Île Saint-Denis, Westfränkisches Reich
~
Luca trappte über die Ruderbänke, einen vollen, tropfenden Krug Bier in der Hand. Die Wikinger hatten einem fränkischen Bauer zwei Bierfässer für den Eigenverzehr entwendet. Lucas ehrenvolle Aufgabe bestand darin, den Männern ihre Becher mit dem flüssigen, dunklen Gold zu füllen. Die alte Leier für ihn, denn alles, was er bisher als Sklave hatte tun müssen, war den Alkoholpegel der Männer in die Höhe zu jagen.
Es dunkelte schon und Luca hatte Mühe, mit seinen Füssen die Balken der Ruderbänke zu erahnen. Sie befanden sich auf den Schiffen, die mitten auf der Seine ankerten, an derselben Stelle, an welcher sie auf eine fränkische Armee gestossen waren. Ein karolingisches Heer, welches von Ragnars Männern brutal niedergemetzelt worden war.
Luca hatte alles mit Entsetzen von seinem sicheren Platz aus beobachten müssen. Wie seine Landsleute abermals von diesen Barbaren niedergeschmettert worden waren. Er hatte sich im Rumpf von Ragnars Prunkschiff hinter einer Kiste versteckt. Beim Anblick der fränkischen Kavallerie mit ihren langen Lanzen auf der einen Seite und den furchtlosen, mit Äxten bewaffneten Berserkern auf der anderen Seite war er heilfroh gewesen, dass er nur ein einfacher Sklave war und nicht im Gemetzel hatte mitkämpfen müssen. Als einstiger Weber war er in der Schlacht überhaupt nicht zu gebrauchen - zu seinem eigenen Glück.
Seine Arme ächzten vom Gewicht des vollen Bierkruges. Er blieb neben einer Männergruppe stehen, die sich an die Reling lehnte und streckte ihnen fragend den Krug hin. Sie nickten und hielten ihm ihre Becher entgegen, die er sogleich bis oben mit dem klebrigen Getränk füllte.
Dann balancierte er weiter über die Bänke zur nächsten Gruppe, die gerade einem etwas älter anmutenden Krieger zuhörten. Der Bart des Erzählers graute bereits, was für Luca wohl der Grund sein musste, warum die jungen Männer ihm zuhörten. Er sah weise aus und war, wie es schien, in der Schilderung einer Geschichte vertieft. Seine Stimme klang erdig durch die kühle Abendluft. Aus Neugierde, was es denn sein könnte, was dieser Mann erzählte, horchte Luca unauffällig mit.
Der Krieger hielt die Arme halb ausgestreckt vor seinem Körper und bewegte seine Hände dramatisch, um die Geschehnisse seiner Geschichte zu betonen.
„Während drei eisiger Jahre erstarrt die Welt im tiefsten Winter. Die grässliche Kälte will nicht vergehen. Schnee, klirrender Frost und eisige Stürme plagen die Menschen. Der Fimbulwinter ist gekommen! Es ist der Anfang vom Ende. Es ist der Beginn des Untergangs der Götter. Das Ende der Welt. Ragnarök", erzählte er und rieb sich dabei die Hände, als ob er die Kälte selber spüre und sich die Finger wärmen wolle.
„Dann erheben sich die Wölfe Skalli und Hati und jagen der Sonne und dem Mond nach. Skalli holt die Sonne ein und zerfleischt sie zwischen seinen Zähnen. Dadurch wird alles in Dunkelheit getaucht. Kein Licht mehr erhellt die Erde. Es ist so dunkel, dass man nicht einmal mehr seine eigene Nase auf dem Gesicht sehen kann!"
Die Zuhörer blickten ihn mit interessierten Mienen an. Einer der Männer führte seinen Becher an die Lippen, hielt aber vor Spannung in der Bewegung inne. Der Erzähler streckte seine Hände hoch in die Luft und begann sie langsam zu senken. Dabei fuhr er fort:
„Dann fallen die Sterne vom Himmel auf die Erde herab. Der Boden beginnt zu Beben, so dass sich die Bäume entwurzeln und die Berge einstürzen. Fenris, der mächtige Wolf, kann sich durch das Erdbeben von seiner Kette befreien. Er entkommt seinem ewigen Gefängnis. Die Midgardschlange spürt die Erschütterungen ebenfalls und kriecht an Land und überflutet die Welt mit einer gigantischen Welle. Fenris spuckt Feuer und die Schlange ihr Gift, so dass sich die Luft entzündet!"
