Emanuel weiß genau, dass er bereits gezeichnet worden war, allerdings nie für ihn. Zuerst verspürt er leichte Enttäuschung, aber dann dämmert ihm allmählich etwas. Alfred malt für Geld, es kam seitdem sie sich kannten nie vor, dass er Leuten Bilder schenkte, um seine Zuneigung auszudrücken. Emanuel hat vielmehr den Eindruck, Alfred würde seine Bilder lieber vor den Augen der Außenwelt versteckt halten und im Keller verschanzen. Früher muss das wohl anders gewesen sein und dann hat sich irgendwann einmal etwas geändert. Vermutlich durch den akademischen Leistungsdruck.
So langsam wird diese Hanna dem Dämon immer sympathischer. Sie hat mit Alfreds Mutter gestritten und bezeichnet seine Brüder an mehreren Stellen als Rasselbande, Esel und Waschlappen. Diese Frau nimmt kein Blatt vor den Mund. Zugegeben, Emanuel hatte lange in der Überzeugung verweilt, dass Alfreds Familie ausnahmslos aus spießigen Volltrotteln besteht. Doch die Hanna ist auf Zack.
Die Hannelore hat jahrelang unter ihrem Mann gelitten. Deswegen ist sie abgestumpft. Aber sie ist immer noch deine Mutter. Dass sie dich jetzt einfach aus allem rausradiert, ist so derart verbittert und kindisch, dass es mich schier zur Weißglut treibt.
So dumm ist die ja gar nicht! Emanuel legt den Brief wieder weg. Abgestumpft. Seine eigene Mutter war auch abgestumpft. Allerdings muss das schon lange vor Emanuels Geburt passiert sein.
Er steigt aus dem Wagen, um sich die Beine zu vertreten. Draußen zündet er sich eine Zigarette an. Alfred würde wieder schimpfen, wenn er ihn beim Rauchen erwischt, aber das muss jetzt sein.
Emanuel hat nicht gewusst, dass man zu Cousinen eine enge Beziehung haben kann. Er selbst hat zwar keine, aber seiner Auffassung nach sind das doch meist nur irgendwelche schrägen Kinder, mit denen man rein zufällig verwandt ist und sonst nicht viel zu tun hat.
Emanuel zieht rauchend seine Kreise auf dem Parkplatz, als er daran denkt, dass Alfred genau wie er kein gutes Verhältnis zur Mutter pflegte und dennoch waren es hauptsächlich Frauen, die den Buben großgezogen und ein liebevolles Auge auf ihn gehabt hatten, während ihn die Männer der Familie im Stich ließen. Emanuel bleibt stehen und überlegt.
Es gibt gute Gründe, warum sich Alfred hauptsächlich mit Frauen anfreundet. Es beruht auf Vertrautheit.
Als er Alfred von weitem wieder anspazieren sieht, wirft Emanuel die Kippe von sich weg und begibt sich in Windeseile zurück auf den Beifahrersitz. Alfred steigt ein und legt die Hände ans Lenkrad. Das ist erstmal alles, was er macht.
"Du weißt doch, dass ich's ned leiden kann, wenn das Auto nach deinen Zigaretten stinkt." sagt er, ohne Emanuel dabei überhaupt anzusehen. Vielmehr lässt einen seine Blickrichtung vermuten, es sei die Autohupe, die ihr Rauchverhalten überdenken sollte.
Emanuel gibt ihm keine Antwort, da ihm keine einfällt. Lange sitzen sie beide stillschweigend nebeneinander. Man hört Alfred einmal tief durch die Nase atmen.
"Warum ham's mich ned gleich mit verscharrt."
"Schmarrn." fährt ihm Emanuel sofort ins Wort. "Schwatz ned so'n Kas."
"Mmh." macht Alfred, als würde er über etwas lachen wollen, nur gäbe es keinerlei Grund dazu. Er fokussiert sich weiter auf die Mitte des Lenkrads, wobei seinen Augen abzulesen ist, dass sich sein Blick vielmehr etwas innerlichem, weltfremden widmet. Emanuel wird plötzlich ganz unwohl.
"Weiß der Teufel wie ich das fast achtzehn Jahr lang ausgehalten hab." redet Alfred vor sich hin. "Für die existier ich gar nicht mehr. Ich bin rausgestrichen, ausradiert, Schnee von gestern."
Langsam schüttelt er den Kopf. Völlig unerwartet sieht er Emanuel an, welcher sofort erkennt, wie nahe der Freund den Tränen ist. "Vier Söhne soll er g'habt haben. Vier." fährt Alfred fort und zeigt die Zahl mit den Fingern. "Hat der Pfarrer g'sagt. Vier Söhne hatte der Herr Doktor Johann Pichler. Na wenn der das sagt, dann stimmt's wohl."
Emanuel bekommt gar nicht erst genug Zeit, überhaupt den passenden Gesichtsausdruck aufzusetzen, da schaut Alfred schon wieder weg durch die Windschutzscheibe.
