Die jahrelange Erfahrung als Dieb machte sich endlich bezahlt. Instinktiv tat Dubois das, was er mitunter am besten konnte. Als sich die Tür zum Ballsaal öffnete, verschwand er hinter einem der Vorhänge, ohne dabei der Panik zu verfallen. Etwas, das seinem Geliebten nicht annähernd so gut gelang.
„Vater!", grüßte Perceval mit schriller Stimme und einem unbeholfenen Vorwärtsschritt. „So früh schon wieder zurück?"
Der Blick des älteren Mannes war so finster, wie die angebrochene Nacht. Fast könnte man meinen, dass die Dunkelheit Bernards stetiger Begleiter war.
„Was verweilt Ihr hier so ganz allein?", fragte der Grauhaarige, wobei sein skeptischer Blick langsam durch den Raum wanderte.
„Wie ich sehe", begann Perceval mit einem kläglichen Ablenkungsversuch. „Tragt Ihr wie üblich den Säbel bei Euch. Mich dünkt, dass Ihr den Leuten damit Angst machen könntet, werter Vater."
Tatsächlich verließ Bernard das Anwesen nie ohne den Säbel, den er einst von einem hohen Offizier geschenkt bekommen hatte. Eine Angewohnheit, die der Furcht vor Diebesbanden zu verantworten war. Im Falle eines Raubs wollte Bernard nicht wehrlos sein. Er wäre bereit, jedem Gauner ohne zu zögern die Hand abzuschlagen.
„Ist Euch unsere Sprache nicht mehr geläufig, Sohn? Wünscht Ihr, dass ich Eurem ermatteten Verstand auf die Sprünge helfe?" knurrte Bernard, dessen fragwürdigen Methoden niemand am eigenen Leib erfahren wollte. „Dies ist der letzte Akt reiner Mildtätigkeit. Was veranlasst Euch zu Eurem derzeitigen Handeln hier?"
Die angespannte Atmosphäre ließ selbst den Dieb vor Furcht erzittern. Alles in ihm schrie danach, seinem Geliebten zu Hilfe zu eilen. Die emotionale Angst, die Perceval indes durchleiden musste, zerriss Bleuciel das Herz. Noch nie war es ihm so schwergefallen, regungslos in seinem Versteck auszuharren.
Dem gekünstelten Lachen folgte eine rasche Notlüge. „Verzeiht, Vater. Ich wollte mir bloß ein wenig die Füße vertreten. Ich entschuldige mich für mein respektloses Verhalten, Euch gegenüber", äußerte Perceval im Zuge einer tiefen Verbeugung. „Sofern es Eure kostbare Zeit zulässt, täte ich gerne in Erfahrung bringen, welche Belange Euch zu solch früher Stunde fortgehen ließen, werter Vater."
Bernard war kein dummer Mann, im Gegenteil. Den Reichtum und Erfolg hatte er unter anderem seiner scharfen Beobachtungsgabe zu verdanken. In dieser Hinsicht ähnelte er einem General, der jeden Schritt genau abwägen musste und sich keine Fehler erlauben durfte. Zusätzlich sorgte die antrainierte Disziplin dafür, dass sich Bernard nicht von überflüssigen Worten in die Irre führen ließ. Er behielt sein Gegenüber stets im Auge und achtete dabei auf jede noch so kleine Veränderung, die ihm bedeutsame Hinweise liefern könnten.
Im Falle seines Sohnes waren es allen voran die Augen, die Bernard stutzig werden ließen. Die Trübheit des vorherigen Tages war wie fortgeblasen. An ihrer Statt herrschte nun ein auffallender Glanz, der nahezu vor Glück und Heiterkeit strotzte. Selbst der gegenwärtigen Angst gelang es nicht, daran etwas zu ändern.
„Sagt mir, mein Sohn, auf welchen Umstand sich Euer unerwarteter Sinneswandel zurückführen lässt. Woher rührt Euer plötzlicher Frohsinn? Der Grund dafür würde mich brennend interessieren."