Luca umklammerte den Griff seiner Kanne fester, während der graubärtige Erzähler die Beschreibung des Weltunterganges detailliert ausführte.
„Die Riesen kommen hervor und überqueren Bifröst. Da die Giganten so schwer sind, bricht die Brücke unter ihrem Gewicht zusammen. Die Riesen vereinen sich mit Loki, Fenris und der Midgardschlange, bereit für die grosse Schlacht gegen die Götter. Heimdall, der Wächter der Brücke, kann die Asen und Wanen mit einem kräftigen Stoss durch sein Gjallarhorn warnen. Odin reitet zum Mimir-Brunnen, um sich Rat zu holen, während sich die Asen und die Einherjer für den Kampf wappnen. All die Vorbereitungen, all die Kämpfe müssen sich doch ausgezahlt haben! Endlich können sie ihre Aufgabe erfüllen!"
Der Erzähler ballte seine Hand zur Faust.
„Und dann ist es soweit! Die grosse Schlacht. Die Götter kämpfen gegen die Riesen. Odin reitet voran auf seinem achtbeinigen Pferd, seinen Speer in der Hand, seinen Goldhelm auf dem Kopf und seinen Harnisch am Körper."
Die Zuhörer grinsten und blickten den Erzähler gespannt an. Sie fühlten sich durch seine Geschichte gut unterhalten. Luca hingegen war dabei eher mulmig zumute. Die Vorstellung eines achtbeinigen Pferdes war für ihn furchtbar. Da waren ihm die vier Reiter der Apokalypse doch lieber, die ritten immerhin auf normalen Pferden.
„Thor besiegt die Midgardschlange, aber kaum läuft er neun Schritte von ihr weg, stirbt er an ihrem Gift, denn sie hat ihn gebissen. Der Hund von Hel kämpft gegen Tyr, dabei töten sie sich gegenseitig. Freyr ringt mit dem Feuerriesen Surt. Loki kämpft gegen Heimdall und sie erschlagen sich gleichzeitig. Odin bekämpft Fenris, der den Göttervater schliesslich verschlingt. Einer seiner Söhne rächt sich sogleich am Biest und reisst ihm sein Maul entzwei. Surt schleudert wütend Feuer über die ganze Welt, was alles in Brand setzt und zu schwarzer Asche zerfallen lässt. So endet die Welt, wie wir sie kennen", beendete der bärtige Erzähler seine Geschichte.
Luca erschauderte. Welch schreckliche Vorstellung eines Weltunterganges!
„Bier?", fragte er mit bebender Stimme in die Runde.
Der Erzähler starrte Luca missmutig an und hob eine Augenbraue, denn die Frage kam zu einem äussert unpassenden Augenblick. Die Zuhörer nickten allerdings erfreut, als sie realisierten, was der Sklave ihnen da gerade ins Sichtfeld streckte. Luca goss reichlich ein und lief zum Fass zurück, um seinen Krug ein weiteres Mal aufzufüllen.
„Sklave!", liess ihn Ragnars Stimme aufspringen, so dass ihm der Krug aus den Händen fiel.
Das Bier gluckste, als der Krug ins Fass fiel und langsam hinabsank.
„Verdammt!", fluchte Luca und streckte seinen Arm ins Fass, um die Kanne davon abzuhalten, bis zum Boden zu sinken.
Sein ganzer rechter Ärmel wurde dabei in Bier getunkt. Er bekam das Gefäss zwischen die Finger und zog es aus der dunklen Brühe.
„Mein Jarl?", fragte er, während er sich den nassen Ärmel schüttelte.
„Hast du ihn gefunden?", zischte der Jarl, so dass ein paar Speicheltropfen auf Lucas Gesicht landeten.
Mit seinem trockenen Ärmel wischte sich Luca die Spritzer von seiner Wange und schüttelte den Kopf.
„Nein, mein Jarl. Entschuldigt. Ich bin noch nicht so weit gekommen. Ich hole ihn gleich."
„Jetzt sofort!", donnerte Ragnar.