"Ich hab geschworen, ich spuck ihm aufs Grab. Ich spei in das verdammte Loch rein. Ich war mir so sicher. Aber ich hab's ned gemacht. Warum ned? Warum stand ich stattdessen davor und hab geweint? Nie mehr hab ich wegen ihm auch nur eine Träne vergießen wollen. Keine einzige. Das wollte ich dem nicht gönnen."
Er presst tapfer die Lippen aufeinander und schluckt einmal.
"Und dann sie." Jetzt klingt seine Stimme weinerlich. "Sie steht ganz vorne und plärrt. Als ob er ein guter, lieber Ehemann g'wesen wäre, als hätt er sie nicht immer angeschrien und gezüchtigt wie ein unartiges Kind, als hätt er sie nicht im Suff ein zwei Mal zusammengeschlagen. Und sie ging auf jeden zu, sie hat jeden umarmt, nur an mir ging sie vorbei. Sie ging vorbei und weißt, was sie g'sagt hat? Abend, Alfred. Es ist Nachmittag! Anscheinend ist sie jetzt schon dement, aber das war sie ja früher schon, sie hat mich früher schon immer am liebsten vergessen woll'n."
Alfred redet sich in Rage, er kann gar nicht mehr aufhören. All die Wut und Frustration der letzten vierunddreißig Jahre sprudelt nur so aus ihm heraus, als sei sie die ganze Zeit über in ihm eingeschlossen gewesen und nun hatte jemand den Stöpsel gezogen. Emanuel befürchtet, dass er einen Nervenzusammenbruch erleiden wird und trotzdem unterbricht er Alfred nicht. Er hätte keine Ahnung, womit er ihm ins Wort fallen könnte. Man wird selten auf solche Dinge vorbereitet.
Verkrampft klammert sich Alfred an das Lenkrad, als könne ihn sonst der nächste Wind fortreißen.
"Ich weiß doch, ich weiß es doch, dass es heißt, du sollst Vater und Mutter ehren. Aber ich kann's ned, ob man mir dafür nun vergeben will oder ned, es geht nicht!" beteuert Alfred verzweifelt und Emanuel streckt zögerlich die Hand nach ihm aus, ohne zu wissen, wohin damit.
"Ich kann diesen Mann nicht lieben, es geht nicht. Ich hasse ihn. Jawohl. Ich hass ihn wie die Pest. Manchmal wollt ich ihm den Schädel einschlagen, bis er platzt. So sehr hab ich ihn gehasst." beichtet Alfred verbissen. "Ich weiß, das ist schlecht."
"Du hattest allen Grund dazu." meint Emanuel und das Geräusch seiner eigenen Stimme kommt ihm irgendwie ganz fremd vor.
"Mir ist so elend..." jammert Alfred wie unter Schmerzen. "Ich weiß nicht mal warum. Ich dachte immer, wenn der irgendwann mal stirbt, bin ich der glücklichste Mensch auf Erden." Er lässt seine Hände in den Schoß fallen. "Und jetzt? Warum heul ich jetzt? Hab ich mir was erhofft? Dass er kurz vor knapp nochmal zu Sinnen kommt? Irgendwie kapiert, wie sehr er uns allen weh g'tan hat? Vielleicht war ich echt so naiv. Jetzt liegt er unter der Erde."
Ergeben schließt er die Augen und versucht ein Schluchzen zu unterdrücken. "Weißt, was das schlimmste ist? Ich..ich dachte immer...wenn ich mal erwachsen bin, dann wird alles einen Sinn machen. Dann würd ich soweit sein, meinem jüngeren Ich, könnte es mir gegenüberstehen, erklären zu können, warum das alles passiert ist. Warum der Papa das gemacht hat. Warum uns niemand gerettet hat...nicht Gott und auch nicht die Mama.."
Das Gewicht dieser Worte liegt ihm tonnenschwer auf den Schultern. Die Erkenntnis, dass alles einfach passiert war und kein größeres Ziel beabsichtigt hatte, brennt Alfred auf der Haut wie tausend giftige Bisse. Lange Zeit hatte er sich erhofft, dass ihn all das hätte stärker machen müssen. Irgendeine darauf aufgebaute gute Eigenschaft würde ihn irgendwann einmal für all das entschädigen. Doch die Entschädigungen blieb aus. Nichts steckt hinter all dem. Es gibt keinen größeren Sinn oder Absicht oder Lehre, die sich daraus ziehen lässt.
Alfred wird damit leben müssen, dass er der Kollateralschaden einer generationenübergreifenden Geisterfahrt ist.
"Warum hat sie mich allein gelassen?" wispert er vor sich hin. "Warum? Warum, warum, warum. WARUM?!" Mehrmals haut er mit voller Wucht auf das Lenkrad. Emanuel zuckt unwillkürlich zusammen.
"Ich war doch ihr Kind...Er hat ihr weh getan, ned ich! Jetzt will sie mich nicht mehr kennen. Wieso tut sie mir das an? Warum...warum macht sie das mit mir??" Alfred bricht innerlich in sich zusammen. Er fängt an zu weinen, so wie er es vielleicht als Fünfjähriger zuletzt getan hatte und Emanuel lässt ihn einfach.
