Im Schatten

By suedie

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Yorkshire im 19. Jahrhundert. Helen, die Tochter eines Pächters verliebt sich in Vincent, den Sohn des Hausle... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 12

Kapitel 11

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By suedie

Aber das Blatt schien sich zu wenden. Vincent konnte drei oder vier Gedichte in einer Zeitschrift unterbringen und erhielt das Angebot, einen kleinen Band mit eigenen Texten zu veröffentlichen. Für einige Wochen war er Feuer und Flamme dafür, die richtigen Gedichte auszuwählen. Er verbrachte die Nächte damit, sie richtig anzuordnen, verwarf alles wieder, suchte nach Kategorien, Überschriften, verfasste ein Vorwort, verwarf dieses wieder und platzte beinahe vor Stolz, als das Büchlein schließlich in Druck ging.

Ich freute mich, als er es mir widmete und ihm den Untertitel „hündische Liebesbriefe" gab.

Es verkaufte sich natürlich nicht sehr gut, aber von den Tantiemen, die er ausbezahlt bekam, konnten wir uns kein kleines Sparpolster anlegen, das wir vielleicht irgendwann brauchen konnten, wenn wir dieses Haus verlassen würden.

Vincent sprach nun immer häufiger davon: „Geld fesselt einen und kein Geld zu haben, fesselt einen noch mehr."

„Wir haben doch keine Sorgen", sagte ich.

„Wir können nicht gehen, wohin wir wollen, ohne über kurz oder lang zu verhungern", sagte er.

„Was erwartest du denn? Ohne Anstrengung kann niemand überleben."

„Ich habe Albert sich in seinem Leben noch nie anstrengen sehen."

„Naja, er trägt vielleicht keine Lasten, aber er trägt die Verantwortung."

„Du glaubst das nicht wirklich, oder?"

„Man muss sich doch arrangieren."

„Aber muss man sich selbst belügen?"

„Wo würdest du denn hingehen wollen?", fragte ich.

„Überall hin. Willst du denn wie Welt nicht sehen? Stell dir nur mal vor, wir würden einmal quer durch Australien reiten, nur du und ich. Dafür ist das Leben gedacht, nicht um hier die Fenster von irgendeinem Lord zu putzen, der selbst unzufrieden ist, dass er an dieses neblige Stück Land gebunden ist. Wenn man in England geboren wird, hat man eigentlich schon verloren. Es ist der langweiligste Flecken Erde überhaupt. Alles ist reglementiert. Dein ganzes Leben ist vorgeplant, bevor du überhaupt geboren wurdest. Den Leuten ist egal, was du liebst, was du kannst oder was du willst. Sie sehen nur: Du bist adlig, also musst du zu einem Arschloch erzogen werden. Du bist ein Arbeiterkind, also muss niemand um dich weinen, wenn du im Dreck verreckst. Es ist eine Religion, Helen. Die Leute glauben, sie seien so aufgeklärt und so modern, aber statt an Gott und die Kirche glauben sie an Geld und an Stände. Und deshalb finde ich es besser, wenn man sich nicht zu viel mit Leuten abgibt."

Vincent war schon immer eher ein Misanthrop, aber je älter er wurde, desto mehr verhärtete sich seine Ansicht.

„Ein Eremit sein. Ich glaube, dass ist der Sinn des menschlichen Lebens. Wer nicht gestört wird, kann sein ganzes Potenzial ausschöpfen. Was könnte ich alles in der Einsamkeit schaffen! Aber ich bin hier und muss mich von den Mauern dieses Hauses erdrücken und zerquetschen lassen."

„Ich finde das sehr unhöflich", sagte ich, „Zumindest mir gegenüber."

„Aber dich meine ich doch nicht", sagte er, „Keine Einsamkeit wäre erträglich ohne dich. Ich will mit dir zusammen einsam sein, das musst du doch verstehen! Wenn ich von mir selbst spreche, meine ich immer auch dich, denn du und ich, wir sind eins. Ich allein bin nichts."

Es gefiel mir nicht, wie er mich nur noch als Teil einer Partnerschaft betrachtete und sagte es ihm, aber er verstand nicht, was ich meinte, denn er selbst betrachtete sich selbst als völlig unselbständig.