Luca nickte und stolperte über das Prunkschiff. Er war sehr darauf bedacht, den Krug nicht aus seinen Händen fallen zu lassen. Ragnar hatte ihn klar und deutlich wissen lassen, dass er sich einen zweiten Patzer nicht erlauben durfte. Er hatte nämlich ein paar Tage zuvor einen Krug auf den hölzernen Boden von Ragnars majestätischen Langschiff fallen gelassen und Rotwein ausgeschüttet. Die Flecken brachte man nicht mehr aus dem Holz heraus. Das hatte Ragnar überhaupt nicht gefallen und er hätte Luca getötet, wenn er ihn nicht noch brauchte. Dessen war sich Luca mehr als bewusst. Dennoch wollte er Ragnars Geduld nicht ein weiteres Mal auf die Probe stellen und darum führte er jede Bewegung mit Bedacht aus.
Zielstrebig lief er über das Schiff ans andere Ende. Dort auf dem Vordersteven befand sich Rurik mit seinen beiden Freunden. Die drei Männer sassen auf ein paar Kisten und diskutierten. Luca blieb stehen und wartete, bis man ihn sah. Er wollte den Wikingern nicht ins Wort fallen. Auch diese Männergruppe war in ein Gespräch vertieft. Während Luca wartete, dass man ihm Beachtung schenkte, hörte er ihrer Diskussion schweigend zu.
>>>>>●<<<<<
„Hast du gesehen, wie ich diesem dicken Krieger mein Schwert in den Bauch gerammt habe?!", lachte Rollo stolz und ahmte die Bewegung nach, die er in der Schlacht getan hatte, um den Franken zu töten.
Loki klatschte kichernd in die Hände.
„Ja, selbstverständlich habe ich es gesehen, mein Bruder! Ich stand ja neben dir! Und hast du gesehen, wie ich einem Kerl, der ein Kopf grösser war als ich, mit einem Schlag den Kopf vom Körper getrennt habe?! Seine Augen haben mich selbst dann noch schockiert angeblinzelt, als der Kopf schon auf den Boden gerollt war!", sagte Loki entzückt.
„Unglaublich, dieses Gefühl!", meinte Rollo und atmete tief ein. „Nie hätte ich gedacht, dass der Rausch in der Schlacht so überwältigend sein würde. Ich fühle mich fantastisch! So lebendig, so voller Leben und Glück!"
„Ich hab's dir doch gesagt! Es ist das beste der Gefühle!", antwortete Loki und kicherte aufgeregt.
Rollo nickte eifrig und wandte sich dann dem Hauptmann zu, der schweigend auf der Kiste sass und einen silbernen Armring in seinen Händen drehte. Er war im Vergleich zu den anderen beiden nicht so aufgedreht.
„Du, sag mal, Rurik. Warum hast du uns eigentlich dieses Mal schlachten lassen?", wollte Rollo von seinem Hauptmann wissen.
Rurik zuckte mit den Schultern, den Blick noch immer auf das Schmuckstück in seinen Fingern gerichtet. Er wirkte irgendwie abwesend.
„Weil ich sonst Ragnars Befehl untergraben hätte. Es war euer Jarl, der euch in die Schlacht geschickt hat. Nicht ich."
„Aber du hättest uns aufhalten können", meinte Rollo.
„Warum hätte ich das tun sollen?", fragte Rurik irritiert und blickte auf.
„Weil du so ein Guter geworden bist, vielleicht?", antwortete Loki spöttisch.
Rurik schnalzte verärgert mit der Zunge.
„Es galt eine Schlacht zu gewinnen. Wenn wir diese Krieger in der Schlacht nicht getötet hätten, dann hätten sie es mit uns getan. Wir waren einfach besser. So ist das nun mal. Auf dem Schlachtfeld ist es gerecht."
„Wir dürfen also so viele Krieger schlachten, wie wir wollen?", grinste Loki. „Verstehe ich das richtig?"
„Mit Kriegern könnt ihr auf dem Schlachtfeld tun, was ihr wollt. Solange ihr eure Hände von den unschuldigen Bürgern lässt, ist es mir einerlei. Die Menschen in der Stadt oder auf einem Bauernhof sind Zivilisten. Das sind keine Krieger, die den Tod verdient haben."
Rollo grinste seinen Hauptmann interessiert an.
