KAPITEL SIEBZIG
T H E D E A T H W H I S P E R E R
AVERY CARTER
Als Avery aufwachte, weinte sie.
Sie saß kerzengerade in ihrem Bett, ihre Haut fühlte sich fiebrig an und sie schwitzte. Sie hatte wieder einen Albtraum gehabt, wie schon so oft in letzter Zeit. Ihr Vater hatte darin zu ihr gesprochen.
Sie sah sich um. Ginny und die anderen Mädchen schliefen noch. Leise stand sie auf und tappte auf Zehenspitzen ins Badezimmer hinüber. Draußen war es dunkel. Sie ging auf die Toilette und wusch sich ihr Gesicht mit kaltem Wasser, bevor sie den Kopf hob und einen kurzen Blick in den Spiegel warf. Ihre Wangen waren rot und ihre Augen blutunterlaufen. Sie seufzte leise, dann verließ sie das Bad und entschied, die restlichen Stunden bis zum Frühstück unten im Gemeinschaftsraum zu verbringen.
Sie setzte sich auf eines der Sofas, das an einem noch brennenden Kamin stand, wickelte sich in eine Decke ein und zauberte mit einem Schwung ihres Zauberstabes ein Buch aus dem Nichts hervor. Sie las eine Weile, bis ihr die Augen weh taten, und sie den Wälzer wieder zu klappte. Sie streckte sich gähnend und blinzelte, dann bemerkte sie plötzlich eine Bewegung im Augenwinkel und zuckte erschrocken zusammen.
Auf dem Teppichvorleger zu ihren Füßen saß kein geringerer als Sirius Black.
Avery starrte ihren Vater an, kniff einmal kurz die Augen zu und öffnete sie dann wieder. Er war noch da. Warum war er noch da? „Du bist hier", stellte sie fest und er grinste sie breit an.
„Offensichtlich", sagte er, hob dann seine Finger vor die Augen und betrachtete sie neugierig.
„Aber du bist nicht echt. Du existierst nur in meinem Kopf, oder?"
Langsam ließ Sirius seine Hände wieder sinken und sah sie nachdenklich an. „Ich bin nicht sicher", sagte er.
„Aber du bist tot, nicht wahr?", fragte sie und ihre Stimme zitterte.
Sirius seufzte leise und zog seine Beine dann in einen Schneidersitz. „Ja", sagte er niedergeschlagen. „Ich bin tot."
Avery biss sich auf die Unterlippe. „Wie kann es dann sein, dass du hier bist? Warum kann ich dich sehen?"
Sirius zuckte mit den Schultern. „Seit ich gestorben bin, kann ich die Präsenz der Lebenden spüren. Ich weiß nicht, warum, und ich weiß auch nicht, wieso ich dich jetzt auf einmal sehen und mit dir reden kann, ich weiß nur, dass es so ist."
„Werde ich verrückt?", fragte Avery besorgt und Sirius lachte daraufhin leise.
„Das bezweifle ich", erwiderte er.
Sie schwiegen eine Weile und sahen einander einfach nur an, bis Sirius schließlich das Gesicht abwandte und resigniert seufzte.
„Ich wollte nicht, dass es so kommt, ich hoffe, das weißt du", sagte er. „Ich war in den letzten Jahren nur auf der Flucht, ich hab es gehasst, mich die ganze Zeit verstecken zu müssen."
Avery lächelte schwach. „Ich weiß, Mum hat mir davon erzählt."
„Ich habe nur versucht zu helfen. Ich wollte nicht sterben, glaub mir. Ich habe mein Leben geliebt, bevor das alles passiert ist." Er machte eine kreisrunde Handbewegung. „Bevor Harrys Eltern von Voldemort getötet worden waren und ich im Gefängnis gelandet bin. Und ich wollte auch dich und deinen Bruder nicht alleine lassen. Das tut mir unendlich leid."
Avery sah ihn nachdenklich an. „Ist schon okay", sagte sie, doch Sirius schüttelte den Kopf.
„Nein, ist es nicht. Ich werde mir vermutlich nie verzeihen können, was ich euch angetan habe", sagte er und Avery lächelte ihn beruhigend an.
„Mum hat uns erzählt, was passiert ist", sagte sie. „Also mach dir mal keine Sorgen, dass Charlie und ich dir nicht vergeben können. Bei Mum wäre ich mir da allerdings nicht so sicher", überlegte sie und Sirius' Lippen verzogen sich zu einem belustigten Schmunzeln.
„Ja, das klingt sehr nach ihr", stimmte er zu und die beiden brachen in Gelächter aus.
Als sie wieder verstummten, breitete sich ein angenehmes Schweigen zwischen ihnen aus. Avery sah ihren Vater vorsichtig an. „Aber du musst wieder gehen, hab ich Recht?", fragte sie irgendwann zögerlich und Sirius seufzte.
„Ich schätze schon."
Avery senkte den Kopf und starrte auf ihre Finger. „Ich wünschte, du könntest bleiben. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit."
Sie konnte hören, wie der Vorleger raschelte und Sirius plötzlich neben ihr saß. Er legte eine Hand auf ihre. Sie konnte seine Wärme spüren, obwohl er eigentlich gar nicht da war. „Avery", sagte er. Sie hob den Blick und sah direkt in seine grauen Augen, die ihren so ähnlich waren. Er zögerte einen kurzen Augenblick, dann lächelte er schwach. „Ich bin sehr stolz auf dich. Und natürlich auch auf Charlie. Ich hätte für euch da sein müssen und es tut mir leid, dass ich das nicht konnte. Aber seht euch nur an, ihr seid auch ohne mich erwachsen geworden, und zu unglaublich talentierten Zauberern. Ich meine, du kannst offenbar mit den Toten reden. Wer kann das schon von sich behaupten?"