In dieser Zeit schrieb ich Emily lange Briefe und sie antwortete mit ihrem üblichen galligen Humor, den sie sich nie abgewöhnt hatte: „Alle Männer machen diese Krise durch, wenn sie feststellen, dass ihr Kopfhaar dünner wird und sie zum ersten Mal auf die Idee kommen, dass sie nicht mehr attraktiv sind und es möglicherweise auch nie waren. Ihnen fliegt ihr Selbstbetrug um die Ohren. Sie werden erwachsen und geben sich geschockt über sich selbst und ihre Dummheiten. Aber mach dir keine Illusionen, sie werden keine davon jemals zugeben und sich auch nie bei dir entschuldigen. Sie werden einfach nur stumm und lethargisch. Mehr kannst du nicht erwarten."

Ich erinnerte mich, dass auch Emily in ihrer Jugend den Wunsch verspürt hatte, ihre Heimat zu verlassen, vor all den Konventionen zu fliehen und fremde Länder zu erkunden.

Dazu schrieb sie: „Die meisten Länder der Welt sind heute ohnehin vom englischen Geist beseelt. Man kann nirgendwo mehr hinreisen, ohne auf Engländer zu treffen, was nutzt es also, all die Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen? Man müsste schon auf den Mond reisen, um ihnen zu entkommen."

Auch wenn sie mich immer noch amüsierte, konnte Emily mir nicht helfen. Vincent durchlebte keine Krise, die sich durch ein verfrühtes Einsetzen des Alterns erklären ließ und er resignierte auch nicht. In ihm hatte sich ein Krampf zusammengeballt, er stand permanent unter Strom, alle seine Muskeln waren angespannt, bereit, jederzeit zu kämpfen oder davon zu laufen.

„Das hier ist nicht alles", pflegte er zu sagen, „Etwas wird kommen. Das ist nur die Ruhe vor dem Sturm. Etwas wird passieren und wir müssen bereit sein."

„Aber was nutzt es, sich ständig zu fürchten, ständig auf der Hut zu sein, wenn man es doch nicht aufhalten kann?", fragte ich.

„Aufhalten nicht, aber kontrollieren", sagte Vincent, „Wir müssen die Kontrolle behalten."

„Worüber?"

„Über unsere Würde", sagte er, aber ich verstand nicht, was er meinte.

„Ich fürchte nicht um unsere Würde."

„Noch nicht. Es ist der Fluch, Helen, er lag zu keiner Zeit auf meiner Mutter. Sie hatte Unrecht. Ihr ganzes Leben lang hat sie sich umsonst gefürchtet und sie hat sich ganz umsonst umgebracht. Sie wollte mich retten. Ha! Helen, der Fluch lastet auf mir! Er ist nicht auf mich übergegangen, er lastete mein ganzes Leben auf mir. Ich bin es. Ich muss leben, während alle anderen von mir gehen. Ich lebe überhaupt nur, weil mein Bruder gestorben ist und ich bin ein Versager, weil ich der Letzte bin und der Letzte bleiben werden. Der Name meines Vaters wird aussterben mit mir. Sie alle sind gestorben, damit ich die Schuld daran tragen muss. Es ist mein Fluch. Es ging von Anfang an um meine Sünden."

„Du wirst doch nicht etwa plötzlich religiös werden?", fragte ich gespielt entsetzt, denn ich dachte er hätte einen Scherz gemacht.

Er blickte mich entgeistert an: „Das ist es ja gerade. Ich bereue nichts. Nicht aufrichtig. Ich würde alles noch einmal genauso machen. Ich weiß, da ist diese Schuld, aber ich will sie nicht wieder gut machen, denn ich finde, dass die Welt es verdient hat, so zu sein, wie sie ist. Ich will sie nicht verändern. Ich will niemandem helfen. Ich will nichts leisten und ich will ganz sicher nichts dafür bezahlen, dass ich ein menschenwürdiges Leben führen kann."

„Wenn dich Alberts Vorwürfe so sehr treffen, dass du dich bei mir dafür rechtfertigst, dass sie dich nicht treffen, solltest du vielleicht damit anfangen, diese Vorwürfe aus dem Weg zu räumen."