„Mir gefällt dein Ansatz, Rurik. Ehrlich", sagte er. „Ich finde, du hast recht. Im Krieg sollten nur die Männer von meinem Schwert sterben, die sich freiwillig davor hingestellt haben."
Loki schüttelte verständnislos den Kopf und verschränkte die Arme vor seiner Brust.
„Wenn wir es gerade davon haben. So von wegen sich vor das Schwert stellen und so, Rurik. Kannst du mir sagen, warum in Odins Namen du eigentlich nicht ausgewichen bist, als dieser bärtige Krieger zum Schlag ausgeholt hat?! Hätte ich dem nicht meine Axt in den Fuss gerammt, hätte der dich erwischt und du wärst jetzt buchstäblich einen Kopf kleiner."
Rurik zuckte bloss mit den Schultern und senkte seinen Blick wieder auf den Ring in seiner Hand.
„Habe ihn nicht gesehen", murmelte er.
Loki lachte laut auf.
„Ja, genau! Rurik Adlerauge hat das riesige Langschwert von links nicht kommen sehen. Das glaube ich dir nicht! Du siehst in der Schlacht alles, Rurik, und du bist selbst so schnell wie ein Pfeil! Du hast gepennt, weil du mit deinem Kopf irgendwo sonst bist, aber nicht auf dem Schlachtfeld", rügte er seinen Freund.
„Und wenn schon. Du hast reagiert. Ist ja nichts passiert", grummelte Rurik.
„Hat dich deine Verwundung vielleicht träger gemacht?", fragte Rollo aufrichtig neugierig.
Rurik verdrehte die Augen.
„Nein", brummte er.
„Aber spüren tust du sie noch - die Wunde?", hakte Rollo nach.
„Ja, aber das hindert mich an gar nichts", entgegnete Rurik.
Loki stimmte seinem besten Freund zu.
„Ich habe dich schon oft verletzt kämpfen sehen, mein Freund. Eine Wunde hat dich noch nie daran gehindert, einem tödlichen Schwertstoss auszuweichen! Du hast Nebel im Kopf. Das ist es, was dich lahm gemacht hat. Ist es wegen —?"
„Halt den Mund!", donnerte Rurik und sprang von seiner Kiste auf. „Das hat damit überhaupt nichts zu tun!"
„Ist ja gut, ist ja gut!", sagte Loki, denn er wollte seinen mürrischen Freund nicht noch mehr erzürnen.
Rollo blinzelte verwirrt, denn er verstand nicht, wovon die zwei Freunde sprachen und warum Rurik plötzlich aufgebraust war. Erst jetzt bemerkten die drei Männer, dass jemand ihr Gespräch mitverfolgt hatte. Rurik wandte sich dem Sklaven zu, der mit dem Bierkrug vor ihnen stand.
„Wann hattest du vor, unsere Becher zu füllen? Nachdem wir uns schlafen gelegt haben?", knurrte Rurik den Sklaven an.
Der Diener zuckte bei dem harschen Ton zusammen. Die Flüssigkeit schwappte über den Rand und ergoss sich über seine Hände. Der Sklave tat aber nichts dergleichen.
„Oh, entschuldigt, meine Herren. Wer möchte einen Schluck?", fragte er sogleich.
Alle drei Männer hielten ihm ihre Becher hin. Der Sklave schenkte den Wikingern gefügig das Getränk ein, dann räusperte er sich.
„Werter Hauptmann Jarson. Ragnar möchte Euch sprechen. Bitte folgt mir."
„Jetzt?", seufzte Rurik. „Er will mich jetzt sprechen?"
„Ja. Augenblicklich hat er gesagt."
Rurik schloss ergeben die Augen und massierte sich mit der freien Hand den Nasenansatz. Dann kippte er sich das Bier seine Kehle hinunter und streckte den leeren Becher dem Diener nochmals hin.
„Auffüllen!", orderte er.
Der Sklave tat, wie ihm befahl und Rurik kippte sich den zweiten Becher in derselben Geschwindigkeit runter, wie der erste.
„Nochmal", dröhnte er und liess einen leichten Rülsper von der Brust.
Loki kicherte, Rollo starrte den Hauptmann nur stirnrunzelnd an.
