Thomas
Anita sass in ihrem Zimmer und summte leise vor sich hin. Mit einer Rabenfeder ritzte sie Gesichter auf ein Pergament. Sie vermisste ihr Zuhause und die Möglichkeit regelmässig sich waschen zu können. Seit sie hier ist, hatte sie noch kein einziges Mal sich waschen können und Gaston hatte ihr stirnrunzelnd erklärt, dass sie in jeder Woche nur einmal die Möglichkeit haben würde sich waschen zu können. Eine arrogante Damen, die sich mit ihm unterhalten hatte, hatte sie von oben bis unten gemustert und gemeint, dass selbst von jeden Tag waschen der Schmutz nicht von ihrer Haut gehen würde.
Sie legte die Feder zur Seite und seufzte. Weshalb behandelten sie die Bewohner so. Als sie mit Mirko zur Verteilung der Nahrung gegangen war, hatte man sie von allen Seiten gemustert und in der Menge hatte man sie absichtlich hin und her gestossen. Man hatte Beleidigungen ihr zu geflüstert und kleine Kinder waren kichernd dabei gewesen Lieder über sie zu reimen. Erst als Mirko in Tränen ausgebrochen war und den Korb nach einem kleinen Kind geworfen hatte, hatte die Menge geschwiegen.
Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als endlich wieder nach Hause zu gehen, und sie überlegte, ob sie vielleicht einfach heute Nacht klangheimlich verschwinden sollte, dorthin wo man sie nicht verabscheute, sondern tolerierte. Doch dann dachte sie an Mirko und musste mit schwerem Herzen einsehen, dass er am Boden zerstört sein würde, wenn sie jetzt gehen würde. Er war vom ersten Moment an ziemlich stark besessen von ihr gewesen und folgte ihr eigentlich jeden Tag auf Schritt und Tritt. Erst hatte sie es nicht wirklich nachvollziehen können, erst später hatte sie begriffen, dass er alleine war, obwohl es so viele Kinder in diesem Dorf gab. Die Leute im Dorf wichen ihm aus und wenn ihre Kinder mit ihm spielen wollten, zog man sie mit bösen Blick von ihm weg.
Sie blickte auf das Pergament. Ihre Mutter blickte ihr darauf in aller ihrer Anmut entgegen. Die gelockten Haare waren kunstvoll hochgesteckt und sie blickte lieblich in die Weite. Sie sah ihrer Tochter zum Verwechseln ähnlich. Sie hatte die selben, unglaublich dunklen Augen und weiche Gesichtszüge.
Es klopfte gegen die Türe und Anita schreckte aus ihren Gedanken. Mit einem Satz war sie vom Bett gesprungen und die Feder fiel zu Boden. Sie legte sie wieder auf die Decke und ging zur Tür. Als sie sie öffnete, war sie erst etwas verwirrt.
Vor ihr stand das Mädchen, das sie an ihrem ersten Morgen gesehen hatte. Helena war nervös und zwang sich zu einem Lächeln.
„Guten Morgen", begrüsste sie Anita und musterte sie von oben nach unten.
Anita hatte ihre Haare heute in der Eile bloss zu einem lugen riesigen Knoten zusammengebunden und vereinzelte Locken hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie hatte dicken Wollensocken an und ein Wollmantel lag auf dem Bett. Mit zusammengekniffenen Augen sah Helena sie an. Etwas stimmte hier nicht. Niemand konnte sich Wollensocken und einen solch dicken Mantel leisten. Niemand, der in dieses Dorf kam.
„Guten Tag."
Das Mädchen streckte ihr die Hand entgegen. „Mein Name ist Helena!"
Anita blickte sie etwas verwirrt an und nahm schliesslich ihre Hand zögernd entgegen.
„An...Maria", murmelte sie.
Helena sah sie fragend an und Anita trat zurück. „Wollen Sie eintreten?"
Sie schritt an ihr vorbei und blickte sich im Zimmer um. Mehr als ein Bett, eine Kommode, ein Schrank und ein kleiner Sessel hatte keinen Platz in dem kleinen Zimmer und sie setzte sich auf den braunen Sessel am Fenster. Anita schloss etwas zögerlich die Türe und setze sich auf das Bett.
„Darf ich fragen, weshalb Sie ausgerechnet mich aufsuchen?"
Weshalb sie so förmlich angesprochen wurde, wusste Helena nicht wirklich und sie strich sich verlegen über das Haar. Wie dumm sie gewesen war, hier her zu kommen. Sie richtete sich etwas auf und dachte an Phillips Worte. Unbewusst schüttelte sie den Kopf, als sie wieder den ziehenden Schmerz in ihrer Brust fühlte.