Es ist wie Hanna geschrieben hat. Hannelore Pichler ist über die Jahre abgestumpft. Hat vermutlich aus Selbstschutz dicht gemacht und konnte nicht mehr über die von kognitiver Dissonanz hochgezogenen Mauern blicken und erkennen, dass ihr Ehemann ein grausamer Mensch gewesen war. Manche Opfer werden selbst zu Tätern. Doch all diese Weisheiten behält der Dämon für sich. Sie wären ohnehin völlig unangebracht, denn sie würden Alfred kein Stück weiterhelfen.
Als sich Alfred langsam wieder beruhigt, sieht man schon wieder einzelne Besucher der Beerdigung den Friedhof verlassen und auf ihre jeweiligen Autos zulaufen. Emanuel beobachtet die Schatten ihrer Bewegungen.
Alfred liegt mit dem Kopf auf dem Lenkrad. Er weint nicht mehr, er zieht nur alle paar Minuten die Nase hoch und schaut lustlos irgendwo ins Nichts. Emanuel legt ihm die Hand in den Nacken. Mit dem Daumen streichelt er Alfred über das Haar. Alfred schließt die Augen und lässt die Berührung über sich ergehen. Eine Zeit lang ist es angenehm ruhig.
"Es tut mir Leid. Ich bin ausgerastet." murmelt Alfred in die Stille hinein.
"Scht." macht Emanuel sanft. "Du bist so tapfer."
"Nein, bin ich ned." sagt Alfred bestimmt. "Ich bin kaputt und hundemüde."
Er rekelt sich etwas, ändert jedoch nichts an seiner Position. "Weißt, manchmal frag ich mich, was von mir übrig bleiben würde, wenn man all das hier aus mir raus saugt. Den ganzen Schmerz und den Kummer und die Wut. Und egal wie viel Hoffnung ich mir mache, letztendlich und vor allem jetzt wird mir klar: Nichts. Absolut nichts wär übrig. Ich bin nichts als mein Elend." Seine Stimme bricht ab und erneut kommen die Tränen.
"Du bist mehr als nur dein Elend." sagt Emanuel endlich.
Alfred spürt seine Lider schwer werden. Er sieht aus, wie der müdeste Mensch der Welt.
"Was war mit deiner Cousine?" hakt Emanuel unsicher nach.
"Sie hat meine Hand gehalten." sagt Alfred leise und schließt die Augen. "Sie wollt mich einladen, aber...Ich konnte ned zusagen. Ich hab gesagt, ich muss wieder weg."
"Also fahr'n ma heim?"
"Ich mag ned heimfahren." murmelt Alfred erschöpft, als sei allein der Gedanke eine Qual. "Ich glaub, ich pack das ned."
Emanuel schaut sich im Auto um und scheint nach einer Art plötzlichem Geistesblitz Ausschau zu halten. Es muss einen Weg geben, die Kontrolle wiederzuerlangen, die ihm vor wenigen Tagen von Hannas Brief so brutal aus den Händen gerissen wurde.
"Du ähm...sag mal, was hältst du davon, wenn wir heut mal irgendwas schräges machen?" fällt ihm als erstes ein.
"Mmh?" Alfred hängt da wie ein Schluck Wasser. Emanuel spürt tief in seinem Inneren ein mächtiges Gefühl der Überzeugung anschwellen.
"Denk mal darüber nach, Mann. Klar, dein Alter schaut jetzt die Ribisln** von unten an und wie du schon sagtest: Sein Arsch verdient es nicht, betrauert zu werden. Und da wir ihm ned auf's Grab spucken können, warum also ned stattdessen feiern?"
Alfred schlägt die Augen auf. "...feiern?"
"Ja!" Emanuel merkt, wie er vor Aufregung zappelig wird. "Der Tag ist noch lang! Wie wär's, wenn wir einfach ganz spontan irgendwas ganz verrücktes machen? Was Exotisches essen, auf'n Kuhzaun pissen oder ne Bank ausrauben? Wir treiben's richtig bunt und dann reiben wir's dem Alten schön unter die Nase, dass er sich sowas inzwischen abschminken kann."
Alfred legt die Stirn in Runzeln. "Ich glaub, der Josef hat sowas mal gemacht."
"Was? A Banküberfall?"
"Nein." sagt Alfred. "Auf'n Kuhzaun gepisst. War ned schön."
"Okay, dann halt was anderes." meint Emanuel. "Hey, wenn'st schon daheim bist, dann nutz es doch aus!
Alfred schweigt eine ganze Weile, wobei nicht ersichtlich ist, ob er nun überlegt oder einfach aus Prinzip geradeaus starrt. Endlich sieht er Emanuel wieder an, er blickt in erwartungsvolle und von leichter Besorgnis erfüllte, kakaobraune Augen und dann macht Alfred plötzlich die Handbremse los. "Okay, machen wir's." sagt er und das kommt sehr plötzlich, es wirft Emanuel völlig aus der Bahn.
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* abwertend für Wiener
** die Ribisln von unten anschauen: tot sein, sterben (die Johannisbeeren von unten besehen)