„Willst du betrunken zu Ragnar gehen?", fragte Loki amüsiert.
„Jap", antwortete Rurik nachdem er bereits den dritten Becher vernichtet hatte und sich sein Trinkgefäss ein viertes und letztes Mal wieder auffüllen liess.
„Diesen Mann ertrage ich nur noch betrunken", fügte er an, inhalierte den letzten Becher und meinte dann an den Sklaven gerichtet: „Jetzt können wir gehen."
Der Diener nickte unsicher und geleitete den mittlerweile leicht schwankenden Hauptmann zum Hintersteven, wo der Jarl von Nordjütland mit Sigurd Stenson und Thorsten Bordson bereits sass.
>>>>>●<<<<<
„Wir sollten nicht sofort weiterziehen", meinte Sigurd und zwirbelte seinen weissen Bart.
Die drei Männer sassen um eine Feuerschale, die man angemacht hatte, damit sie in der kühlen Abendluft nicht froren. Ragnar sass mit verschränkten Armen vor dem Feuer und blickte den Jarl aus Mitteljütland düster an. Sie sassen sich gegenüber, die Feuerschale in der Mitte zwischen ihnen.
„Warum nicht, Sigurd? Ich verstehe nicht warum du zögerst", sagte er.
„Weil wir nicht mit Gewissheit sagen können, ob das zweite Heer, welches auf der anderen Uferseite tatenlos zugeschaut hat, nicht doch grösser ist, als erwartet."
Ragnar grunzte abschätzig.
„Die Feiglinge machen wir auch noch fertig. Warst du nicht bei der Schlacht dabei, Sigurd? Hast du nicht gesehen, was wir mit denen angestellt haben? Diese Krieger haben vor Angst geweint!"
„Doch, natürlich habe ich das gesehen! Aber auf fremdem Boden bin ich lieber vorsichtig", antwortete Sigurd.
Thorsten lachte leise bei der Erinnerung an die erbärmlichen Franken.
„Vor denen müssen wir uns überhaupt nicht fürchten. Die haben sich vor Angst in die Rüstung geschissen!", grölte er.
„Wenn dir eine Axt in den Bauch gehackt würde, riefest du auch nach deiner Mutter, Thorsten. Tu' nicht so unerschrocken", knurrte Rurik seinen Kollegen an.
Der Sklave hatte den ersten Hauptmann endlich hergebracht. Ragnar stand auf, die Arme ausgebreitet, um seinen wichtigsten Krieger in die Runde zu begrüssen.
„Rurik! Setz dich doch", meinte er freundschaftlich.
Rurik setzte sich an den freien Platz bei der Feuerschale. Thorsten blickte ihn nur grimmig an. Die zwei verstanden sich nicht besonders gut und das zeigte sich. Schon während der Überfahrt war es zu einer Eskalation zwischen den beiden Hauptmännern gekommen, als Thorsten gefragt hatte, ob auf der Hin- oder Rückfahrt bereits Sklaven aufgeladen werden sollten. Ragnar war das einerlei gewesen und hatte die Entscheidung seinen Hauptmännern überlassen wollen.
Rurik hatte vehement darauf bestanden, dass sie sich während diesen Raubzügen doch eher den Gegenständen widmen sollten, als den Menschen. Er hatte dafür plädiert, dass dieses Jahr keine Sklaven mitgenommen werden sollten, denn das war aufwändiger und mit mehr Problemen verbunden. Sklaven mussten ernährt werden, damit sie nicht gleich zusammenklappten und meist überlebten sie die Überfahrt nach Jütland sowieso nicht.
Thorsten hatte allerdings gemeint, dass Sklaven ein kostbares Gut seien und für lukrative Tauschgeschäfte in Ribe von Nutzen sein könnten. Rurik hatte dem widersprochen und eine Diskussion war zwischen den beiden entflammt, die beinahe in einem Handgemenge geendet hätte, wenn Ragnar nicht dazwischengefunkt und sie auseinandergerissen hätte. Ragnar hatte die Sklavenfrage auf die Rückfahrt verschoben. So hatte er zumindest für eine Weile wieder Frieden zwischen seinen beiden Hauptmännern gestiftet.
„Du willst etwas mit uns besprechen?", fragte Rurik.
