"Wir müssen aufstehen", wiederhole ich im Flüsterton und rüttle schon etwas weniger vorsichtig als vor einer Minute an Harrys Schulter. Doch wieder grummelt er nur in mein T-Shirt hinein, klammert sich inzwischen so fest an mich, dass ich beinahe laut aufkeuche.
"Das ist mein Ernst Harry. Ich muss noch in meine Wohnung meine Sachen holen", erinnere ich ihn und erziele erst damit, dass er seinen Kopf von meinem Bauch anhebt und verschlafen die Nase rümpft.
"Wie viel Uhr haben wir denn?", ist das erste was er in einem unfassbar abgeschlagenen Ton sagt.
"Halb sieben."
"Fuck." Obwohl er leicht verärgert grummelt, drückt er so als hätte er alle Zeit der Welt seine Wange noch ein letztes Mal auf meinen bekleideten Bauch. Auch wenn ich ihn eigentlich zwingen sollte sofort aufzustehen, um mich nach Hause zu fahren, lache ich leicht darüber und streiche ehe ich es verhindern kann einmal durch seine Haare. Als ich aber merke was ich getan habe, ziehe ich sie auch schon wieder zurück, beiße mir leicht auf die Unterlippe.
"Das hat sich gut angefühlt." Harry richtet sich nun ein wenig auf, um mich aus großen Augen anzusehen. Ein leichtes Schmunzeln umspielt seine Lippen und er lehnt sich nach vorne, um mir einen kleinen Kuss auf den Mundwinkel zu drücken. "Du kannst hier duschen gehen, ich gehe ins andere Badezimmer", meint er noch bevor er sich vollkommen von mir herunterrollt und neben dem Bett auf die Füße springt.
Auch ich stehe endlich auf und ziehe das T-Shirt zurecht als Harry mir schon erklärt, wo ich Handtücher finden kann.
Mit meinen Klamotten von gestern in der Hand gehe ich dann ins Badezimmer und lege sie erst einmal auf den geschlossenen Toilettendeckel.
Im nächsten Moment ziehe ich schon Harrys Kleidung aus und falte sie sorgfältig auf, meine Unterwäsche folgt.
In der Dusche muss ich feststellen, dass man wohl auch dort große Unterschiede zwischen teuer und günstig macht. An der Wand sind mehr Knöpfe als an meiner Fernsehfernbedienung und ich kann mich nur gerade so davon abhalten, jeden einzigen auszuprobieren. Schließlich habe ich keine Zeit und muss mich eigentlich beeilen.
Etwa zehn Minuten später gehe ich immer noch mit nassen Haaren aber immerhin in meinen Klamotten aus dem Bad, um fast wieder darin zu verschwinden.
Harry steht vor dem Kleiderschrank und sucht irgendetwas heraus, trägt noch nichts.
"Scheiße", entfährt es mir und ich schließe kindisch meine Augen, um sie dann erst wieder zu öffnen, als ich meinen Kopf in eine andere Richtung gedreht habe.
"Fuck!", erschreckt auch Harry laut. Ich gehe davon aus, dass er sich inzwischen etwas überzieht. Irgendetwas.
"Entschuldigung Lou, das sollte nicht- ich wollte dich nicht-", hastet er schon beinahe hilflos und ich wage es jetzt meinen Kopf wieder in die Richtung des Braunhaarigen zu drehen.
"Alles okay", ich hebe eine Hand, "Ich habe mich nur erschrocken."
"Ich dachte nicht, dass du schon fertig bist", erklärt er peinlich berührt. Ich glaube er steht nicht mit geröteten Wangen da, weil es ihm unangenehm ist, dass ich ihn nackt gesehen habe, sondern eher, weil er glaubt den Eindruck gemacht zu haben, mich bedrängen zu wollen, oder es mit Absicht getan zu haben.
Wobei seine Angst nicht aus dem Nichts kommt. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich es nicht als unmöglich gesehen, dass er so etwas täte. Doch inzwischen weiß ich es ein bisschen besser.
"Ich dachte du wärst schon fertig", gebe ich zurück und entferne nun vorsichtig seine Kleidung, die ich mir wohl vor Schreck an die Brust gedrückt habe, von meinem Oberkörper, um sie ihm entgegenzuhalten.
"Danke nochmals." Ich nicke leicht und kann ein Schmunzeln nicht länger zurückhalten. Harrys Reaktion ist einfach zu lustig, als dass ich es jetzt noch ignorieren könnte. Er sieht aus wie ein kleiner Junge.
"Bitte", erwidert er schon etwas beruhigter und legt den kleinen Stapel einfach nur hinter sich auf die Kommode. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er schon bis auf das Jackett alles angezogen hat.
"Was musst du Zuhause noch erledigen?", fragt er nun und bindet sich ohne nur in den Spiegel zu sehen die Krawatte.
