Gabriel leistet mir noch ewig Gesellschaft, bis es dunkel wird und ich immer müder werde. Auch wenn es sehr interessant gewesen ist, vieles über den Jungen herauszufinden, hätte ich doch gerne ein wenig Zeit für mich allein gehabt. Immerhin habe ich noch keine Chance gehabt, das ganze überhaupt zu verdauen oder Lyriam einen Brief zu schreiben. Doch die ganze Sache, dass ich einen der Beiden als Mann nehmen muss, macht mir noch immer ein wenig Angst. Ich bin gerade einmal neunzehn Jahre alt, jeder normale Bürger des Volkes von Elysia ist gerade am Herausfinden, wer er denn ist, doch ich habe nie die Gelegenheit dazu bekommen. Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht die Rolle spiele?
Zum Abendessen ziehe ich mich neu an, dieses Mal ein hellblaues Kleid aus Seide. Wie auch das rosafarbene betont es meine Augen gut, welche ich so sehr liebe. Sie sind beinahe unnatürlich hellblau, fast schon pastellfarben. Und auch mein Markenzeiche. Generell haben Erdhexen besondere Augenfarben, doch immer mehr in die Brauntonregion, eine blauäugige Erdhexe soll es seit hundert Jahren nicht mehr gegeben haben. Aber ich habe nachgelesen, dass sie nicht anders talentiert als die anderen Erdhexen gewesen ist, deshalb mache ich mir keine Sorgen. Es ist nur, dass meine Augen mein Markenzeichen sind. In Elysia hat man mich eher selten „Prinzessin" oder „Thronerbin" genannt, unter dem Volk bin ich viel mehr unter dem Namen „die Blauäugige" oder „die Himmelsprinzessin" bekannt gewesen. Auch Engel hat man mich genannt und dabei ignoriert, dass ich gar keiner bin, sondern eine Hexe. Aufgrund meiner Ausbildung, die den einfachen Bürgern zu viel Geld kostet, weshalb sie sich nicht ausbilden lassen, bin ich momentan eine der mächtigsten Hexen, vor allem in Elysia. Ich bin so versunken in Gedanken gewesen, dass ich jetzt erst merke, dass ich bereits im Speisesaal bin, wo mich alle anstarren. Wobei alle, es sind gerade einmal zwei Typen. Aber zwei Typen sind einer zu viel, denn ich kann nur einen heiraten. Nicht, dass ich vorgehabt hätte, beide zu heiraten, das wäre selbst für mich zu komisch. „Hallo, Elena", lächelt Gabriel mich an und ich frage mich, ob er jemals dieses Lächeln ablegt. Lächelt er sogar in der Nacht? Wenn ja, dann ist das verdammt gruselig. „Prinzessin", murmelt Lucifer, starrt mir direkt in die Augen. Meine Knie werden zittrig und eine Energie durchströmt mich, welche ungewohnt ist. Es ist, als würde er in meinen Geist eindringen. Vielleicht kann er das ja, ich sollte ihn bei Gelegenheit einmal fragen. Beim Essen driften meine Gedanken wieder ab, ich frage mich, wie viel Unterricht Raphael meinem Bruder wohl aufdrückt und mit wem Lyriam tanzt, jetzt wo ich weg bin. Ob sie auch gerade essen? Ist der Platz, auf dem ich eigentlich sitze, leer oder sitzt jemand anderer darauf? Hat Lyriam inzwischen schon eine Verlobte?
Wie jeden Abend sitze ich auch jetzt auf dem Balkon. Die Fragen lassen mich nicht los, füllen mein Herz mit Bitterkeit. Man hat mich einfach aus meiner Heimat, weg von meinem Bruder gezogen und jetzt soll ich eine Entscheidung fällen, die für eine Hexe eigentlich unmöglich ist. Denn eine Hexe gehört weder in den Himmel noch in die Hölle. Ich gehöre auf die Erde, nach Elysia, nirgendwo anders hin. Vielleicht noch spezifischer: aufs Schlachtfeld. Wie lange muss ich wohl noch hierbleiben, ehe ich meine Entscheidung fällen kann? Kann ich mich überhaupt jemals entscheiden? Eigentlich will ich hier nur weg, ich fühle mich wie eine Marionette. Eine Marionette meines Vaters und des Rats, welche sich nicht wehren kann. Nicht wehren darf. Ein lauter Knall neben mir lässt mich hochschrecken und sofort greife ich zu meinem Dolch, ziehe ihn heraus. „Bin ja nur ich", eine leicht raue Stimme ertönt neben mir. Lucifers Stimme, denn wer sollte sich sonst auf meinen Balkon schleichen, wenn nicht er? „Musst du mich immer so erschrecken?", fauche ich, stecke meinen Dolch wieder weg. Er zischt genauso geladen zurück: „Musst du mich immer so anfahren?!" Ich glaube, ich platze gleich vor Wut. Was denkt er, wer er ist? Er kann doch nicht einfach auf meinen Balkon und dann denken, ich habe nichts dagegen! „Du bist ohne meine Erlaubnis auf diesem Balkon und erschrickst mich immer!", fluche ich. Ja, ich bin geladen. So sehr, wie noch nie in meinem Leben. Seit wann bin ich so launisch? Schwanger kann ich nicht sein, mein Vater hat ja gut genug aufgepasst. „Was willst du hier?", frage ich immer noch patzig, doch schon viel ruhiger als zuvor. Sein Lächeln wirft mich fast auf der Bahn, doch es vergeht ihm gleich wieder: „Ich wollte dich warnen, Pallisander kommt morgen. Du musst dich auf Kreischattacken einstellen." Pallisander, die kleine Schwester von Gabriel. Wahrscheinlich auch ein engelhaftes Wesen. Plötzlich stellt sich mir eine Frage: „Kennst du Gabriel eigentlich gut?" Vielleicht kann er mir ja Insider-Informationen geben, so wie, ob dieser Typ wirklich mit einem Lächeln im Gesicht schläft. Lucifers Gesicht verzieht sich: „Halte deine Freunde nahe, aber deine Feinde näher. Ich weiß alles über ihn." Eine Gänsehaut zieht sich über meine Haut, irgendwie ergeben seine Worte Sinn. Rein theoretisch ist die Entscheidung nicht schwer, es wäre ethnisch wahrscheinlich nicht ganz korrekt, den Teufel zu wählen. Doch irgendetwas hat Lucifer an sich, was mich verdammt fasziniert, weshalb ich die Wahl hinauszögern will.
