In meinem Abgrund

By Schabernackk

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Paul fristet seinen Alltag mit bedeutungslosem Sex und dem Versuch, seiner diagnostizierten Psychopathie gere... More

Alltag
Spiele im Supermarkt
Musterung und Kontaktaufnahme
Auskundschaftung
Eine unmissverständliche Einladung
Vor- und Nachteile eines Trockners
Prinzipien einer polnischen Tante
(K-)ein Familienessen (Teil I)
(K-)ein Familienessen (Teil II).
Stalking
Erfreuliche Kinobekanntschaften
Gewichtige Höhepunkte
Kraftmessung und ihre Folgen (Teil I)
Kraftmessung und ihre Folgen (Teil II)
Nussecken im Krankenhaus
Eine andere Art des Nachsitzens (Teil I)
Eine andere Art des Nachsitzens(Teil II)
Leere Mägen und zwei Finger (Teil I)
Leere Mägen und zwei Finger (Teil II)
Der richtige Umgang mit Tyrannen
Mörderische Missverständnisse
Auf den Hund gekommen (Teil I)
Auf den Hund gekommen (Teil II)
Hunde und Spinnen
Erektionsprobleme und deren Behandlungen
Tierliebhaber
Halbwahrheiten
Spielhölle (Teil I)
Spielhölle (Teil II)
Hausfriedensbruch
Das Verhütungsdilemma (Teil I)
Das Verhütungsdilemma (Teil II)
Ausflug in die Bar
Treffsichere verbale Ausbrüche
Heimatkoordinaten
Nutzlose Blumen
Achterbahnfahrt I
Achterbahnfahrt II
Träume sind Schäume.
Verfrüht (Teil I)
Verfrüht (Teil II)
Verfrüht (Teil III)
Auf der Suche (Teil II)
Ende in Sicht
Erwischt (Teil I)
Erwischt (Teil II)
Spieluhr
Rachetechnische Unterstützung
Schlüsse ziehen (Teil I)
Schlüsse ziehen (Teil II)
Der Noah-Abklatsch
Familiäre Unstimmigkeit
Auf ein Wiedersehen
Die Relevanz prekärer Fotos (Teil I)
Die Revelanz prekärer Fotos (Teil II)
Über chemische Reaktionen im Gehirn
Falsche Schuldzuweisungen
Die Bestrafung
Wichsverbot
Obsession versus Liebe
Tippfehler
Null- und Alternativhypothese
Die Definition von Bedenkzeit
Wichser (Teil I)
Wichser (Teil II)
Trost spenden
Wohnungsbesichtigung (Teil I)
Wohnungsbesichtigung (Teil II)
Fehlgeschlagener Selbstbetrug (Teil I)
Fehlgeschlagener Selbstbetrug (Teil II)
Büffel und Elefanten (Teil I)
Büffel und Elefanten (Teil II)
Alles Ungute Zum Geburtstag (Teil I)
Alles Ungute zum Geburtstag (Teil II)
Metronom (Teil I)
Metronom (Teil II)
Metronom (Teil III)
Metronom (Teil IV)
In meinem Abgrund

Auf der Suche (Teil I)

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By Schabernackk


„Sorry." Die blondgelockte Barbie hinter dem Empfangstresen ließ eine derart große Kaugummiblase platzen, dass das klebrige Zeug sich auf ihrer gesamten Oberlippe bis zur Nase hin verteilte. Schien sie allerdings nicht zu stören, weil sie einfach in die Matschepampe hineingriff und sich die einzelnen Fäden zurück in den Mund stopfte. „Ich hab' erst vor 'ner halben Stunde mit der Schicht angefangen."

Ich hatte Kopfschmerzen, richtig schlimme. Wenn diese Schnepfe nicht gleich aufhörte, mir etwas vorzuschmatzen, würde ich ihr den Mund mit Panzertape zubappen. „Und Ihre Kollegin von gestern? Hat sie vielleicht gesehen, ob jemand gegen Mittag das Motel verlassen hat?"

