Mit einem Blick vergewisserte ich mich, dass meine Gruppe bei mir war.
„Los, viel Spaß!", rief Henry lachend und brachte sich mit einem Satz in Sicherheit.
Sofort stürmten alle los. Ich musste Cocos Hand loslassen, verlor für ein paar Sekunden in dem Gedränge und Geschubse die Orientierung, dann erspähte ich Luis und brach links aus der Meute aus, die sich unglaublich schnell durch die Tür im Zaun in den Wald hineingedrückt hatte.
Ich stolperte leicht und wäre beinahe in eine Kamera geknallt, gerade noch konnte ich nach unten an ihr vorbeitauchen. Überall um mich herum waren Bäume und andere Jugendliche. Keuchend drehte ich mich zu dem Kameramann um und wollte gerade eine Entschuldigung stammeln, als der Mann mich unwirsch vorbeiwinkte.
Ich biss die Zähne zusammen und versuchte in den auseinanderlaufenden Jugendlichen Ben, Luis oder Coco auszumachen.
Da! Coco stand mit Ben genau auf der anderen Seite der Meute. Die beiden schienen nach uns Ausschau zu halten, Luis konnte ich jedoch nicht mehr entdecken.
Ich beobachtete, wie immer mehr Gruppen im Unterholz verschwanden, jede von einer Kamera verfolgt.
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, dann holte ich tief Luft und drängte mich an den letzten Jugendlichen vorbei zu Coco und Ben.
„Maria!" Ben winkte mir zu. Ich hatte ihn fast erreicht, als ich mit jemandem zusammenstieß.
„Pass doch auf!", schnauzte der Junge mich an und rannte dann, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, weiter.
Grimmig sah ich ihm hinterher und stellte mich neben Coco.
„Wo ist Luis?", wollte ich wissen und ließ meinen Blick hastig an einer Kamera, die direkt auf uns drei gerichtet war, vorbeischweifen.
„Keine Ahnung", antwortete Coco besorgt und verstrubbelte sich die roten wilden Locken. Ihr schien es genauso schwer zu fallen, die Kameras zu ignorieren. Hoffentlich würden wir uns noch an sie gewöhnen.
„Als wir losgelaufen sind, habe ich ihn noch gesehen, aber jetzt ... Er ist einfach weg!"
„Ich wollte mich nur nicht überrennen lassen", hörte ich Luis Stimme hinter mir, und als wir uns umdrehten, grinste er uns gelassen an.
„Mann, du hättest dich ruhig früher zeigen können", drohte Ben spielerisch und knuffte ihn. Luis grinste nur.
Es waren noch drei Kameras da, zwei verschwanden gerade hinter den letzten anderen Jugendlichen im Wald. Die Letzte war auf uns gerichtet und die Frau ging langsam um uns herum. Ich atmete tief durch und ignorierte sie trotz des unangenehmen Prickelns in meinem Nacken.
„Dann lasst uns endlich von hier verschwinden, wir sind die Letzten", bemerkte Coco und schüttelte den Kopf.
Wir joggten los, erstmal in die Richtung, in die auch die anderen Gruppen gelaufen waren: mitten in den Wald, möglichst weg vom Zaun. Schließlich war er eine unüberwindbare Barriere und wir wollten nicht riskieren, dort in die Enge getrieben zu werden.
Schon bald war von der Wiese und dem hohen Drahtzaun nichts mehr zu sehen, die Bäume standen immer dichter und wir mussten immer öfter hintereinander laufen. Der Geschmack des Sommers lag in der Luft und das Licht wirkte grünlicher. Der Boden war zwar fast vollständig von Blättern bedeckt, doch trotzdem wuchsen hier einige Pflanzen.
Ich warf einen flüchtigen Blick über meine Schulter und erspähte die Kamera, die uns folgte.
In dem Moment stolperte ich leicht über eine Wurzel und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den grünen Waldboden.
Ben lief an mir vorbei zu Coco, Luis blieb hinter mir.
„Suchen wir erstmal nach einem geeigneten Versteck?", fragte Coco und drehte sich halb zu uns um.
„Dann sollten wir vielleicht weiter nach rechts, da sieht es dichter aus", bemerkte Luis und schloss zu mir auf.