Eine der gefährlichsten Emotionen ist die Angst. Ihre Dosierung macht das Gift. Je stärker die Angst, desto schlimmer die Wirkung. So ist sie in der Lage den Verstand ihres Opfers zu beherrschen, indem sie kein rationales Denken mehr zulässt. Selbst der Körper bleibt ihrer nicht verschont, wenn sie diesen mit Hilfe von Schweißausbrüchen, Herzrasen und Lähmungen vollständig kontrolliert.
Obschon niemand von der Angst heimgesucht werden möchte, gibt es einige, die sie gezielt als Waffe gegen andere einsetzen. Oftmals wird sie in Form von ausgesprochenen Drohungen übertragen, sodass sich der Betroffene nicht darauf einstellen kann.
So erging es auch Perceval, der durch die Aussage seines Vaters gnadenlos geängstigt wurde. Es folgten die typischen Anzeichen im Sinne von kalten Händen, schwerer Atmung, Sprachlosigkeit und einem plötzlichen Magenstechen. Infolgedessen vergingen einige Sekunden des Schweigens, ehe der Künstler seine Worte wiederfand.
„Nun ich ...", schluckte er. „Ich fürchte, dass ich Euren Worten tatsächlich nicht ganz folgen kann, Vater. Von welchem Wandel sprecht Ihr, wenn ich fragen darf?"
„Dieses respektlose Verhalten", brummte Bernard. „Ihr versucht mich zum Narren zu halten, indem Ihr Euch für dumm verkauft. Das reicht jetzt!"
Bleuciel erschrak, als den Laut einer Ohrfeige vernahm. Durch sein ungewolltes Zucken bewegte sich der Vorhang. Es war nicht viel, genügte aber, um die Aufmerksamkeit von Bernard zu erlangen. Dieser ignorierte seinen Sohn, um nun geradewegs auf den Vorhang zuzusteuern. Als Perceval dies sah, überkam ihn die nackte Panik.
„Vater", krächzte er. „So berichtet mir doch von Eurem heutigen Ausflug. Bitte ..." Der zunehmenden Bedrängnis ging ein beherztes Zugreifen einher, weshalb sogar Bernard ins Stocken geriet.
Ungläubig starrte der ältere Mann auf seinen Oberarm, an dem sich die Hand seines Sohnes wie eine Teufelsklaue festgekrallt hatte. „Sohn!", schimpfte er. „Was um Herrgotts Namen geht hier vor sich?!"
„Ich gedenke mich bloß zu bessern!", rief Perceval in seiner Verzweiflung. „Entspricht dies nicht länger Euren Wünschen, Vater?"
Kurz bevor Bernard den Vorhang erreichen konnte, hielt er inne, um über die Worte seines Sohnes zu sinnieren. Sein Instinkt verriet ihm, dass die Einsicht einer geheuchelten Natur entspringen musste. Niemals könnte diese über Nacht entstanden sein. Erst recht nicht, nachdem der junge Sturkopf tags zuvor so niedergeschlagen war. Etwas hatte sich verändert. Etwas, dem Bernard auf den Grund gehen musste.
Bleuciel erstarrte, als er die Finger am Rand des Vorhangs erspähte. Während sich sein Herz auf schmerzvolle Art zusammenzog, rutschte ihm der Magen bis auf den Grund. Innerhalb weniger Sekunden trocknete sein Mund vollständig aus, weshalb der Dieb schwer schlucken musste. Er spürte, dass ihm die Bestie namens Bernard genau gegenüberstand. Der blaue Stoff des Vorhangs war das Einzige, was die beiden noch voneinander trennte. Nun gab es für Dubois kein Entkommen mehr. Seine Reise endete genau an diesem Punkt.
Als sich der Vorhang in Bewegung setzte, lief Bleuciel impulsiv nebenher. Ein trauriger Versuch, der ohnehin nichts mehr bewirken würde. Ihm blieb keine Wahl. Er musste seinem vorzeitigen Ende ins Auge blicken. Insgeheim hoffte er bloß, dass er Perceval noch ein letztes Mal sah, ehe ihn die ewige Finsternis in seine Arme schloss.
„Monsieur de Rouyer", erklang plötzlich die Stimme eines Bediensteten. „Das Abendessen wäre angerichtet. Ich empfehle die Speisen zu genießen, solange sie noch warm sind."