Sie schob das halb verdaute Ding in ihrem Mund zwischen die Schneidezähne, ließ es mich kurz sehen, bevor sie weiter darauf herumkaute. „Ne."

Ich vermisste Rosalinde, ehrlich.

„Moment. Ich habe ein Foto, vielleicht erinnern Sie sich dann." Ich kramte mein Handy hervor und ging meine Galerie durch. Dummerweise waren dort nur recht explizite Bilder von ihm. Bloß ein Annehmbares hatte sich in einer Nacht vor zwei Wochen mit in meine Sammlung geschlichen, weil der Anblick etwas Seltsames in meiner Lendenregion ausgelöst hatte. „Hier."

„Mhm." Sie schaute nur flüchtig hin, schien aber irgendwie abgeneigt von der Tatsache, dass die Ablichtung Noah im Tiefschlaf zeigte. „Noch nie gesehen."

Ich presste die Kiefer aufeinander, lächelte gezwungen. „Wissen Sie vielleicht, wann Rosalinde wieder Schicht hat?"

Die nächste Blase platzte. „Keine Ahnung."

„Hören Sie", meine Schläfen pochten, „er ist mein fester Freund und ich mache mir Sorgen um ihn. Er wollte gestern Mittag nur kurz spaziergehen und ist einfach nicht wieder aufgetaucht."

„Warum suchen Sie dann erst jetzt nach ihm?" Zusätzlich zu den feuchten Geräuschen, die ihr Mund verursachte, klackerte sie jetzt auch noch mit ihren langen, falschen Nägeln auf dem Holz des Tisches zwischen uns herum. Es strapazierte meine eh schon sehr gereizten Nerven.

„Weil ich in der Zwischenzeit geschlafen habe." Ich lehnte mich etwas zu ihr rüber. „Wären Sie wohl so nett und würden Ihre Mitarbeiterin diesbezüglich kontaktieren?"

„Hab' ihre Nummer nicht." Sie lächelte höhnisch. „Arbeite noch nicht lange hier, wissen Sie?"

Warum schien sich in letzter Zeit das gesamte Universum gegen mich zu verbrüdern?

„Okay, passen Sie auf." Ich atmete lautstark aus. „Melden Sie sich einfach, wenn Sie etwas erfahren, in Ordnung?"

„Klar."

„Soll ich Ihnen Name und Zimmernummer aufschreiben?"

„Passt schon. Alles da oben abgespeichert." Sie tippte sich auf den Schädel. Mit etwas Glück spießte sie sich dabei selbst auf.

„Sicher doch." Ich verbarg die offensichtliche Wut in meinen Gesichtszügen nicht, als ich sie ein letztes Mal mit den Augen fixierte, bevor ich mich umdrehte und wieder Richtung Treppenhaus stiefelte.

„Wissen Sie", hallte ihre Stimme nochmal zu mir herüber, als mein rechter Schuh sich bereits mit der ersten Treppenstufe bekanntgemacht hatte, „es kommt nicht gerade selten vor, dass hier wer einfach abhaut."

Ich ballte die Hände zu Fäusten. „Er ist nicht abgehauen."

„Klar." Sie schmatzte. „Das sagen sie alle, aber weg ist die Freundin dann trotzdem."

Sie ist männlich."

Sie zuckte mit den Schultern. Alles an ihrer Haltung verachtete mich, doch sie sagte nichts mehr. Und ich wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass sie dachte, ich hätte Noah etwas angetan. Als müsste sie schweigen, um ihn vor mir zu schützen.

„Vielen Dank für Ihre hilfreiche Unterstützung", zischte ich und ging die Treppen hinauf zurück in unser Zimmer.

Die Sache begann allmählich, keinen Spaß mehr zu machen. Dafür passten zu viele Dinge nicht zusammen.

