Cress verschwand kurz darauf aus dem Ballsaal, weil sie den Anblick des Königs nicht ertragen konnte. Es dauerte, bis sie ihr wild klopfendes Herz wieder zur Ruhe zwingen und sich darauf konzentrieren konnte, wieso sie eigentlich hier war. Doch das Gesicht des Eiskönigs schien sich in ihre Netzhaut eingebrannt zu haben, als sie durch das Zwielicht der Dienstbotengänge strich.
Also streunte sie jetzt so unauffällig wie möglich und ausreichend bewaffnet, durch die Dienstbotengänge auf den Flügel zu, in dem sie hoffentlich das Schwert finden würde.
Cress gab sich Mühe, entspannt zu bleiben, als sie vorbeigehende Gelbe mit wissenden Blicken bedachten.
Hier in den Schatten fühlte sie sich um einiges wohler als unter den tonnenschweren Kronleuchtern des Ballsaals.
Sie zuckte zusammen, als sie Stimmen hörte.
Wann war sie so schreckhaft geworden?
Bis jetzt hatte keiner der Dienstboten auch nur ein Wort gesagt.
Sie wandte sich um, stellte jedoch nur einmal mehr fest, dass sie völlig allein in dem Dienstbotengang war. Sie runzelte die Stirn, sah noch einmal über ihre Schulter, bevor sie den verschwindend schmalen Lichtschein ungefähr zehn Meter in die Richtung bemerkte, in die sie unterwegs war.
In eben jenem Moment wurde sie wieder von der Tänzerin zur Diebin. Stimmen hinter halb verschlossenen Türen forderten ihre Aufmerksamkeit.
Es war eine Tapetentür, die irgendjemand nicht ganz geschlossen hatte.
„Was du heute getan hast, ist mehr, als nur eine Dummheit. Ich dulde das nicht."
Die Stimme fühlte sich an wie schimmerndes Eis, mit dem einem die Pulsadern aufgeschnitten wurden. Diesmal beendete der König seinen Satz nicht mit einem herzlichen Lachen.
„Oh, bitte, jetzt erzähl mir nicht, dass du ohne meine Hilfe nicht mit dem Orden aneinandergeraten wärst", antwortete eine unbekannte, volle Stimme.
Cress spielte mit dem Gedanken, einfach wieder zu verschwinden, aber ihre Beine wollten sich nicht bewegen.
Sie wurde von diesem Gespräch angezogen wie eine Motte vom Licht. Sie sah durch den Spalt in der Tapetentür, wie Miaserus das Gesicht seines Sohnes packte und wie sich die beiden anfunkelten. Julian schien nüchtern genug, um sich der väterlichen Standpauke zu stellen.
Kein bisschen der Belustigung, die Miaserus seines Hofstaats versprüht hatte, war zurückgeblieben. Da war nur Kälte.
Eiskalte Wut, weil sein Sohn ihn vollkommen blamiert hatte. Langsam und fest, packte Miaserus Julians Kinn.
Obwohl der Prinz groß war, überragte ihn sein Vater noch um einige Zentimeter.
Die beiden starrten sich voller Abscheu an.
Cress wagte nicht, zu atmen.
Als der König wieder die Stimme erhob, schien ihr Blut um einige Grad abzukühlen.
„Du wirst dich nicht noch einmal in meine Pläne einmischen."
Die beiden starrten sich an. Saphirblau in Saphirblau.
„Ist das klar?"
Julian Alessandrini antwortete nicht.
Seine Faust krachte gegen Julians Kiefer, sodass dessen Kopf zur Seite geschleudert wurde.
Doch sein Sohn schrie nicht, zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er sich wieder provozierend grinsend seinem Vater zu wandte.
„Jetzt verprügeln wir schon Verletzte. Wie tief bist du gesunken?"
Alkohol machte seine Stimme rauchig.
Noch ein Schlag.
Und selbst, als er auf dem Boden lag, lachte Julian seinem Vater noch ins Gesicht.
Er machte keine Anstalten sich zu verteidigen.
Keine Anstalten zu verschwinden.
Cress verharrte regungslos in den Schatten.
Wie sehr sie sich wünschte, dass der Kronprinz zurückschlug. Nur ein Treffer in das Gesicht seines Vaters würde der Diebin unwahrscheinliche Genugtuung verschaffen.
Dann flog die Tür auf und die Frau in Königsblau aus dem Ballsaal stürmte herein.
„Du glaubst nicht wirklich, dass ..."
Die Königin stolperte fast über ihren Sohn, sprang schreiend zurück.
Julian hob das Gesicht vom Teppich.
„Hey, Mam."
Was auch immer sie hatte sagen wollen, sie vergaß es in dem Moment, in dem sie die Situation erkannte.
In der sie verstand, was ihr Mann gerade getan hatte.
Die Königin starrte ihren Mann nieder, während Julian sich hinter ihrem Rücken aufrichtete und prüfend seinen Kiefer bewegte.
Dabei drehte er den Kopf ein bisschen zu weit und ... sie zuckte zurück.
Hatte er sie gesehen?
Doch schon wandte sich die Aufmerksamkeit des Prinzen wieder seinen Eltern zu.
„Das wagst du nicht noch einmal", zischte seine Mutter und wirkte dabei gefährlich wie eine zum tödlichen Stoß erhobene Kobra.
Miaserus Gesicht blieb ausdruckslos, während Julian ihm hinter dem Rücken seiner Mutter den Mittelfinger zeigte.
Miaserus lachte.
Cress erschauerte, während der König sich umdrehte und kommentarlos den Raum verließ.
Julian verzog das Gesicht, als seine Mutter sich ihm zuwandte.
„Dafür wird er büßen", knurrte sie, ging neben ihrem Sohn in die Knie und begrub ihn dabei fast unter ihrem blauen Monster von Kleid.
Der Kronprinz rappelte sich auf.
Er war anscheinend doch nicht so schlimm zugerichtet wie es den Anschein gehabt hatte.
„Ich halte das aus", setzte Julian seufzend an, aber seine Mutter schnitt ihm das Wort ab.
„Nein."
Ein kurzer Blickkontakt, dann hakte sie sich bei ihm unter. „Komm, wir lassen das besser ansehen."
Als sie zur Tür hinaus gingen warf Julian Alessandrini einen Blick zurück. Cress hätte zwei Dinge schwören können, die ihren Puls noch weiter in die Höhe jagten.
Erstens: Er schaute ihr direkt in die Augen.
Zweitens: Er schien irgendwie zufrieden mit der Situation.