„Ich bin eine gute Freundin von Phillip", sagte sie schliesslich und versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, wie schwer es ihr fiel die Worte gute Freundin auszusprechen. Doch so war es nun mal. Mehr war sie nicht für ihn. Schnell schluckte sie die Verbitterung runter und konzentrierte sich wieder auf Anita, die nervös mit ihrer Rabenfeder spielte und sich anscheinend nicht besonders wohl fühlte bei dem Gespräch.
Anita blickte auf. „Wie geht es ihm denn?"
Helena lächelte ihr kurz freundlich zu und warf einen Blick aus dem Fenster. Das Fenster von seinem Zimmer stand offen. „Ihm geht es mittlerweile besser, danke der Nachfrage."
Sie wandte den Blick wieder vom Fenster ab und blickte auf ihre Hände.
„Nun, er wollte Sie bitten, ihm vielleicht einen Besuch abzustatten", erklärte sie und versuchte ebenfalls so höflich wie möglich auf der selben Distanz zu bleiben wie Anita.
Diese sah sie etwas verwirrt an und legte die Rabenfeder zur Seite.
„Das glaube ich kaum", sagte sie nach kurzem Überlegen und rutschte so auf die Bettkante, dass sie mit geradem Rücken da sass. „Er schien letztens nicht besonders erfreut über meine Anwesenheit. Deswegen erlaube ich mir, Ihnen zu widersprechen. Ich nehme mal an, es muss ein Irrtum sein."
Helena starrte sie einen Augenblick an und zog dann eine Augenbraue hoch. Anita wirkte auf sie mehr als nur seltsam. Sie sprach in einer so gestelzten Sprache und wirkte vornehm. Helena verschränkte die Arme und lehnte sich zurück.
„Da muss ich Sie enttäuschen", erwiderte sie. „Er hat nach Ihnen verlangt. Er war der Meinung, dass er sich bei Ihnen noch entschuldigen müsse."
Anitas Augen wurden gross und sie versuchte ihr Erstaunen zu verstecken, in dem sie nur kurz stumm nickte. Weshalb wollte er sich bei ihr entschuldigen? Sie warf einen Blick auf das Bild neben ihr und sah dann wieder zu Helena. Sie wusste nicht wirklich, was sie davon halten sollte.
„Wenn Sie das sagen", meinte sie schliesslich und stand auf. „Wenn Sie sich wirklich sicher sind. Wann sollte ich denn bei ihm erscheinen?"
„Er meinte, er wolle jetzt gleich mit Ihnen sprechen."
„Jetzt gleich?"
„Ja, jetzt gleich. Sie wissen sicherlich, wie Sie zu ihm kommen. Ich kann Sie leider nicht begleiten. Aber das wird Ihnen sicher nichts ausmachen, nehme ich an", sagte Helena und stand ebenfalls auf.
Anita schüttelte den Kopf. „Ich will Sie nicht unnötig aufhalten."
Als sie an der Türe standen, drehte Helena sich noch einmal um und meinte lächelnd: „Wenn Penny Ihnen die Türe aufmacht, dann rechnen Sie nicht damit, dass Sie Phillip auch nur eine Sekunde zu sehen bekommen. Schöner Tag noch." Dann ging sie.
Anita sah ihr hinter und schloss die Türe, als sie verschwunden war. Sie überlegte, ob Phillip sie wirklich sehen wollte oder ob dieses Mädchen sie einfach anlog. Seufzend schlüpfte sie in ihre Stiefel. Helena hatte Recht, wenn die Leiterin ihr die Türe öffnen würde, dann würde sie nirgends hinkommen.
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Es hatte angefangen zu schneien. Schneeflocken wirbelten durch die Luft und Kinder rannten lachend über den Dorfplatz. Anita stand unschlüssig vor der Türe des Waisenhauses und blickte auf die drei Engel. Eine leichte Schneeschicht hatte sich auf ihnen gesammelt. Über sich hörte sie, wie jemand mit wütender Stimme herum schrie und ein Fenster geschlossen wurde. Vielleicht war das eine unglaublich schlechte Idee, schoss es ihr durch den Kopf, ich sollte lieber umdrehen. Gerade als sie den kleinen Weg wieder zurückgehen wollte, wurde die Türe geöffnet und sie drehte sich erschrocken um. Ein junger Mann mit braunen Haaren lehnte an dem Türrahmen und grinste sie breit an. Er war riesig und mit einem frechen Funkeln in den Augen blickte er sie an. Verlegen blieb sie stehen und strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht.