Noah hatte wiederkommen wollen. Er würde nicht einfach verschwinden, erst recht nicht ohne Handy und Papiere. Ich meine, auf die Art könnte er sich nicht einmal ein Zugticket leisten oder die Busfahrt zum nächsten Hauptbahnhof. Und sein Charakter würde es ihm nicht erlauben, schwarz zu fahren – genauso wie es außer Frage war, dass er sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte. Nicht mit dem geschwollenen Wasserfarbmalkasten-Knöchel.

„Okay." Ich rieb mir über die Augen. Tante Ingrid erwartete uns erst morgen wieder zurück, das hieß, ich hatte noch den gesamten Tag und die gesamte Nacht, um ungewolltem Stress aus dem Weg zu gehen. Kein Grund zur Eile also.

Genau.

Ich schnaubte.

Was machte ich mir eigentlich vor? Vierundzwanzig Stunden waren nichts in einer fremden Stadt. Es gab mehr Orte, an denen er sein könnte, als mir überhaupt einfallen würden. Sicher war nur, dass er sich nicht hier im Motel befand. Foyer, Gemeinschaftsraum und kleinen Frühstückssaal hatte ich heute Morgen zuallererst abgesucht, aber nada. Kein Noah weit und breit. Der Idiot hätte wenigstens sein Handy mitnehmen sollen, dann würde ich mich jetzt nicht wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlen.

„Scheiße." Ich legte mir eine Hand in den Nacken.

Ich war übelst am Arsch. Wie sollte ich erklären, dass ich meinen Freund verloren hatte – ohne die leiseste Möglichkeit der Kommunikation? Bei seiner allgegenwärtigen Tollpatschigkeit würde es mich nicht wundern, wenn er es geschafft hätte, irgendwie unter ein Auto zu kommen.

Ich stockte, die Hand rutschte von meiner Haut.

Vielleicht war der Gedanke gar nicht so abwegig. Es könnte gut möglich sein, dass er, noch mitten in seinem dramatischen Abgang, eine rote Ampel übersehen hatte. Oder er war irgendwo gestürzt und hatte sich den Knöchel nun endgültig gebrochen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich in ärztlicher Obhut befand, erschien mit jeder verstrichenen Minute plausibler.

Ich streckte meinen Rücken durch, von neuem Elan gepackt.

Zeit für ein bisschen Krankenhaus-Hopping.


Der Vorteil daran, selbst im Gesundheitswesen zu arbeiten, lag darin, dass ich das Verhalten der Rezeptionisten etwas einschätzen konnte. Ich wusste, dass ich telefonisch keine Antwort erhalten würde, aus datenschutzrechtlichen Gründen. Aber ich wusste auch, dass die Mitarbeiter am Empfang in der Regel weich wurden, wenn jemand völlig aufgelöst vor ihnen in Tränen ausbrach. Mit letzterem konnte ich zwar nicht dienen, aber ich wusste, wie man eine gute Show hinlegte. Und es kam mir sehr gelegen, dass das Fräulein vor mir vermutlich höchstens ein paar Jährchen älter als ich war – mit anderen Worten also unerfahren.

Endlich schien das Schicksal mich mal zu mögen.

„Ich wurde gerade angerufen", brachte ich hervor, kaum war ich schlitternd vor der Frau zum Halten gekommen. „Mein Freund", ich atmete extra laut, als wäre ich hergerannt, „mein Freund hat gesagt, er wurde gerade eingeliefert, weil er einen Unfall hatte."

„Beruhigen Sie sich erstmal." Sie lächelte mich sachte durch die Glasscheibe hindurch an, die uns voneinander trennte. Sie trug eine weiße Bluse, darüber einen dunkelblauen Blazer. Viel zu formal. „Wie ist der Name?"

Ob Noah irgendwie angerissen hatte, was zwischen uns passiert war?

Wohl kaum.

Ich schüttelte den Gedanken ab. Es wäre mehr als nur albern, hätte er mich oder unseren Streit erwähnt. So etwas tat man nicht, wenn man sich verletzt hatte, dann schilderte man lediglich den Tathergang. Außer natürlich, er erwartete, dass ich ihn suchte, und hatte irgendwelchen Ärzten gesagt, sie sollten auf keinen Fall jemanden zu ihm lassen, der auf den Namen Paul Achermann hörte. Was auch wieder unwahrscheinlich wäre. Wir hatten uns schließlich bloß ein bisschen gezofft und nicht gleich scheiden lassen.