Ragnar nickte langsam und liess seinen Blick flüchtig über die drei Männer schweifen, die mit ihm um die Feuerschale sassen.
„Ja, mein geschätzter Rurik, das will ich", antwortete er.
Der arrogante Ton in der Stimme seines Hauptmannes gefiel ihm überhaupt nicht, aber er entschied sich, dies für den Moment zu ignorieren. Er musste schliesslich die Schlachtpläne mit seinem Führungstrupp diskutieren. Da konnte er Streitereien nicht gebrauchen.
„Eigentlich will ich zwei Dinge mit euch besprechen", wollte Ragnar das Gespräch beginnen.
Rurik seufzte hörbar und richtete sich an den Sklaven, der noch immer daneben stand.
„Wie es scheint, brauchen wir erst mal Bier. Das wird eine lange Nacht. Bring uns gleich das Fass. Schöpfen können wir es uns selbst!", brummte Rurik den Sklaven an, der etwas unsicher zwischen ihm und Ragnar hin und her blinzelte.
Ragnar nickte stumm, um dem Diener zu signalisieren, dass er das doch tun solle. Er versuchte angestrengt, die schlechte Laune seines Hauptmannes zu übersehen. Der Sklave eilte zu den Fässern und rollte ein Fass mit grosser Mühe herbei, bis es neben Ragnar stand. Dann reichte er den vier Männern je einen vollen Becher.
„Was will denn der weise Ragnar mit seinen Gefährten besprechen? Ich dachte, du kennst die Antwort auf alle Lebensfragen bereits?", neckte Sigurd den Jarl, denn auch er spürte die Spannung in der Luft.
„Als Erstes müssen wir entscheiden, was wir mit den 111 Gefangenen tun wollen. Was würdet ihr empfehlen?", fragte Ragnar seine Hauptmänner.
„Freilassen", sagte Rurik sofort.
„Hinrichten", antwortete Thorsten zur gleichen Zeit.
Die zwei funkelten sich schon wieder an, erbost ab der Antwort des anderen. Ragnar verdrehte genervt die Augen. Nie hätte er sich erträumen lassen, dass sich ausgerechnet seine zwei Hauptmänner wie Tag und Nacht verhielten.
„Ich sehe nicht, warum wir sie hinrichten sollten. Was wäre denn ein plausibler Grund, mein lieber Kollege Hauptmann Bordson?", fragte Rurik, der - wie es schien - entschieden hatte, die Leitung der Diskussion selbst zu übernehmen.
Ragnar lehnte sich seufzend zurück und verschränkte wieder die Arme vor sich, während er der Diskussion seiner Hauptmänner folgte.
„Wir opfern sie! Für Odin und Thor. Dafür, dass Thor uns während des Sturms auf der Überfahrt beschützt hat und dass Odin uns bisher eine solch erfolgreiche Plünderung beschert hat. Was denn sonst?!", knurrte Thorsten.
Rurik zuckte desinteressiert mit den Schultern.
„Ein paar Ziegen reichen dafür auch. Wir haben genügend Nutztiere von den Bauern der Gegend erhalten. Thor und Odin werden auch Tiere als Opfer genügen. Dafür müssen wir doch nicht die Gefangenen bluten lassen", antwortete Rurik und trank einen kräftigen Schluck von seinem Bier.
Thorsten tat es ihm gleich und goss sich sein Getränk die Kehle hinunter.
„Menschenopfer mögen sie aber mehr", sagte Thorsten dann und klopfte sich auf die Brust, denn eine Luftblase war ihm im Hals stecken geblieben.
„Wir lassen sie frei. Ich finde das die bessere Lösung", meinte Rurik.
Ragnar hörte aufmerksam zu und kratzte sich am Bart. Sein silberhaariger Freund Sigurd schmunzelte unaufhörlich, denn ihn schien die Uneinigkeit der Hauptmänner eher zu amüsieren als zu irritieren.
„Warum sollten wir die Gefangenen freilassen?", mischte der Weisshaarige die Diskussion auf.
Rurik fixierte den mitteljütländischen Jarl entschlossen mit seinen blauen Augen und lieferte ihm die Antwort auf seine Frage.