„Helen, deine Vorstellung von Leben ist so grau und eng. Ich liebe dich dafür und ich brauche dich deswegen, weil du mein Fels bist, das weißt du, aber ich kann mein Zeit nicht zur einen Hälfte damit verbringen, mir meinen Körper und meine Nerven zerstören zu lassen, um ihn in der anderen Hälfte der Zeit wieder zusammenzusetzen, damit ich später wieder bereit bin, um mich kaputt zu machen. Das ist Raubbau am Leben und ich will nicht, dass meine Kräfte, meine Gefühle und meine Gedanken erodiert werden, weil irgendjemand daraus Profit schlagen will oder es ihm einfach ein gutes Gefühl bereitet, Macht über mich zu haben. Ich will gehen, wohin ich will, ich will essen und schlafen, wann ich will. Ich will träumen und sagen, was ich will. Ich will keine Angst haben müssen. Ich will nichts müssen, aber alles dürfen, verstehst du? Es geht um Freiheit. Wir sind nicht frei, Helen, obwohl wir nirgendwo festgekettet sind. Trotzdem haben wir nur zwei Entscheidungsmöglichkeiten: Und hier gängeln lassen oder draußen im Schlamm verhungern. Und glaub ja nicht, dass es drüben in Amerika anders ist. Die lecken sich immer noch die Wunden aus ihrem letzten Krieg und wer garantiert ihnen, dass es keinen zweiten geben wird? Freiheit, das schreiben sie nur auf ihr Papier und dann zwingen sie dich, auf ihren Baumwollfeldern zu arbeiten. Was glaubst du, wer die Rohstoffe für deine Kleider hergestellt hat, Helen? Was glaubst du, wer die Stoffe gewoben hat? Wer hat sie vernäht? Seit die Menschen ihre Kleidung nicht mehr selbst herstellen, glauben sie, sie seien etwas Besseres. Sie fühlen sich ein bisschen wie Adlige, die sich mehr als eine Garderobe leisten können, dabei sind sie kein bisschen reicher geworden. Es gibt jetzt nur andere, die noch ärmer sind und auf die sie herabblicken können und das reicht ihnen. Niemand interessiert sich für Fakten, es geht immer nur um Gefühle. Du hast das Gefühl, relativ reich zu sein, wenn du Leute siehst, die ärmer sind als du. Aber wir beide, wir sehen jeden Tag nur Menschen, die reicher sind als wir und deshalb... deshalb wissen wir, wie es wirklich ist."

Seine Tiraden wurden mit den Jahren immer länger und extremer. Manchmal hatte ich Angst, dass eines Tages ausrasten und ernst machen würde.

„Wenn der Alte stirbt", sagte er, „kannst du dich darauf einstellen, dass hier ein anderer Wind weht. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob es nicht vielleicht sogar besser sein wird. Der Alte jedenfalls macht es einem nicht leicht, ihn zu hassen. Er gibt sich jovial und hofft, dass ihn das retten wird. So haben es die Fürsten immer getan. Gerade so viele Brosamen verteilt, dass niemand gegen sie aufgestanden ist. So konnten sie in ihrer Position verbleiben und ihren Traum vom Herrschen ausleben. Albert aber ist anders. Er ist gierig und jähzornig. Leute wie er versuchen, den wackeligen Stuhl, auf dem sie sitzen, mit Gewalt zu festigen – nicht mit Zugeständnissen. Leute wie er sterben üblicherweise nicht im Bett."

„Du willst ihm doch nichts antun!", rief ich entsetzt.

„Vielleicht nicht ich, aber vielleicht jemand anderes. Vielleicht du? Vielleicht sein Hund?"

„Du hast ihm das immer noch nicht verziehen?", fragte ich.

„Er hat sich bis heute nicht entschuldigt und er wird es auch nicht tun. Viel eher bedauert er, dass der Köter mich nicht vollständig in Stücke gerissen hat. Jeden Tag sieht er mich und wird daran erinnert, dass wegen mir sein geliebter Hund sterben musste und dafür hasst er mich. Ich bin ihm weniger wert ein sein toter Hund. Irgendwann wird es soweit sein und einer von uns beiden wird sich rächen."