„Aber was machen wir, wenn wir genau auf ein Lager der Jäger zulaufen?", fragte ich besorgt und sprach damit die Frage aus, die mir seit ein paar Minuten im Kopf herumirrte.
Die anderen sahen sich ratlos an.
„Wir hoffen einfach mal, dass es nicht so ist", sagte Coco und Luis nickte.
„Wenn wir eins sehen, können wir ja wieder in die andere Richtung laufen. Aber sonst haben wir keine Ahnung, wo die Dinger sind. Vielleicht laufen wir auch gerade genau von einem weg."
Ich lächelte etwas beruhigter. „Dann lasst uns nach rechts gehen."
Sofort lief unsere Gruppe schräg auf ein paar große, grüne und sehr dornig aussehende Büsche zu. Ich seufzte kaum merklich und war auf einmal froh über die langen Hosen, die wir bekommen hatten.
Coco vor mir stoppte kurz vor den Büschen und sah sich Hilfe suchend zu mir um. Ich blieb neben ihr stehen und mein Verdacht bestätigte sich: Die Büsche waren mehr als nur leicht dornig, die bestanden fast nur aus Dornen!
Ich runzelte die Stirn und lächelte plötzlich.
„Ist doch super, dann wird doch hoffentlich keine andere Gejagtengruppe hier durch sein."
Ben nickte. „Und vielleicht lassen die Jäger das Gebiet erstmal in Ruhe."
Es entstand eine kleine Pause und niemand ging los. Schließlich riss ich mich zusammen, hob meine Arme hoch und lief langsam vorwärts. Sofort waren Ben, Luis und dann Coco hinter mir.
Vorsichtig versuchte ich den dichtesten Bereichen auszuweichen, soweit ich das überschauen konnte.
Die Äste rutschten an meinem T-Shirt vorbei, die wenigsten gingen so hoch, dass sie meine Arme erreichten.
„Autsch", fluchte Ben hinter mir, als ein Ast, den ich zur Seite gedrückt hatte, zurückschnellte und ihn traf.
„Sorry!", sagte ich entsetzt, konnte mich jedoch nicht umdrehen, da mich sofort sämtliche Zweige in den Bauch piksten.
Ein „Schon okay" kam von Ben und im gleichen Moment ein lautes „Aua verdammt!" von Coco.
Nur Luis schien halbwegs unverletzt an den ganzen Dornen vorbeizukommen. Ich spürte, wie die spitzen Stacheln an meinem T-Shirt entlangrutschten, doch zum Glück blieben sie nicht am Stoff hängen.
Endlich wurden die Büsche weniger und ich kam wieder auf laubbedeckten Waldboden.
Hinter mir zwängte sich Ben gerade an der letzten Dornenranke vorbei und blieb erleichtert stehen. Ich wischte mir ein paar Blätter von der Hose und zog einen besonders langen Dorn heraus, der mich zum Glück nur gekratzt und sich nicht in mein Bein gebohrt hatte. Luis schien wirklich der Einzige zu sein, der nichts abbekommen hatte. In Cocos Haaren hatten sich ein paar kleine Zweige verfangen, Ben hatte einen roten Kratzer auf der Wange und meine Hose war von Dornen nur so gespickt.
Hoffentlich war der restliche Wald dornenfrei.
„Die Kamera sind wir auf jeden Fall auch los", kicherte ich, nur um mich gleich darauf erschrocken umzusehen, ob wir auch wirklich alleine waren.
Coco lachte und zog sich einen etwas größeren Zweig aus den Haaren. Die Kamerafrau schien uns in der Tat nicht durch die Dornen gefolgt zu sein und ich war sehr froh darüber. So mussten wir wenigstens nicht dauernd aufpassen, was wir sagten.
„Lasst uns weitergehen", sagte Luis und wir machten uns wieder auf den Weg.
Im Vergleich zu gerade eben war der Waldbereich hier ein richtiges Paradies: Riesige alte Bäume ragten in den Himmel und das Sonnenlicht malte gefleckte Muster auf den Waldboden, wo, nebenbei bemerkt, noch nicht einmal Brennnesseln wuchsen. Der Boden war von einer dicken Schicht Laub bedeckt, sodass jeder unserer Schritte leicht knirschte, was aber in den allgemeinen Geräuschen des Waldes nicht weiter auffiel.
„Es ist echt schön hier", sagte ich leise zu Coco und stapfte neben ihr eine leichte Anhöhe hinauf.