"Meine Unterlagen holen." Ich räuspere mich kurz und sehe ihm interessiert dabei zu, wie er ein letztes Mal an dem Schlips zupft.
"Auf dem Weg zur Uni können wir noch bei Marc's anhalten und Kaffee und was zu Essen holen."
Ich nicke nur und beobachte wie Harry seinen langen Körper nach seinem Handy reckt und dieses in seine Hosentasche befördert.
"Den Rest habe ich im Büro." Wieder nicke ich und folge ihm aus dem Schlafzimmer heraus.
~
"Vielen Dank Harry." Ich schnalle mich los und wende mich noch einmal zu ihm.
"Eigentlich kann ich das alles nicht einfach so annehmen", meine ich und schaue kurz auf die Tüte in meiner Hand. Harry hatte versprochen mir nur einen Kaffee mitzubringen, hat mir dann aber trotzdem noch zwei belegte Brötchen und ein Teilchen gekauft.
"Das sollst du aber", entgegnet er und fährt sich einmal durch die Haare. Dafür, dass das Auto sozusagen vorm Haupteingang steht, hat er es nicht eilig, mich rauszuschmeißen.
"Danke", wiederhole ich und grinse in mich hinein. Insgeheim bin ich froh, genügend zu essen dabei zu haben. Bis heute Mittag ohne Essen zu verharren wäre doch ein bisschen zu lange gewesen.
"Kein Problem." Harry schaut einmal aus dem heruntergefahrenen Fenster, durch das fast alle, die vorbeigehen, hineinstarren.
Er schaut irritiert und verständnislos auf zwei Studentinnen, die wie blöd kichern, als ich ihn mit dem Ellbogen anstupse.
"Die ziehen mich ja fast mit ihren Blicken aus", kommentiere ich das ganze, fange leise an zu lachen, woraufhin Harry mich wieder nur einmal kopfschüttelnd ansieht.
"Eine Unverschämtheit", gibt er aber nach und macht mit. Der kritische Gesichtsausdruck ist schon längst verschwunden.
"Ich würde dir wirklich gerne noch einen tieferen Einblick in mein Leben als Frauenschwarm bieten, aber ich muss jetzt wirklich rein", meine ich dramatisch, da ich von einem am Auto vorbeisprintenden Liam erinnert werde, dass ich spät dran bin.
Obwohl ich mit auf meinen Becher gesenkten Blick genau diesen richtig in die Hand nehme, kann ich aus dem Augenwinkel die tiefen Grübchen sehen. Unweigerlich muss ich in mich hineingrinsen.
"Danke nochmal für alles", möchte ich mich ihm zugewendet verabschieden, kämpfe aber damit, mein ganzes Zeug festzuhalten, weswegen es nur halbherzig ausgesprochen wird.
"Bis bald", verabschiede ich mich letzten Endes richtig und beuge mich kurz über die Mittelkonsole, um Harry flüchtig auf die Wange zu küssen. Warum ich genau diese Geste ausgewählt habe weiß ich nicht, ich tue es rein intuitiv.
Gerade als ich mich zurückziehe und schon anfange zu überlegen, ob das ganze vielleicht unangebracht war, legt Harry seine Hand vorsichtig auf meine Wange und legt seine Lippen für einige Sekunden auf meine.
Obwohl in dem Kuss nicht viel Bewegung steckt, reicht er aus, um mich beinahe meinen Kaffee verschütten zu lassen. Ich kann ihn nur noch retten, indem ich mich wiederwillig von dem Braunhaarigen entferne.
"Tschüss Lou." Er schmunzelt über mein kleines Gestrauchel und streicht ein letztes Mal meine Haare hinter mein Ohr, bevor ein Hupen hinter uns die ganze Situation beendet und auch die letzte Zelle von mir erinnert, dass ich schon längst hätte aussteigen müssen.
Mit einem peinlich berührten Lächeln öffne ich die Tür des schwarzen Ungetüm von Autos und steige mit Tüte und Kaffee in den Händen und meiner Tasche über der Schulter aus.
"Hab einen schönen Tag", spricht Harry das aus, was ich ihm eigentlich ebenfalls wünschen wollte.
"Du auch", antworte ich daher stumpf und mache die Autotür zu, um sehen zu können, wie nah das Auto, das gehupt hat, schon aufgefahren ist.
Harry nickt noch einmal mir seine Grübchen zeigend, bevor er losfährt.
Dafür dass wir so eine Panik gemacht haben, haben wir uns ganz schön Zeit gelassen.
*Ich mache jetzt einmal schamlos Selbstpromotion und weise darauf hin, dass ich noch ein anderes laufendes Buch habe. His Dark Soul ist wohl auch der Grund, warum hier manchmal lange Zeit keine Kapitel kommen. Aber irgendwie bin ich jetzt wieder in Ink Stimmung. Also hier kommen jetzt erst einmal wieder häufiger Kapitel.*