„Guten Tag, Schönheit", sagte er mit einer verführerischen Stimme und sie musste widerwillig schmunzeln.
„Guten Tag", erwiderte sie.
Er löste sich vom Türrahmen und kam ein paar Schritte näher. „Warum stehst du hier und willst gleich wieder gehen? Suchst du jemanden?"
Anita zuckte mit den Schultern.
„Phillip wollte mich sehen. Aber die Leiterin sieht mich glaub nicht so gerne hier."
„Penny mag ganz einfach keine Fremde. Das solltest du nicht persönlich nehmen."
„Naja, ich will einfach niemandem Ärger machen."
Der Mann grinste und streckte die Hand aus. Anita nahm sie zögerlich an. „Ich bin Thomas und du bist?"
„Maria", stellte sie sich mit falschem Namen vor.
„Eigentlich sollte man dich schon nur auf Grund deines Namens mögen. Die Meisten hier ist sehr gläubig."
Sie scharrte etwas mit ihren Füssen über den eisigen Boden und sah hinter ihm durch die Türe.
„Ist Penny denn da?", fragte sie.
Thomas lachte. „Die ist immer da. Aber keine Sorgen, ich werde dich schon zu Phillip bringen, ohne dass dir etwas passiert. Sie wird dich höchstens böse ansehen und verwünschen."
„Das überlebe ich", meinte sie lächelnd und er grinste breit.
„Dann folg mir."
Er lief in das Haus zurück und sie folgte ihm. Hinter ihr schloss er die Türe und ging zur Treppe.
„Was genau will denn Phillip von dir?", fragte er und Anita blickte zu den hohen weissen Wänden hoch. Bei ihrem ersten Besuch waren ihr die riesigen Gemälde und Wandzeichnungen nicht aufgefallen, da war sie so sehr darauf fixiert gewesen, dass sie Penny nicht verärgerte und hatte deswegen die meiste Zeit auf ihre Füsse gesehen.
„Ich weiss es nicht", gestand sie. „Eine Freundin von ihm ist zu mir gekommen und meinte, er wolle mich sehen."
Thomas lachte auf. „Wahrscheinlich Helena, die war vorhin schon einmal hier."
Sie nickte. Sie kamen am Treppenabsatz an und Thomas blickte sich kurz um, bevor er grinsend die mittlere Türe aufstiess und Anita hineinschob. Die Luft in dem Zimmer war stickig und beinahe unerträglich. Er hustete ein paar Mal und schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe nicht, was Penny genau befürchtet, das passiert, wenn wir einmal für ein paar Minuten das Fenster öffnen. Hier drin erstickt man ja beinahe. Natürlich wird der nie gesund, wenn man ihn eine solche Luft atmen lässt."
Als Anita sich an das dämmerige Licht gewöhnt hatte, erkannte sie das Bett und die Kerze auf dem kleinen Nachttisch daneben wieder. Thomas schritt mit vier Schritten durch den Raum und zog den Vorhang auf. Mit einem Ruck öffnete er das Fenster und ein kalter Windzug drang in das Zimmer. Grinsend drehte er sich um und deutete er ihr mit einem Kopfnicken, dass sie näher kommen sollte. Er griff nach einem Schemel, der neben dem Fenster stand und schob ihn zu Anita. Sie setzte sich dankend darauf und blickte auf Phillip. Er lag schlafend in dem Bett und sah verspannt aus. Es schien, als sei jeder einzelne Muskel in seinem Gesicht angespannt. Immer wieder drehte er den Kopf hin und her und verkrampfte seine Hände. Er musste von ziemlich üblen Albträumen geplagt werden.
Thomas legte seine Hand auf die schweissnasse Stirne Phillips und seufzte. Mit einem besorgten Blick griff er nach einem Lappen, der neben dem Bett in einem kleinen Holzkessel mit Wasser stand, und wischte ihm damit über die Stirne. Phillip gab ein heisseres Stöhnen von sich und krallte seine Finger in den weissen Lacken. Sein Gesicht war bleich und Schweiss rann über seine Stirne. Als Anita genauer hinblickte, erkannte sie an dem weissen Lacken Blutspüren. Thomas zog ihm die Decke bis nach oben.
Sie wollte nicht wissen, was ihn in seinen Träumen verfolgte. Immer wieder murmelte er etwas leise vor sich hin, wie ein unerhörtes Gebet, und wandte sich unter erkennbaren Schmerzen. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell und unregelmässig.
Auf einmal ging die Türe mit einem lauten Gepolter auf.