Schlaftrunken wie jeden Morgen drehe ich mich um und kreische los, als jemand neben mir liegt. Dieser jemand kreischt, mindestens genauso hoch wie ich los, wenn nicht sogar höher. Lucifer. „Musst du mich so wecken?", lacht er verlegen, sein Gesicht feuerrot. Ich ziehe meine Augenbraue hoch, über dieses Talent bin ich sehr stolz, dann frage ich: „Und was machst du in meinem Bett?" „Schlafen, also bis jetzt eben", murmelt er, wirft sich wieder zurück. Anscheinend ist er genauso ein Morgenmuffel wie ich. Und genau deswegen werfe ich mich auch zurück und kann es mir nicht nehmen, mich ein wenig an ihn zu kuscheln. Eigentlich will mein Körper nichts anderes, doch ich kann es immer verhindern. Nur eben früh am Morgen habe ich meinen Körper nicht unter Kontrolle. Mein Herz bleibt stehen, als er den Arm um mich legt und mich näher zieht.
Ich schlafe noch eine halbe Stunde, dann stehe ich auf und richte mich für den Tag. Ein einfaches, pastellfarbenes Kleid in einem Lilaton. Ich weiß nicht weshalb, aber ich liebe pastellfarbene Sachen. Vielleicht, weil sie mein Blässe untermalen. Meine Haare lasse ich wie immer offen und freue mich eigentlich auf den heutigen Tag, ich könnte ja einen Ausritt machen gehen. „Aufstehen!", kichere ich, als ich Lucifer noch in meinem Bett dösen sehe. Er sieht so friedlich aus, man sieht gar nichts in seinem Gesicht von den bösen Taten, die für ihn wohl alltäglich sein müssen. Vielleicht ist er auch nicht so hart, vielleicht spielt er wie ich eine Rolle. Nur, dass ich vergessen habe, wer ich wirklich bin. Und jetzt kichere ich, etwas, was die Prinzessin noch nie gemacht hat. Gewinne ich gerade einen Teil von mir zurück? Wenn ja, dann finde ich das umwerfend. Ich würde alles dafür geben, endlich zu wissen, wer ich bin. „Lass uns gehen, sonst wird es auffällig", murmelt Lucifer, zieht mich aus meinem Zimmer. Erst jetzt wird mir bewusst, wie komische es kommen könnte, wenn auffällt, dass wir beide noch nicht da sind. Und das zu einer Zeit, in der wir beide meist schon unseren Aufgaben nachgehen.
Am Frühstückstisch sind wir allein, ein Ratsmitglied kommt und verkündet, dass Gabriel seine Schwester Pallisander höchstpersönlich abholen kommt. Ich muss schon wieder kichern, als ich daran denke, dass er seine Flügelchen ausspannt und sein Schwesterchen abholen kommt. Stille herrscht im Raum, doch sie ist nicht unangenehm. Während Lucifer noch halb vor sich hin döst, lese ich die Zeitung. Prinzessin Elena wird doch nicht Königin von Elysia, steht fett auf dem Titelblatt, weshalb ich mich fast verschlucke. Auch in allen anderen Zeitungen bin ich auf dem Titelblatt und jedes Bild von mir jagt mir ein Pfeil mitten ins Herz. Ich hasse vielleicht den Palast, die Regeln und mein Platz in Elysia, doch ich liebe das Volk. Und ich habe sie im Stich gelassen, das schreibt sogar jemand. „Alles in Ordnung?", plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schultern. Ich zucke mit den Schultern und stelle mit Schrecken fest, dass ich fast angefangen hätte, zu weinen: „Naja, ich sollte jetzt in Elysia sein und mich darauf vorbereiten, Königin zu werden. Aber jetzt bin ich hier und habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich bin einfach nicht für Entscheidungen gemacht worden", flüstere ich hilflos. „Ich bin hier, hab' keine Angst", flüstert Lucifer und seine Stimme wirkt sanft. Seine Aura umgibt mich ebenfalls, so nah ist er mir. Doch es ist mir nicht unangenehm, im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, nicht mehr glücklich werden zu können, wenn er aufhört, mich zu berühren. Wir nähern uns, er zieht mich in eine enge Umarmung. Noch nie in meinem Leben habe ich mich noch nie gefühlt. Ich weiß, dass nicht mehr länger Lyriam mein Zuhause ist. Ich will, dass Lucifer mein Zuhause wird und dafür gehe ich durch die Hölle. Wortwörtlich. Und dann ertönt ein Kreischen, höher als alles andere. Sofort fällt mir Lucifers Warnung ein und ich verdrehe die Augen. Pallisander ist angekommen und hinter ihr Gabriel.