A D E L I N E
Gelangweilt sitze ich in der letzten Vorlesung für heute und verliere mich abermals in meinen Gedanken. Der Professor redet monoton vor sich hin, und ich kann es kaum erwarten, bis endlich die erlösende Glocke den Raum durchschneidet und mich in die Freiheit entlässt.
Na ja... ganz frei bin ich dann immer noch nicht. Denn sobald ich hier raus bin, muss ich mich um die bevorstehende Rede meiner Präsentation kümmern, die immer näher rückt. Mein Bauch kribbelt vor Aufregung, so wie immer, wenn ich daran denke.
Ich will mich gerade wieder in meine Kritzeleien vertiefen, um nicht weiter daran zu denken, als eine Glocke ertönt. Allerdings nicht die gleiche, die mich normalerweise befreit.
Verwirrt kommen wir alle zur Ruhe, auch der Professor, bei dem ich dachte, dass er nie aufhören würde zu reden.
Doch als ich nur die ersten drei Worte meines Direktors durch die Sprechanlage höre, rutscht mir mein Herz in die Hose.
„An Mrs. Morgan: Sie werden gebeten, sich unverzüglich im Universitätsbüro zu melden."
Und als würden nicht schon alle Augen auf mich gerichtet sein, wird es wiederholt: „Mrs. Morgan, bitte begeben Sie sich umgehend zum Universitätsbüro. Vielen Dank."
Ich stehe mit rasendem Herz und zusammengezogenen Brauen in der gleichen Sekunde auf.
Ich versuche, die Blicke, die von rechts, links, hinten und vorne auf mich treffen, zu ignorieren, quetsche mich durch die enge Reihe und wispere entschuldigend, als ich glaube, jemandem auf die Füße getreten zu sein.
Ohne ein weiteres Wort verlasse ich den Raum und beginne nahezu zu rennen, da das Büro so gut wie am anderen Ende der Universität liegt.
Scheiße, was habe ich getan? Und was ist so wichtig, dass es nicht einmal die letzten Minuten der Vorlesung warten kann?
Schwitzend überlege ich fieberhaft, was ich verbrochen haben könnte, dass der Direktor mich so dringend sehen will.
Verdammt, in all den Jahren wurde ich nicht ein einziges Mal in sein Büro gerufen.
Meine Schritte hallen durch die leeren Flure, und die Nervosität in mir wächst mit jedem Schritt, bis ich vor dem Büro stehe. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, und mich selbst verwirrt es. Was soll schon Schlimmes passieren?
„Es kann nichts Schlimmes sein, Adeline. Du hast nichts getan", flüstere ich mir selbst irritiert zu und klopfe, bevor ich es mir doch anders überlege.
Ich zähle bis zwei, wenn keiner was sagt, dann-
„Kommen Sie rein!"
Mist!
Langsam drücke ich die Türklinke runter. „Kommen Sie rein und schließen Sie die Tür", sagt mein Direktor, mit dem ich die letzten drei Jahre kein Wort gewechselt habe.
Wie mir gesagt wird, schließe ich die Tür und drehe mich wieder zu ihm. Vom Augenwinkel aus sehe ich, dass ein Mann vor ihm an dem Tisch sitzt, allerdings kann ich ihn nicht erkennen. Ich glaube, er hat überhaupt nicht vor, mich anzuschauen.
„Setzen Sie sich doch, Mrs. Morgan." Der alte Mann zeigt auf den zweiten Stuhl vor seinem Tisch, und ich schlucke, während ich im Schneckentempo auf ihn zusteuere. Ehe ich mich jedoch hinsetze, dreht der dunkelhaarige Mann seinen Kopf in meine Richtung.
Alles in mir erstarrt. Ich höre und sehe plötzlich nichts mehr um mich herum, außer meinem gefährlich langsam pochenden Herzschlag und dem hellen Farbverlauf in seinen Augen.
Sonst nichts.
Rein gar nichts.
Wie als wäre alles verstummt.
Nein, nein, nein!
Es ist das gleiche Braun, das mich die vergangenen vier Jahre schweißgebadet aufwachen ließ. Und das gleiche Grün, das mich tröstend umarmte, als mir bewusst wurde, dass es nur ein Traum war.
Und nun sind sie hier. Vor mir. Hell und strahlend. Doch das Wichtigste ist, dass sie keine Einbildung, kein Traum und keine Vorstellung sind. Sie sind hier. Er ist hier.
Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter, als es mir bewusst wird, und ich blinzle erschrocken.
