Er musterte mich und musste schließlich schmunzeln. "Sie ist wirklich genauso wie Grace Lockwood, damals 1863".
"Hören Sie auf mich mit ihr zu vergleichen! Nur weil ich ihre weibliche Nachfolgerin bin und die zweite weibliche Erwählte überhaupt, muss das noch gar nichts heißen! Und außerdem - " Ich schnaubte verächtlich. "Nur weil ich die zweite Lockwood bin, die ihre ganzen Pläne mit der Regierung zerstört!" Meine Augen funkelten und jetzt traute ich mich zum ersten Mal in Mr Haddington's düstere Augen zu blicken. "Eigentlich sollte ich doch gar nicht hier sein. Ich bin ein Problem, so wie Grace damals."
Mr Haddingtons Gesichtsausdruck gefror. Schließlich grinste er aber und schüttelte den Kopf hin und her. "Wen Sie nur wüssten." Er rieb sich seine Hände. "Nun gut. Also Miss Lockwood, Sie können sich jederzeit verwandeln. Jede Sekunde. Die normale Zeit ist, dass man sich innerhalb zwei Wochen, die nach dem 14. Geburtstag folgen, verwandelt. Und dann verwandelt man sich immer an dem selben Tag im Mona, zwangshaft um die gleiche Uhrzeit."
Ich nickte langsam. Das verstand ich. Schließlich fragte ich: "Und wo sind ihre Söhne?" Ich wollte die beiden unbedingt kennenlernen. Meine Cousins. Vielleicht hätten sie Tipps für mich. Vielleicht würde ich mich mit der Sache dann nicht so alleine fühlen.
"Sie sind auf der Blair", sagte Mr Haddington stolz.
Die Blair! Davon hatte ich schon einmal gehört. Wo reiche Kids hingingen. Sie war die renominirteste Schule in ganz Großbritannien und gehörte zu den Besten der Welt. "Warum müssen sie nicht hier sein?" Auf einmal wurde ich wütend. Warum durften sie auf freiem Fuß sein, während ich hier festsaß? Nur weil sie Mr Haddington's Söhne waren? Immerhin war ich seine Nichte. Auch wenn wir zwei uns nicht mochten.
"Sie haben ihre Verwandlung unter Kontrolle."
"Wie meinen Sie das?"
"Sie können sich verwandeln, wann sie wollen."
"Aha". Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Ich hob beide Augenbrauen misstrauisch an, während ich ihn wachsam musterte.
"Sie waren schon als Baby, dem Fluch ausgelegt. Wenn man sich seit fünf Jahren verwandelt, kann man sich verwandeln wann man möchte. Aber dem einem Tag im Monat, wo man sich als erstes verwandelte, wird man nie wieder los."
"Ihr habt doch gerade gesagt, dass man sich nur an den zwei späteren Wochen nach seinem 14. Geburtstag verwandeln kann. Und außerdem bin ich etwas älter als Ezra und Liam. Sie haben den Fluch doch nicht schon fünf Jahre. Wenn sie ihn fünf Jahre hätten, müssten sie 19 sein." Ich verstand gar nichts mehr. Was musste ich denn noch lernen, bis ich endlich hier raus konnte?
"Sie hatten ein spezielles Elixier eingeflößt bekommen, damit sich der Fluch in Babyjahren auslösen konnte."
Wie konnte man einem Baby denn nur so etwas antun? Aber wenn ich es mir recht überlegte, war es gar nicht so schlecht, denn man konnte sich dann vielleicht nicht mehr dran erinnern. Man hätte es jetzt leichter und konnte sich verwandeln wann man wollte, außer an dem einem Tag im Monat. Warum hatte Dad das nicht bei mir gemacht? Ich hätte es jetzt viel einfacher und wäre hier raus, weil ich die fünf Jahre hier in Forschung überstanden hätte und frei wäre. "Okay." Ich nickte. "Und wie lange dauert es bis ich mich wieder zurückverwandele?", fragte ich.
"Nach Aufzeichnungen der Wissenschaftler Haddington's ungefähr fünf Stunden", sagte Mr Haddington. "Wenn man die Verwandlung kontrollieren kann, wie Ezra und Liam, kann man auch bestimmen, wie lange man in Rabengestalt verweilen möchte. Wenn man es so will, kann man auch sein ganzes Leben lang ein Rabe sein."
Ich nickte wissend. "Aber wie wird es dann mit der High School sein? Ich meine, ich kann doch nicht ganz zufällig immer am selben Tag im Monat krank sein."
"Ja, das wissen wir." Dad seufzte.
Ach, jetzt kam dieser Feigling etwa auch mal zu Wort?
"Also es ist so das... ähm wir ab sofort hier wohnen werden." Zumindest sah er mich diesmal an.
"Hier wohnen?", fragte ich unglaubwürdig. Ich war völlig überrumpelt. Hier in diesem großen Schloss, wo ich mich ständig verlaufe? Nein danke! Auf keinen Fall! Ich wollte nicht hierherziehen! Für jedes andere Mädchen würde ein Traum in Erfüllung gehen, bei dem Onkel, der ein berühmter Wissenschaftler und Milliardär ist, zu wohnen. Aber nein, nicht für mich! Hier steckten doch überhaupt keine Erinnerungen! Hier war ich nicht aufgewachsen! In der Umgebung gab es doch nichts außer den Fogforest! Ich konnte es mir nicht vorstellen ein Schloss als mein Zu Hause zu bezeichnen. Jeden Tag müsste ich mich in ein Korsett quetschen! Ich würde jede Sekunde wie ein Porzelanpüppchen behandelt werden! Könnte ich denn meine Freunde wiedersehen und überhaupt wieder zur Alhambra gehen?
"Und ändert das etwas an der High School?", fragte ich immer noch völlig irritiert.