„Noah Balz. Mit Z am Ende.", antwortete ich also und lehnte mich näher an die Scheibe, verzog besorgt das Gesicht. „Und meiner ist Paul Achermann."

Sie tippte irgendetwas in ihren Computer ein, runzelte die Stirn. „Können Sie mir den Nachnamen buchstabieren?"

„Sekunde." Um zu beweisen, dass ich ihn kannte, fischte ich sein Portmonee aus meiner Hosentasche und schob ihr seinen Personalausweis zu. Dass das ein wenig seltsam wirken musste, merkte ich erst, als sie mich stumm mit gehobenen Brauen ansah.

Gut, dass mir sofort eine passende Ausrede einfiel, die tatsächlich nur zur Hälfte erfunden war. „Wir sind zum Urlaub hier. Wir waren im Europapark und er wollte sich die Gegend ansehen, aber ich war zu müde wegen der langen Autofahrt und da ist er einfach allein und ohne alles losgezogen. Ich habe auf ihn gewartet, aber er ist einfach nicht wiedergekommen." Dem Anstand halber wischte ich mir die Hände an der Jeans ab. Nervöse Menschen schwitzten ja bekanntlich ziemlich viel.

Ihre Augenbrauen senkten sich wieder ein annehmbares Stück, deswegen machte ich weiter, weil Aufregung in der Regel nicht bloß zu vermehrter Schweißproduktion, sondern oftmals auch zu sinnlosem Gebrabbel führte.

„Wir ... ich habe Wochen gebraucht, bis ich seine Tante endlich überzeugen konnte, ihn mit mir zusammen wegfahren zu lassen. Sie ist wie eine Helikoptermutter. Und jetzt sind wir keine zwei Tage weg und er landet direkt im Krankenhaus." Ich schlug die Hände theatralisch über dem Kopf zusammen. „Oh Gott, sie wird mich umbringen!"

„Nur mit der Ruhe, lassen Sie mich zuerst nachschauen, was mit Ihrem Freund ist ..." Sie klackerte auf der Tatstatur herum, gefolgt von Stirnrunzeln und einem fragenden Blick in meine Richtung. „Es tut mir leid, aber bei uns ist niemand unter dem Namen eingetroffen."

„Sind Sie sicher? Liegt es vielleicht daran, dass er sein Krankenkassenkärtchen nicht dabeihatte? Schauen Sie bitte nochmal nach."

„Nein, selbst dann müssten wir einen neuen Fall anlegen." Sie schaute trotzdem erneut nach, fand aber wieder nichts. „Es tut mir leid. Sie meinten, er hätte Sie angerufen. Hat er sicher unser Krankenhaus genannt?"

Okay, hier würde ich kein Glück mehr haben und sie gab mir gerade die perfekte Ausrede, um zum nächsten hinüberzuwechseln.

„Krankenhaus St. Aedesius*", meinte ich hastig und sah, wie sie sofort abwehrend mit beiden Händen vor ihrer Brust herumwedelte.

„Das hier ist das Klinikum St. Nikodemus*."

„Sie meinen, ich bin nicht-" Ich brach mitten im Satz ab und machte große Augen, senkte die Stimme zu einem entsetzten Flüstern. „Ich bin im falschen Krankenhaus?"

„Ich fürchte ja." Sie verzog ganz mitleidig den Mund, während ich noch mehr Angst in meine Gesichtszüge mischte.

„Scheiße, ich-" Ich trat einen Schritt zurück. „Tut mir leid, ich dachte ... Tut mir leid!" Dann fuhr ich herum und hastete durch den Empfangsbereich nach draußen. Ich behielt das Tempo noch eine Weile bei, weil die meisten Krankenhäuser am Eingang Kameras installiert hatten, bevor ich schließlich in einen langsamen Laufschritt verfiel.