„Aber Vincent, was redest du denn?", rief ich, „Du wirst ihm doch nichts antun! Was soll dieser Groll? Warum söhnt ihr auch nicht endlich aus? Ihr seid doch keine Kinder mehr."

„Was tue ich noch hier, Helen? Ich leiste nichts, ich helfe ihm nicht, ich produziere nichts, ich mache ihm sein Leben nicht angenehmer. Wieso sollte er sich mit mir aussöhnen? Er will mich weghaben und ich will ihn weghaben."

„Weghaben", wiederholte ich, „Verwende gefälligst andere Wörter. Wir reden so nicht über andere Menschen!"

„Er will mich vernichten und ich will ihn..."

„Vincent!"

„Ich will ihn auf ein normales Maß zurückstutzen", sagte er.

„Diese Phantasien, die du da hast, enden normalerweise nicht mit einer Belehrung, sondern mit Mord. Ich will nicht, dass du an so etwas auch nur denkst!"

Er zeigte mir seine Hände und sagte: „Glaubst du diese Hände können töten?", er lachte, „Sie können nicht einmal arbeiten, wie sollen sie töten können? Das sind Hände die Wörter auf Papier kritzeln, mehr nicht. Die halten eine Feder, keinen Dolch."

„Man hat schon von Menschen gehört, die töteten mit der Feder statt mit dem Schwert", sagte ich.

„Es gibt ungerechtes Leben und gerechte Tode", erwiderte Vincent, „Die Mittel sind dabei eher unerheblich. Die Feder jedenfalls steht dem Recht näher als das Schwert."

„Was ist schon Recht?", fragte ich, „Außer beschriftetes Papier? Geschriebenes Wort... Etwas Verlogeneres gibt es nicht."

„Töten oder Töten lassen?", sinnierte Vincent, „Das ist hier die Frage..."

„Jetzt hör aber auf damit!", rief ich, „Niemand tötet hier irgendwen!"

Hast du wirklich geglaubt..."

„Manchmal weiß ich bei dir nicht mehr, was ich glauben soll, Vincent!", unterbrach ich ihn.

„Verlogen bis auf die Knochen."

„Ach, du willst mich nur provozieren!", sagte ich und wollte das Gespräch abbrechen.

Vincent hingegen hielt das Schweigen nur für einige Minuten durch und sagte: „Glaubst du an Magie, Helen?"

„Was?", fragte ich entnervt.

Er war wieder völlig ruhig und gefasst. Er wiederholte sie Frage, denn er meinte sie bitterernst: „Magie, Helen? Glaubst du an Zauberei, übernatürliche Phänomene, Dinge, die nicht und niemals erklärt werden können?"

„Ich glaube nicht", sagte ich, nachdem ich kurz darüber nachgedacht hatte, „Das heißt... vielleicht schon ein bisschen. Aber nur weil es Dinge gibt, die man nicht verstehen oder erklären kann, heißt das nicht, dass sie magisch sind."

„Wie würdest du Magie denn definieren?"

Ich überlegte: „Vielleicht wenn sich Dinge bewegen, ohne dass jemand einen Impuls gegeben hat."

„So wie ein Magnet?"

„Ein Magnet ist ein Impuls", beharrte ich.

„Was, wenn du den Impuls nicht wahrnehmen kannst, er aber trotzdem da ist?"

„Dann würde ich es wahrscheinlich als Magie bezeichnen", sagte ich, „Fälschlicherweise."

„Wir können also nie sicher sein."

„Nein, nie", sagte ich.

„Also könnten deine Impulse auch bloß Illusionen sein, Irrungen, Sinnestäuschungen. Kollektive Sinnestäuschungen. Was, wenn uns die ganze Umwelt belügt. Kannst du deinen Augen trauen, Helen? Und wenn nicht, kannst du deinen Gedanken trauen? Und wenn nicht, kannst deinen Worten oder meinen Worten trauen? Was ist wirklich und was nicht?"

„Was ist mit dir? Glaubst du an Magie?", fragte ich.

„Definitiv", sagte er.

„So?"