„Das ist doch offensichtlich. Mit den Gefangenen können wir ein Verhandlungsgespräch einfordern. Damit haben wir etwas in der Hand gegen die Franken. Bei 111 Kriegern kann der König nicht nein sagen. Das wäre leichtsinnig, wenn er der Aufforderung für eine Verhandlung nicht nachgehen würde. Für die Freilassung einer solch grossen Anzahl an Soldaten werden wir sicherlich reich bezahlt."
Sigurd nickte zustimmend. In seinen Augen war das eine sehr logische und taktisch kluge Vorgehensweise.
„Gute Idee. Ich frage mich ja schon, wie viel Gold und Silber dieser König in seiner Schatzkammer versteckt haben muss", murmelte Sigurd.
„Warum sollen wir denn verhandeln, wenn wir uns eh alles nehmen können, was wir wollen?", warf Thorsten ein.
Wie es schien war ihm die Idee von Mord und Totschlag lieber, als die einer friedlichen Verhandlung auf Augenhöhe. Der zweite Hauptmann wollte nichts mit den Franken aushandeln.
„Es ist kraftsparender und wir selber können mit weniger Verlusten rechnen. Ein bisschen seltener Sterben hat noch keinem geschadet!", gab Rurik zurück.
Thorsten schüttelte wütend den Kopf.
„Die Männer wollen schlachten und plündern! Dafür wurden sie rekrutiert. Das wurde ihnen versprochen und deswegen sind sie hier. Wir sind doch nicht hierher gekommen, um friedliche Verhandlungen zu führen! Ich glaube, Rurik, du bist auf der falschen Mission. Du hättest mit Björn und Alf auf Friedensverhandlungen ins angelsächsische Reich gehen sollen. Für das Frankenreich ist dein Vorhaben nicht geeignet."
Rurik antwortete mit einem verachtenden Schnauben.
„Du tust so, als seist du der grösste Stratege, dabei lässt du dich von der Schlachtwut blenden. Es gibt auch andere Wege, als das blosse Töten. Wege, die gar nicht so abwegig wären, wenn wir nur mal die Äxte und Schilder ablegen und unsere Köpfe nutzen würden."
„Du —", wollte Thorsten rufen, aber da hielt Ragnar die Hand hoch.
„Ihr zwei seid jetzt mal für ein paar Atemzüge still. Am Ende entscheide sowieso ich, wie wir vorgehen wollen. Ich stimme dir zu, Thorsten. Ein Opfer an unsere Götter wird ihre Gemüter sänftigen. Das werden wir auf jeden Fall tun. Und ich stimme auch dir zu, Rurik, dass wir die Gefangenen zu unserem Vorteil nutzen können. Die Frage ist nur, wie wir das tun wollen. Mir schwebt da eine etwas andere Idee vor, als dir, mein geschätzter erster Hauptmann. Dein Einfall ist zwar politisch korrekt, aber strategisch nicht der geschickteste."
Ruriks Augenbrauen zogen sich verärgert zusammen, während Thorsten erfreut über Ragnars kleinen Seitenhieb gluckste.
„Was schwebt dir denn vor, mein guter Freund?", fragte Sigurd neugierig.
„Ich wähle die Einschüchterungstaktik. Wir wollen den kleinen König und seinem übrig gebliebenen Heer gehörig Angst einjagen! Danach bin ich gerne für Verhandlungen bereit."
Rurik schwieg in sich hinein. Die anderen beiden Männer stimmten ihrem Jarl mit einem Kopfnicken zu.
„Wie willst du sie einschüchtern?", fragte Thorsten interessiert.
„Das werde ich euch morgen verraten", sagte Ragnar und lächelte dabei schelmisch.
Eine ganze Weile noch sassen die Männer an der Feuerschale und besprachen die Schlachtpläne der nächsten Tage. Rurik schwieg die meiste Zeit und antwortete bloss, wenn man ihm eine Frage stellte.
Ragnar wollte weiterziehen, denn er erwartete, dass sie nach ein paar weiteren Flussschlingen endlich auf eine grosse Stadt stossen würden. Was sonst hätte das grosse Heer, das sie niedergeschmettert hatten, beschützen sollen, wenn nicht eine prachtvolle Stadt?
Bevor sie jedoch weiterziehen konnten, mussten sie sich erst der fränkischen Gefangenen entledigen und Ragnar hatte schon einen sehr gerissenen Plan, wie er das veranlassen wollte.
○