Avery erwiderte sein Lächeln und lehnte sich dann vor, um ihn zu umarmen. Zuerst wirkte Sirius überrascht, bevor er seine Arme um sie legte und sie an sich drückte. „Danke, Dad."
Als sie sich wieder voneinander lösten, lächelte Sirius noch ein letztes Mal an. „Bis bald, Ave", sagte er. Dann blinzelte Avery einmal und er war weg.
Sie drehte sich auf dem Sofa und sah sich um. Sie war wieder allein. Sie seufzte leise, ehe sich in ihrem Gesicht ein Lächeln bildete.
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In der Eingangshalle stand eine sich bewegende Fotografie von Cedric, drum herum lagen Blumen und ein paar immer brennende Kerzen.
„Ist das Cedric Diggory?", fragte Eliot und Avery drehte sich zu ihm um.
Mittlerweile blieb sie nicht mehr deshalb stehen, manchmal ging sie einfach weiter, ohne dem Bild auch nur einen Blick zuzuwerfen.
Eliot war stehen geblieben.
Avery ging langsam zurück zu ihm. „Ja, das war er", seufzte sie.
„Er war erst siebzehn, oder?"
Avery nickte. „Er war der Favorit des Turniers", erzählte sie leise. „Er hat immer das Gute in den Menschen gesehen. Er wollte sich sogar den Sieg mit Harry teilen."
Eliot sah sie neugierig von der Seite her an. „Kanntest du ihn gut?"
Avery starrte einen kurzen Moment auf Cedrics lachendes Gesicht, dann seufzte sie. „Nicht besonders", sagte sie und sah Eliot dann schulterzuckend an. „Aber es ist immer hart, wenn jemand in deinem Umfeld stirbt."
Eliot starrte sie an und war sich dabei nicht ganz sicher, ob sie wirklich von Cedric sprach. „Meinst du deinen Dad?", sprach er letztendlich seine Gedanken aus.
Avery sah ihn an und zu seiner großen Überraschung verzogen sich ihre Lippen zu einem schwachen Lächeln. Sie musste an die Nacht denken, in der sie ihn gesehen und mit ihm geredet hatte. „Du sagst auch immer das, was du gerade denkst, oder?", fragte sie ihn belustigt.
Eliot zuckte mit den Schultern. „Naja—", sagte er gedehnt.
„Wir sollten jetzt in den Unterricht. Komm schon", unterbrach Avery ihn jedoch und setzte sich dann wieder in Bewegung. Sie drehte sich nicht noch einmal nach dem Foto um.
𓆸
„Meine Mum? Und dein Dad?", fragte Avery ungläubig und Eliot nickte. Sie saßen am Feuer im Gemeinschaftsraum und waren eigentlich gerade dabei, ihre Hausaufgaben zu machen.
„Ja, sie waren früher befreundet. Mein Dad ist in der Schulzeit mit einer Hannah Travers gegangen."
Avery runzelte die Stirn. „Travers", murmelte sie. „Ich kenne diesen Namen. Meine Mum hatte eine Freundin, die so hieß. Sie ist gestorben."
Eliot nickte. „Sie wurde von ihren eigenen Cousins umgebracht", sagte er. „Ich glaub, mein Dad ist nie so richtig über sie hinweggekommen. Erst als er meine Mum kennengelernt hat."
Avery schwieg nachdenklich.
„Er ist abgehauen und nach Irland gegangen, als die Potters damals von Du weißt schon wem ermordet worden waren", fuhr Eliot dann fort. „Er war lange Zeit glücklich, aber irgendwann ist meine Mum dann kaum noch zu Hause gewesen. Sie war immer nur arbeiten und letztendlich kam dann raus, dass sie nebenbei noch eine Affäre hatte."
Avery sah ihn mitleidig an. „Das tut mir leid", sagte sie, doch Eliot schüttelte den Kopf.
„Ist schon okay", sagte er. „Als sie sich getrennt haben, hat mein Dad mir die Wahl gelassen. Entweder ich bleibe in Irland bei ihr, oder ich komme mit ihm nach London und wechsle die Schule. War keine schwere Entscheidung."
„Hogwarts ist cool. Und die meisten Leute hier auch", sagte Avery achselzuckend und Eliot grinste breit. „Ich frag mich nur", fuhr sie dann mit gerunzelter Stirn fort. „warum Mum mir nie davon erzählt hat. Aber wenn ich so drüber nachdenke, hat sie nie besonders viel mit Charlie und mir geredet. Und als Sirius gestorben ist, hat sie sich nur noch mehr verschlossen."
„Sie ist wahrscheinlich traurig."
Avery hob den Kopf. „Das bin ich auch", sagte sie nachdrücklich, wandte anschließend aber hastig das Gesicht von Eliot ab. Sie fuhr sich erschöpft über die Augen. „Ich weiß auch nicht, ich meine, ich weiß, dass sie viel durchgemacht hat. Und dass viele von ihren Freunden gestorben sind und sie wahrscheinlich nie so richtig darüber hinweggekommen ist. Ich wünschte nur, sie würde mit uns darüber reden und uns nicht einfach aus ihrem Leben ausschließen."
Eliot betrachtete sie nachdenklich. „Avery—"
„Ich geh jetzt ins Bett, Eliot. Tut mir noch mal leid, das mit deinen Eltern", fiel sie ihm jedoch ins Wort und erhob sich.
„Sag mal, gefällt es dir, mich andauernd zu unterbrechen?", fragte Eliot belustigt und Avery grinste ihn an.
Sie sammelte ihre Bücher und Pergamentblätter ein und zuckte nur mit den Schultern. Dann drehte sie sich um und verließ den Gemeinschaftsraum.