„Alles klar." Ich kramte im Gehen mein Handy aus der Jeanstasche und löschte die Adresse der ersten Notfallambulanz aus meinen Notizen. Zwei weitere befanden sich noch in unmittelbarer Umgebung, die nächsten waren weiter weg, aber ich bezweifelte, dass irgendein Rettungsdienst ihn absichtlich an den Hintern der Welt verfrachten würde.

Beim nächsten Ziel würde ich mit sechsundsechzig-Komma-Periode-sechs-prozentiger Wahrscheinlichkeit fündig werden.

Überhaupt kein Grund zur Panik.


Immer mit der Ruhe. Denk nach.

Ich zündete mir die zweite Zigarette in Folge an, atmete unruhig ein.

Fünf Stunden hatte ich jetzt mit nutzlosem Hin- und Herfahren und Schauspielerei verschwendet, ohne auch nur das winzigste Bisschen weitergekommen zu sein. Noah hatte sich weder in den drei ersten Krankenhäusern noch in den anderen vier befunden, die mir allein aufgrund der Entfernung bereits als völlig sinnbefreit erschienen waren. Und trotzdem hatte ich dort nachgeschaut – bloß um ihn nicht zu finden.

Ich hielt die Luft an, zehn Sekunden lang, dann entließ ich den Rauch aus meinen Bronchien. Eigentlich vermied ich es, in meiner Schrottlaube zu paffen, weil das ihren kaum existenten Wert nochmal um ein Vielfaches senkte, aber normalerweise suchte ich auch nicht wie ein schlechter Detektiv nach verschollenen Personen.

„Irgendetwas übersehe ich." Die Zigarette war fast aufgebraucht, die Packung auch schon beinahe leer. „Aber was?"

Stille antwortete mir, während die Furchen in meiner Stirn sich vertieften.

Ich hatte absolut keinen blassen Schimmer, was ich jetzt tun sollte. Ich war aufgeschmissen – für diese Art von Situationen hatte ich keine Lösungen und erst recht keine guten Coping-Mechanismen. Als Teenie war Zähneknirschen noch eine Option gewesen, aber das würde ich mir nur sehr ungerne wieder aneignen. Schmerzende Kieferknorpel waren unschön.

Was jetzt?

Ich kniff die Augen zusammen, drehte den qualmenden Filter zwischen meinen Fingern. Wirklich viele Optionen hatte ich ja nicht mehr unbedingt parat. Ich könnte nur noch die Polizei verständigen und die Arbeit auf sie abwälzen. Das wäre vielleicht sogar das Richtige, weil Noah minderjährig und seit über vierundzwanzig Stunden vermisst war.

Vermisst, ich rieb mir über die Schläfen, zog dabei eine Spur Asche über meine rechte Wange, oder geflohen?

Was für eine dumme Frage. Natürlich war er nicht einfach gegangen. Es war immerhin Noah, über den ich hier gerade nachdachte. Warum sollte er sich gleich verpissen, nur weil ich ihm sein erstes Mal verdorben und nebenher eine kleine emotionale Breitseite verpasst hatte?

Mhm, ganz genau.

Der Tabak brannte in meiner Speiseröhre.

Frustriert entsperrte ich mein Handydisplay und rief meine Kontakte auf, scrollte bis zu Tantchen Ingrid hinunter. Mein Daumen schwebte einen Moment lang über dem grünen Hörer, bevor ich einknickte und nachgab. Weil vierundzwanzig Stunden lang genug waren, um zurück nach Hause zu gelangen, sogar für jemanden mit einem Orientierungssinn wie Noah, der sich selbst in seinem eigenen Zimmer verirren und niemals schwarzfahren würde, es aber vielleicht ausnahmsweise getan hatte, um mir zu entkommen.

Ob der miserable Sex ihm die rosarote Brille von der Nase gerissen hatte?