„Alles ist magisch. Alle Wissenschaften sind Betrug. Jeder der behauptet, er wüsste irgendetwas oder könnte irgendwas endgültig berechnen, lügt. Die einzige Wahrheit, die es gibt, ist die in der Poesie und auch die ist magisch. Jedes Gedicht ist eine Zauberformel. Und sie alle bewirken etwas in deinem Herzen und in deinem Kopf. Und sie bewirken auch etwas in Albert. Sie machen ihn wütend, weil er nicht versteht, was mit ihm geschieht. Er kämpft gegen seine eigene Hilflosigkeit, nicht gegen mich. Ich bin nur derjenige, der ihm nicht ins Gesicht lügt. Denn ich weiß, wie er sich fühlt. Er ist allein in der Welt und er weiß nicht, was er tun soll. Er hat Angst und niemanden, dem er es zeigen kann. Aber er weiß, dass ich es weiß und er schämt sich und fürchtet, ich könnte ihn verraten. Er glaubt, er könnte seine ganze Macht verlieren, wenn er seine Macht über mich verliert. Die Wahrheit ist, dass er schwach ist, deshalb muss er sich hart geben."

Vincent sagte diese Dinge, als glaubte er sie selbst, aber ich wusste, dass er sich nur Mut zusprach. Der Schatten war immer irgendwo in der Nähe. Er wartete und lauerte in den Ecken und unter den Möbeln. Der Schatten verkroch sich in seinen Worten, aber er schlief nie. Er zeigte sich in Vincents Stimme, wenn sie zittrig wurde, in seinen Augen, wenn sie zu glänzen begannen, in seinen Händen, wenn sie sich unwillkürlich zu Fäusten ballten.

Vincent hatte Angst. Er war schon einmal angegriffen worden und er konnte jederzeit wieder angegriffen werden. Er war schutzlos und unbewaffnet. Er konnte jederzeit überall getroffen werden und jeder Einschlag konnte seine Welt erschüttern.

Ich merkte, wie er spürte, dass ihm die Zeit davonlief. Er hatte nichts vorzuweisen, nichts zu seiner Verteidigung vorzubringen, nichts geleistet, nichts Gutes geleistet, nichts bewirkt, nichts verändert, niemanden bewegt. Er lebte ein Leben, das nicht gelebt werden musste – nicht zwingend. Eine Welt ohne ihn wäre nicht ärmer, nichts würde vermisst werden, sein Platz müsste nicht ersetzt werden.

Das große Rätsel, was ein Leben ist und was wir damit anstellen sollten, hatte er noch nicht einmal in Angriff genommen, er hatte sich einfach geweigert und jetzt merkte er, dass ihm etwas fehlte. Vincent glaubte nicht an Schicksal oder Bestimmung, aber er glaubte an Bedeutsamkeit. Menschen konnten über ihren Tod hinaus bedeutsam sein und näher konnte man der Unsterblichkeit nicht kommen.

Er dachte jetzt viel nach und fragte mich kryptische Dinge. Ob ich glaubte, dass er eine Seele hätte, ob man eine Seele geschenkt bekäme, oder sich erarbeiten musste. Ob ich glaubte, dass es verbindliche Tugenden gäbe. Er war sich da nicht mehr so sicher...

„Früher habe ich geglaubt, ich wüsste vieles. Heute weiß ich nicht mal mehr, was Wissen bedeutet, wie es sich anfühlt, wie man es nachweist, wie man es weitergibt. Mir bleibt nur noch, zu glauben, aber das habe ich nie gelernt."

So fühlte es sich an, wenn man seine Überzeugungen verlor, als bröckelte die eigene Fassade und enthüllte ein dahinterliegendes Vakuum. Wer bin ich? Was bin ich, wenn ich mich selbst ablehne? Solche Fragen stellte er sich. Was ist da noch, wenn ich alles von mir wegschiebe, wenn ich mich nur noch darüber definiere, was ich nicht sein will? Und was bedeutet eigentlich wollen? Wenn ich etwas nicht sein will, bedeutet das dann automatisch, dass ich es auch nicht sein muss? Ich will kein Lügner sein, trotzdem lüge ich. Ich will kein Feigling sein.