„Stimmt", lächelte sie und stieß mich an. „Was meinst du, wie viel Zeit haben wir noch?"
Ich sah sie für einen Moment fragend an, dann klingelte es bei mir.
„Keine Ahnung. Vielleicht eine Viertelstunde?"
„Meint ihr, wann die Jäger starten?", klinkte Ben sich ein und auch Luis lief schneller.
„Ja, schließlich sollten wir ... he, was ist das denn?"
Coco blieb stehen und deutete mit einer Hand auf ein paar umgestürzte Baumstämme. Ich legte den Kopf leicht schräg und fing an zu strahlen.
„Lasst uns mal näher hingehen", drängte ich die anderen und lief los.
„War das gerade ein Geistesblitz, oder was ist los?", fragte Luis misstrauisch, während er neben mir herrannte.
„Keine Ahnung", antwortete ich lachend und blieb vor dem ersten Baumstamm stehen. Gleich fünf umgestürzte Laubbäume lagen halb übereinander vor uns, jedoch musste man mindestens drei Schritte vor den Stämmen stehen bleiben, da einem laublose, aber armdicke, dicht gepackte Äste und auch Zweige den Weg versperrten.
„Das ist ein richtig gutes Versteck", murmelte Ben und versuchte, ein paar der Äste zur Seite zu schieben. Doch die ganzen Zweige waren so gut wie unbeweglich.
Ich sah mich um und entdeckte einen abgesägten Baumstumpf. Misstrauisch runzelte ich die Stirn, als ich einen weiteren fast direkt daneben entdeckte.
Die anderen drei versuchten inzwischen die Zweige zur Seite zu schieben, doch sie waren erstaunlich fest.
„Hier sind fünf Baumstümpfe", murmelte ich. „Und da liegen fünf Bäume."
„Was ist?", fragte Coco und trat wieder einen Schritt von dem Versteck zurück.
„Das kommt mir irgendwie nicht natürlich vor", erklärte ich und deutete auf die Baumstümpfe.
Ben verschränkte die Arme vor der Brust. „Meinst du, die Leute, die das Spiel gemacht haben, haben das hier gebaut?"
Ich nickte.
Luis sah plötzlich viel misstrauischer aus. Dann zuckte er mit den Schultern und lächelte.
„Es ist trotzdem ein gutes Versteck, wenn wir reinkommen. Auch wenn sie es gebaut haben, können wir es doch nutzen."
„Stimmt." Ich lächelte leicht. Mein Misstrauen kam mir plötzlich unberechtigt vor und ich nickte.
„Wir müssen einen Weg da rein finden", stimmte Coco zu, wieder begeistert.
„Und wenn das ein künstliches Versteck ist, dann muss es einen Eingang geben", grinste Ben. Schnell machte ich ein paar Schritte nach vorne, um mit dem Suchen anzufangen.
„Hab einen", kam in dem Moment Luis' Stimme von rechts und ich blieb stehen.
Erstaunt sah ich mich dahin um, wo er gerade noch gestanden hatte, entdeckte ihn aber ein kleines Stück weiter, auf dem Boden kniend.
„Hier könnten wir durchkriechen", erklärte er, als ich neben ihm war und deutete auf eine kleine Lücke unter einem der Stämme.
„Wer will zuerst?", fragte ich scherzhaft, doch weder Coco noch Ben schienen begeistert zu sein, als Erstes durch den schmalen Spalt zu kriechen. Als ich hindurchspähte, konnte ich nur Dunkelheit ausmachen und die Schemen der Baumstämme, die das Versteck bildeten.
„Ich würde sagen, die Kleinste von uns", grinste Ben und erntete dafür einen bitterbösen Blick von mir.
Coco knuffte ihn in die Seite, sah jedoch gleich darauf verlegen zur Seite, als er sie grinsend ansah.
„Okay, ich gehe", brummelte ich und legte mich flach auf den Bauch. „Aber Coco ist fast genauso klein wie ich. Das sind nur die Locken, die sie so groß erscheinen lassen."
Das Loch war wirklich schmal, jedoch zum Glück so groß, dass selbst Ben durchpassen würde.
Ich holte tief Luft, zog mich mit den Armen vorwärts und befand mich im nächsten Moment auch schon zwischen den Zweigen.