Mit einer heftigen Wucht sehe und höre ich wieder alles um mich herum. Tief hole ich Luft, da ich sie die vergangene Zeit über angehalten hatte, und erst jetzt bemerke ich, dass mich Mr. Haperson einige Male gerufen hat.
„Alles okay bei Ihnen?", fragt mich mein Direktor. Und am liebsten würde ich ihm ein dickes fettes „Nein!" entgegenschreien, doch stattdessen nicke ich und versuche die aufkommenden und unerklärlichen Tränen wegzuscheuchen.
Na ja... erklärlich sind sie schon. Oder?
In meinem Kopf ist ein Haufen Fragen. Angefangen bei der Frage, was er hier macht. Und in dem Moment, wo ich ihnen keine Beachtung schenke, wird der Haufen größer. Von dem Gefühlschaos ganz abgesehen, denn ich glaube, sie werden mich jede Sekunde in ihren Strudel mitziehen. Vielleicht wäre das auch gut so.
Da mich die beiden Männer nun erwartungsvoll und ein wenig irritiert mustern, gehe ich mit wackeligen Beinen den letzten Schritt auf den Sessel zu und setze mich hin. Wobei ich nicht ganz verstehe, weshalb er so verwirrt schaut. Dachte er, ich würde Luftsprünge machen und ihn um den Hals fallen?
Nein, das dachte er sicherlich nicht, Adeline.
"Also, Mrs. Morgan, hier liegt ein kleines Problem vor, das sicher nur ein Missverständnis ist."
Ich höre den alten Mann nur nebenbei, weil meine Aufmerksamkeit ganz allein seinen Augen gilt.
In all den vergangenen Träumen haben sie nie mit mir reden wollen. So, als hätten sie mich nur von Weitem still beobachtet. Ich konnte weder Worte noch Emotionen von ihnen lesen, doch nun kann ich es. Sie sprechen mit mir, und ich kann so vieles sehen. Allerdings ist hier nur eine Sache, die mir den Schweiß hochtreibt. Es ist, als würden sie sich nicht wundern, dass ich hier bin. Als hätten sie mich erwartet.
"Mr. Harris behauptet, dass das Bild, das sie für ihre Abschlussprojekt benutzten, geklaut sei."
Wie vom Blitz getroffen schaue ich mit aufgerissenen Augen zu Mr. Haperson. Wie bitte, was? "Geklaut? Ich-ich habe gar nichts geklaut", antworte ich ihm stotternd in der gleichen Sekunde. Tief ausatmend schaut er zu Aiden, was ich ihm nachtue. Dieser allerdings sagt nichts. Stattdessen betrachtet er mich, während er seine Hände ineinander faltet. Meine knete ich nervös.
Hör auf, nervös zu sein! Das macht dich verdächtig.
Räuspernd entferne ich meine Hände und will erneut etwas sagen, als Mr. Haperson mir das Wort nimmt. "Er hat das Bild vor einigen Tagen gesehen und ist sich sicher, dass sie es ihm gestohlen haben", erzählt er weiter, und meine Lippen trennen sich voneinander.
Was redet er denn da? Ich kann ihm doch gar nicht das Bild gestohlen haben. Das Ding klebt an seiner Haut. Ich habe mich gerade mal inspirieren lassen.
Oder so...
"Hat er Ihnen Beweise dafür vorgelegt?", frage ich, wobei meine Stimme diesmal etwas leiser klingt. Und erneut verschwimmt meine Sicht.
Bitte, hast du ihm nicht deine Brust gezeigt.
Bitte, bitte, bitte.
An seinem Gesichtsausdruck erkenne ich ganz klar ein Nein. Doch als ich zu Aiden rüberschaue, sehe ich ihn plötzlich schmunzeln. Ein ungutes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Das darf er jetzt nicht machen. Nicht jetzt. Nicht nach all diesen Jahren.
"Nein, tatsächlich nicht. Wollen Sie sich dazu äußern, Mr. Harris?"
Wie als wäre das hier ein Starrwettbewerb, will er nicht wegsehen. Ich entscheide mich dafür, meine Hände unter meine Beine zu drücken, da ich sie wieder zueinander führen will.
So gut es geht, versuche ich diesen Augenkontakt zu halten, jedoch weiß ich nicht, ob ich es schaffe. Denn mit jeder verstreichenden Sekunde erinnern mich seine Augen immer mehr an die Vergangenheit. An die schönen, als auch an die schlechten Momente. Die beängstigenden Momente.
Eine Gänsehaut übersät meine Arme, und erneut halte ich unbewusst den Atem an, als seine Stimme den Raum füllt.
"Du weißt, ich kann es ihm beweisen. Hier und jetzt könnte ich es ihm beweisen."