Er schlief schlecht und wenn er mal ein Auge zutat, redete er in seinen Träumen. Ich wusste immer genau, mit wem er sich auseinanderzusetzen hatte. Seine Mutter, die ihn um Verzeihung bat, während er mit sich rang, sie ihr zu gewähren, sein Bruder, der ihm sein Leben nicht gönnte und sein Vater, der seine Enttäuschung längst nicht mehr so gut verbarg wie zu Lebzeiten.

„Helen", sagte er, „Was für einen Sinn hat der Tod, wenn man nicht verschwindet? Werden wir vielleicht alle zu Geistern, die Lebenden zu richten und zu strafen? Es ist nicht so, dass ich sie nicht liebe, aber ich ertrage es nicht, sie zu sehen und dann aufzuwachen und mich zu fragen, was wirklich ist. Sie, am Leben, das ist, was sein sollte und nicht diese Leere, diese Farblosigkeit."

Der Tod ist ein Teil des Lebens. Diese Binsenweisheit ist leicht dahingesagt, leicht zu verstehen, aber wenn man es spürt, wenn man es richtig verinnerlichen muss, dann tut es weh. Körperlich und seelisch. Während Vincent den Verlust seiner Familie verarbeiten musste, sagte er häufig Sätze wie: „Ich wünschte, ich hätte keine Seele. Ich möchte sie mir herausreißen und auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Ich will sie nicht mehr. Ich will meine Ruhe haben. Ich will die Gleichgültigkeit eines kleinen Kindes. Ich will die Gelassenheit eines Toten."

Aber Vincent war kein gelassener oder gleichgültiger Mensch. In Wirklichkeit wurde er unruhig und unleidlich, wenn es nichts gab, über dass er sich echauffieren konnte. Er sah so viel Ungerechtigkeit, dass er es sich nicht erlaubt, ruhig zu bleiben. Nur etwas zu unternehmen, das schaffte er nicht.

Das war die große Tragödie seines Lebens. Er schmiedete große Pläne, hatte tausend Ideen und brachte nichts davon zu Ende. Das meiste davon schaffte er nicht einmal, zu beginnen. Vincent interessierte sich nur für Ideen, die Umsetzung langweilte ihn meist. Er liebte Musik, schaffte es aber nie, das Spielen eines Musikinstrumentes zu erlernen. Er hatte eine blühende Phantasie, aber ein Bild zu malen oder auch nur irgendetwas mit seinen Händen herzustellen, schaffte er nicht. Es langweilte ihn, sich zu lange mit etwas beschäftigen zu müssen. Er wollte alles und er wollte alles schnell, aber er wollte nicht dran bleiben, er wollte mehr, er wollte all das, was er gerade nicht hatte und was ihn gerade beschäftigte, fand er minderwertig und uninteressant.

In vielerlei Hinsicht war er wie ein kleines Kind, unstet und wild und er konnte es sich leisten, so zu sein, solange ich das Geld verdiente und wir im Haus der Brighmans leben durften. Wir waren sicher, solange der alte Lord lebte. Aber Alberts Kinder wurden größer und bald würden sie einen Lehrer brauchen und der wiederum würde eine Wohnung brauchen.

Vincent wusste, wer als erster das Haus verlassen musste, wenn Albert etwas zu sagen bekäme. Er wusste es, aber sagte es nicht. Zumindest nicht direkt. Es sagte andere Dinge. Zu Beispiel fragte er mich, wie alt Mrs. Taylor eigentlich war und ob sie ihre Aufgaben noch alle erfüllen konnte. „Ich bin sicher, dass du besser bist als sie. Du hast viel von ihr gelernt, aber du bist definitiv klüger, schneller und geschickter als sie."

Das stimmte nicht, aber ich freute mich über sein Kompliment.

„Ich werde mit Lord Brighman sprechen", schlug er vor, „Er soll dich befördern. Du könntest ihre Assistentin sein. Die Lady braucht immer mehr Hilfe und Mrs. Taylor wird auch nicht jünger. Ich finde du hast es verdient, eine bessere Position zu bekommen."

Ich bat ihn, nicht mit dem Lord zu sprechen. Wenn, dann wollte ich es selbst tun und ich sah keine Notwendigkeit. Vor allem aber wollte ich Mrs. Taylor nicht in den Rücken fallen. Wenn sie eine Assistentin brauchte, würde sie es selbst ansprechen und sie würde einen Vorschlag machen. Und ich war mir sicher, wenn es so weit war, würde sie meinen Namen nennen.