Gerade als ich meinen Kippenstummel aus dem heruntergekurbelten Fenster schnickte, tönte Ingrids Stimme an mein Ohr. Viel zu fröhlich, um über die Geschehnisse im Bilde zu sein. Wäre dem so, würde sie mich direkt zusammenfalten, was mir einfiele, ihrem Jungen wehzutun. An meinem Ohr hatte sie ja auch schon herumgezogen, bloß weil ich ihn mit leichter Verspätung zu Hause abgeliefert hatte.

Aber einen Versuch war es wert gewesen.

„Paul! Wieso rufst du an?"

Ich versuchte, den üblichen Schalk in meine Tonlage zu packen, aber irgendwie wollte es mir nicht wirklich gelingen. „Was denn? Darf ich mich plötzlich nicht mehr bei dir melden, wenn ich dich vermisse?"

„Du kleiner Schleimer!" Sie gackerte wie die Mischung aus einem Huhn und einem Pferd. „Aber jetzt erzähl doch mal – habt ihr Spaß?"

Ookay, sie hatte offiziell keinen Dunst, wo der Freak sich versteckt hielt.

Ich rieb mir über die Augen. „Ja, total. Noah blüht richtig auf. Ich hätte nicht gedacht, dass er so verrückt nach Achterbahnen sein könnte, aber ich muss jede gefühlt fünfunddreißig Mal mit ihm fahren."

Erneutes Wiehern, bevor sie das Gespräch in eine Richtung lenkte, die mich in eine ziemlich große Zwickmühle brachte. „Isst er denn auch genug? Obwohl", sie schnaubte, „gib ihn mir doch mal, Paul. Ich will's lieber von ihm selbst hören. Du lügst mir zu viel."

Wenn sie nur wüsste, wie recht sie hat.

„Würde ich gerne, aber", fast hätte ich ihr die altbekannte Ausrede mit der Toilette aufgetischt, aber das würde die Bredouille bloß unnötig hinauszögern, weil sie bestimmt verlangt hätte, dass er sie zurückrufen sollte. Also musste eine andere Ausrede her, am besten eine, die mir noch zusätzlich ein paar Gnadenstunden einbrächte, „Noah weiß gar nicht, dass ich gerade mir dir spreche."

„Hm? Wieso das denn?"

Ja, wieso das denn?

„Weil ... ich ihn überraschen will." Ich kniff die Augen zusammen. „In der Nähe hat ein Zirkus sein Lager aufgeschlagen und ich habe Karten besorgt. Deswegen rufe ich an, weil ich dich fragen wollte, ob es in Ordnung ist, wenn wir noch eine Nacht länger wegbleiben. Noah meinte eh, er hätte keine Prüfungen mehr und müsste übermorgen auch nicht im Supermarkt aushelfen."

Ingrid überlegte kurz, dann seufzte sie. „Ich will ihm nicht seinen ersten Ausflug kaputtmachen. Du musste mir aber versprechen, dass du auf ihn aufpasst, ja? Bring mir meinen Neffen in einem Stück wieder nach Hause, sonst setzt's was!"

„Du kennst mich doch." Ich lachte und war heilfroh, als sie endlich auflegte und ich mich sortieren konnte.

Zusammengefasst war Noah also weder im Hotel noch in einem Krankenhaus oder Zuhause. Und das natürlich ohne Handy und Geld und einem Körperbau, der es ihm verbot, sich auch nur erfolgreich gegen ein neunjähriges Mädchen zu verteidigen.

Shit." Ich öffnete mein Handschuhfach, wühlte nach meinem Feuerzeug, obwohl es vorhin erst zusammen mit meinen Glimmstängeln auf den Beifahrersitz geworfen hatte.

Wie heftig stand ich eigentlich neben mir?

Kopfschüttelnd ließ ich meine Zigaretten Zigaretten sein und startete den Motor.

Wenn ich ehrlich war, blieb mir gar nichts anderes übrig, als zur Polizei zu gehen.





*Wir haben die dort ansässigen Krankenhäuser einfach mal ganz dreist umbenannt, weil wir keine Ahnung haben, ob wir deren echte Namen nennen dürfen.

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