Obwohl Bleuciel jetzt ungeschützt vor ihm stand, blickte Bernard zu dem Bediensteten, der an der Tür zum Ballsaal stand. Percevals Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Beide bangten darum, was als Nächstes geschehen würde. Sie wagten es nicht sich zu bewegen, da sie fürchteten, Bernard erneut auf sich aufmerksam zu machen.
„Gut", sagte dieser, während er den Vorhang losließ. „Und Ihr werdet mich begleiten, Sohn", fügte er mürrisch hinzu.
„Gewiss, werter Vater", war alles, was Perceval noch zu Stande bekam.
Gemeinsam verließen sie den Saal, sodass Bleuciel alleine zurückblieb. Die Schweißtropfen perlten dem Dieb über die Stirn. Noch immer ließ die Angst das Blut durch seine Adern rauschen. Es dauerte eine Weile, bis das Zittern verschwand, das sich im Zuge der brenzligen Situation heimlich hinzugesellt hatte. Erst als das Herz nicht mehr wie wild gegen die Brust trommelte, wagte sich Dubois aus seinem Versteck. Er mied den Speisesaal und nahm die Treppe, die sich im hinteren Teil des Chateaus befand. Danach versteckte er sich in Percevals Zimmer, wobei er bewusst eine Ecke des Raumes wählte, in der man ihn nicht sofort entdecken würde.
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In der Zwischenzeit lag es an Perceval, gute Miene zu bösem Spiel zu machen. Er aß die Speisen, die man ihm aufgetischt hatte, wobei das Vertilgen derjenigen einiges an Mühe erforderte. Wegen des kürzlichen Schreckens hatte der Adelige seinen Appetit verloren. Nichts desto trotz wollte er seinem Vater keinen weiteren Anlass für Misstrauen bieten.
„Hm, wirklich köstlich", lobte er. „Die famosen Speisen entzücken meinen Gaumen."
Nachdem er fertig gegessen hatte, belud er seinen Teller mit weiteren Speisen, was Bernard erneut stutzen ließ.
„Welchem Zweck dient Euer derzeitiges Handeln?", fragte er offen heraus.
Da Perceval mit dieser Frage gerechnet hatte, entgegnete er seinem Vater mit einer einstudierten Erklärung.
„Für den Fall, dass mich heute Nacht der Hunger überfallen sollte, werter Vater."
„So?", fragte Bernard mit gehobener Augenbraue. „Gestern wolltet Ihr noch sämtliches Essen verweigern und nun verlangt es Euch plötzlich nach einem Nachschlag?"
„Eure weisen Worte sind mir nicht entgangen", äußerte der Künstler, als er Bernard ein gezwungenes Lächeln schenkte. „Meiner zukünftigen Frau sollte ich nicht kränklich gegenübertreten. Ich werde somit drauf achten, dass ich genügend zu mir nehme. Genießt den restlichen Abend Vater. Ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht."
Mit diesen Worten verschwand Perceval aus dem Speisesaal. Er kehrte in sein Zimmer zurück, wo er den Teller rasch beiseitestellte, um seinem Liebhaber in die Arme zu fallen. Sie verfielen mehreren innigen Küssen und wankten dabei liebestrunken durch den Raum.
„Verzeihen Sie, dass ich nicht besser achtgegeben habe", äußerte Perceval schuldbewusst.
„Keine Sorge", versicherte Bleuciel, wobei er seinem Geliebten über die Wange strich. „Für Sie bin ich bereit jedes Risiko einzugehen."
Sie sahen sich tief in die Augen, um weitere Küsse auszutauschen.
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Nachdenklich nippte Bernard an seinem Glas Wein. Die Erschöpfung des Tages zerrte allmählich an ihm, weshalb seine Augenlider hin und wieder nach unten sanken. Obschon er spürte, dass ihm sein Sohn etwas verheimlichte, war die Geduld eine Tugend, die Bernard durchaus zu würdigen wusste. Er brauchte es bloß richtig anzugehen.
„Schon bald werde ich Euch entlarvt haben, mein Sohn."