Sie mochte mich, wusste, dass sie sich auf mich verlassen konnte. Vor allem lobte sie meine Integrität. Diese würde ich nicht aufs Spiel setzen, indem ich sie hinterging. Auch meine Mutter riet mir davon ab, um eine Beförderung zu bitten.

„So etwas macht man nicht", sagte sie, „So etwas muss von oben kommen, nicht von unten."

Dennoch bat sie mich darum, ein gutes Wort für Hannah einzulegen, die nun alt genug war, um eine Stellung anzunehmen. Und so kam es, dass ich meine eigene Schwester anlernen musste.

Es ging mehr schlecht als recht, denn Hannah wollte sich nichts von mir sagen lassen. Mrs. Taylor musste sie mehr als einmal ins Gebet nehmen, ehe meine Schwester meine Anweisungen befolgte.

„Du kommandierst mich herum!", behauptete sie.

„Ich versuche, dir zu zeigen, was deine Aufgaben sind", sagte ich.

„Es sind deine Aufgaben und du wälzt sie auf mich ab!"

So ging das den ganzen Tag und ich war froh am Abend die Dienstmädchenkluft ablegen zu können.

Mein Leben hatte sich festgetreten. Ich hatte einen Alltag und es ging mir gut damit. Ich hatte keine Sorgen, aber auch keine Aufregung. Vincent sorgte für ein wenig Abwechslung, aber auch er verursachte mir keine schlaflosen Nächte. Wir kannten uns inzwischen in- und auswendig. Ich wusste, was ich ernst nehmen musste und was nicht. Wir kannten den Schatten beide und wussten, damit umzugehen. Die Dinge sind weit weniger furchteinflößend, wenn man sie ansieht, wenn man sie anspricht, wenn man sie versteht.

„Es ist nicht leicht mit mir, ich weiß", sagte Vincent.

„Ohne dich würde ich es hier nicht aushalten", erwiderte ich.

„Das heißt, ich halte dich hier fest? Ohne mich wärst du schon in Australien oder Indien oder China? So wie Nellie Bly? Einmal um die ganze Welt?"

„Nein, aber vielleicht in Doncaster", sagte ich.

„Und was würdest du da machen?"

„Vielleicht würde ich in einem Teegeschäft arbeiten."

Mein Kontakt zu Emily schlief ein wenig ein. Ich konnte nicht sagen, ob sie resigniert hatte oder enttäuscht davon war, wie konventionell Vincent und ich in Wirklichkeit lebten. In einem ihrer seltener gewordenen Briefe schrieb sie: „Es wundert mich, dass du nicht erkennst, wie sehr er dich ausnutzt."

Das ärgerte mich. Es war einfach nicht wahr. Wir waren ja keine Zweckgemeinschaft. Vincent und ich liebten uns aufrichtig. Natürlich teilte ich alles mit ihm, denn ich wusste, dass er das gleiche für mich tun würde. Und Geld war schließlich nicht alles. Er gab mir sehr viel mehr, als man mit Geld hätte kaufen können und eigentlich waren wir recht glücklich und sorglos.

„Findest du, wir sind ein seltsames Paar?", fragte ich Vincent, um ganz sicher zu gehen.

„Was meinst du mit „seltsam"?", fragte er zurück. Er antwortete nie direkt auf eine Frage, sondern musste immer erst die Frage in Frage stellen. Manchmal machte mich das wahnsinnig.

„Na, ob wir normal sind? So wie andere Ehepaare?"

„Wir haben keine Kinder. Wir leben in einem Haus, das uns nicht gehört und du verdienst unseren Lebensunterhalt. Welche Antwort auf diese Frage könnte ich dir wohl geben?"

„Ich finde, wir sind ein völlig normales Paar", beharrte ich.

„Wenn du es so willst", erwiderte er, „Am Ende sind „seltsam" oder „normal" auch nur Wörter, die für jeden etwas anderes bedeuten. Wer dir wohlgesonnen ist, wird sie wohlwollend interpretieren. Wer dich nicht mag, wird sie dir zum Vorwurf machen."

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