Mein Herz schlägt so heftig gegen meine Rippen, dass es schon anfängt zu schmerzen. Und selbst während meine Hände eingequetscht zwischen meinen Beinen und dem Stuhl sind, spüre ich sie leicht beben.
"Ich bitte Sie darum", höre ich den Direktor sagen, und ich weiß nicht genau, wovor ich gerade wirklich Angst habe. Davor, meinen Abschluss nicht zu bekommen oder vor Aiden, der mich so anschaut, als würde er mich dafür gerade umbringen wollen.
Wäre zwar nicht das erste Mal, aber-
Klappe!
Erwartungsvoll hebt er die Brauen, doch ich zucke nur mit den Schultern. "Nur zu."
Auch weiß ich nicht, woher ich plötzlich diesen Mut habe, aber ich setze gerade meine ganze Zukunft aufs Spiel.
"Ich habe erstmal eine Frage", sagt er und schaut vermutlich zum ersten Mal in diesem Gespräch zu Mr. Haperson. "Sie sagten, es sei ein Projekt? Wie genau kann ich mir dieses Projekt vorstellen?" Seine Skepsis auf dem Gesicht lässt mich die Zähne fest zusammenbeißen. Aiden weiß ganz genau, worum es hier geht. Er wartet nicht erst, bis jemand es ihm erklärt.
"Das Abschlussprojekt heißt: 'Kunst in Worte verwandeln.' Die Studenten sollen über dieses Semester ein bedeutungsvolles Bild malen oder zeichnen und im Anschluss eine Rede darüber halten. Sie sollen ihre künstlerischen Entscheidungen, Emotionen und die beabsichtigte Botschaft hinter dem Kunstwerk erklären."
Während mein Direktor Aiden genau erklärt, worum es hier geht, beobachte ich ihn leise von der Seite. Er hat sich über die Jahre nicht ganz verändert, aber der Bart ist mir von dem ersten Augenblick an aufgefallen.
"Das hört sich doch interessant an", sagt er und erwischt mich nun beim Starren. Etwas verlegen schaue ich zu meinen Füßen und hoffe, dass ich einfach nur gehen kann. Seine Präsenz erdrückt mich. Wenn ich mich nicht irre, dann ist sie sogar spürbarer als damals.
"Und um was wird es in deiner Rede gehen?", fragt er. Ich habe nicht vor zu antworten.
"Lass mich raten..." Er schaut nach oben und legt dabei seine Finger an das Kinn, als würde er angestrengt überlegen. Für ihn scheint Mr. Haperson gar nicht in demselben Raum zu existieren. "Es geht um Angst", beginnt er. "Oder vielleicht um Tod?" Aiden ist verärgert. Oh, er ist sowas von verärgert.
In eisigem Schweigen verharre ich, während er mich unentwegt anstarrt. Die Spannung im Raum ist so deutlich, dass Mr. Haperson schließlich innezuhalten scheint. Und auch mir liegt die Spannung schwer wie ein Stein auf meiner Brust.
Es ist, als ob die Zeit eingefroren wäre, während die Wahrheit unausgesprochen zwischen uns hängt.
Ohne auf sein Gesagtes einzugehen, stehe ich auf. „Mr. Haperson, falls es irgendwelche Beweise für meinen Diebstahl gibt, lassen Sie es mich wissen. Doch ich sehe gerade keinen Grund hier zu bleiben, entschuldigen Sie mich." Ebenso warte ich nicht darauf, dass der alte Mann etwas erwidert, und ich drehe mich um und verschwinde aus dem Raum.
Ich hoffe, dass keiner von beiden das Zittern in meiner Stimme gehört hat.
Ich weiß zwar nicht in welche Richtung ich laufe, doch mir ist es völlig egal. Ich möchte einfach nur weg von hier. So weit weg wie möglich.
„Was macht er hier?", flüstere ich mir selbst zu und stelle mich an das Geländer. Fest kneife ich die Augen zusammen, um die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Gegen die Übelkeit, die mit einer heftigen Wucht eingetroffen ist, kann ich jedoch nichts unternehmen.
Es ist alles gut, Adeline!
„Nichts ist gut. Rein gar nichts ist gut. Er darf nicht hier sein." antworte ich auf meine innere Stimme, welche erfolglos versucht, mich zu beruhigen. Ich spüre die Nässe auf meinen Wangen und ich blinzle, um das Ganze nicht eskalieren zu lassen. Schließlich laufen hier welche an mir vorbei und schauen mich so an, als wäre ich ein anderes Wesen.
Man könnte ja mal nett fragen, was los ist.
Was ist nur mit der Menschheit passiert?