"Na ja, ich weiß es wird dir nicht gefallen Jolina, aber du wirst Privatunterricht nehmen. Von einem Professor, der hier forscht", sagte Dad bestimmt, als wäre es schon beschlossene Sache. "Hier im Schloss", fügte er noch hinzu.
Das wurde ja immer besser! "Auf keinen Fall!", sagte ich laut. Als ob ich mich von einem verrücktem Professor unterrichten lassen würde! Und was war mit Grams, Grandpa und Scare, schoss es mir durch den Kopf. Würde ich sie je wiedersehen? "Was ist mit den anderen?"
"Du meinst Phil, Marry und Scarlett?" Er hielt kurz inne. "Sie werden glauben, dass wir für ein paar Jahre ausgewandert sind."
"Ausgewandert?", schrie ich schon fast. "Fünf Jahre? Wie kannst du ihnen das nur antun? Und mir?"
"Jolina!" Er baute sich auf. "Keine Widerrede!"
"Sag mal hörst du dich eigentlich selbst reden? Hier fragt mich ja wirklich niemand nach meiner Meinung! Wie es mir dabei geht, interessiert dich nämlich überhaupt nicht!" Ich stand mit einer schwungvollen Bewegung auf. "Darf ich wenigsten mit meinen Freunden ausgehen?"
Dad schüttelte den Kopf. "Alle sollen denken, dass wir beide uns im Ausland befinden. Du darfst dich nicht sehen lassen."
"Was?" In mir stiegen Tränen auf.
"Es ist besser so. Glaub mir. Diese fünf Jahre werden die härtesten deines Lebens. Da ist kein Kontakt besser. Vor allem wegen der Presse."
"Darf ich wenigstens telefonieren?"
"Meinetwegen," brummt er. "Aber komme ja nicht auf den Gedanken irgendjemandem davon erzählen! Nicht Betty, einfach niemandem! Falls es ans Licht kommen würde, würde die Presse sonst nur unnötiges Zeug erfinden und die Regierung würde Ezra, Liam und dich einsperren! Denn wir haben eine Abmachung, das ihr normal leben dürft und wir die Expirimente im Haddingtonschloss durchführen und ihnen die Ergebnisse dann schicken."
Ich schüttelte enttäuschend den Kopf. Das war zu viel! Viel zu viel! Wie konnte mir mein eigener Dad Kontakt zur Außenwelt verbieten?
Dann rannte ich weg
"Glaubst du etwa wegzurennen, wäre eine Lösung?", rief Dad mit verschränkten Armen. Seinen Blick hielt er auf die Tischkante gerichtet, als ich inne hielt und mich langsam umdrehte.
"Nein, das glaube ich nicht. Glaubst du etwa zu lügen, war eine Lösung?" Ich schaute ihn erwartungsvoll an. Ich hatte ins Schwarze getroffen, was ihn zur meiner Freude verletzte. "Du bestimmst für mich. Glaubst du etwa mir geht es besser, wenn du für mich bestimmst?"
Er schaute auf. "Ich bin dein Dad. Ich weiß was gut für dich ist."
"Ach ja? Dann schau mich mal an. Geht es mir gut?" Ich forderte ihn auf mich anzusehen. Ich blickte ihm fest in die Augen. Voller Hass. Wie konnte mein eigener Dad mir nur so etwas antun? Ich hatte immer gedacht er kannte mich besser. Er wusste, dass ich Kontakt zur Familie, Freunden und der Außenwelt brauchte. Fünf Jahre waren eine ewige lange Zeit, in der so viel passierte, wo ich nicht dabei sein konnte!
Ich wartete einige Sekunden ab. Aber er sagte nichts. Ich funkelte ihn an. "Wenn du es mir früher gesagt hättest, wäre ich jetzt nicht hier! Du hättest es so wie dein Bruder Mr Haddington machen sollen! Seine Söhne sind jetzt glücklich in einem Eliteinternat, wo sie viel erleben! Sie haben alles hinter sich und erinnern sich wahrscheinlich nicht mehr an viel von damals."
"Ach ja?" Dad's Augen wurden feucht. "Hättest du das wirklich gewollt? Als Baby und Kleinkind sich in einen Raben zu verwandeln? Du wüsstest nichts und wärst völlig verwirrt, was man nur mit Therapien wieder schwer hinbiegen kann. Du wärst ein völlig verwirrtes Baby und Kleinkind! Ich wollte das du eine normale Kindheit hast!"
Ich schüttelte enttäuschend den Kopf.
"Du glaubst nicht, dass es so besser für dich war?"
Ich nickte.
"Dann, dann stell es dir vor!" Tränen liefen ihm über sein rotes Gesicht. "Ein kleines Baby in eine Wolldecke eingewickelt! Mehr als seine Eltern, der Trinkflasche und seinem Bettchen hat es nicht gesehen! Und dann urplötzlich bekommt es solche Schmerzen, während es sich in einen Raben verwandelt! Deine Kindheit wäre völlig zerstört!"
Ich war sprachlos. Ich wusste nicht was ich denken oder sagen sollte. Ich hatte ihn noch nie so aufgelöst gesehen. Aber er hätte es mir trotzdem sagen sollen! "Ich geh nicht weg, um von meinen Problemen davonzulaufen. Sondern weil ich es so will! Ich will von dir weg!", antwortete ich tränenüberflutet von der Frage, die er mir vor Minuten stellte.
Ich trat aus der Flügeltüre und knallte sie zu. Für meine Verhältnisse aber viel zu leise. Ich blieb vor der Türe stehen und hörte wie Mr Haddington lachte. "Sie ist wirklich genauso wie Miss Grace Lockwood!"
Dad stöhnte schniefend. "Ach halte doch deinen Mund Armin."