"Oh, das hat gut getan", äußert Emma und hält sich ihren vollen Bauch, der sich nun nach drei Schälchen Eintopf viel schwerer anfühlt.
"Es scheint dir gemundet zu haben", schmunzelt Lorna und hängt ihren Mantel an den Haken neben der Tür.
"Sehr", bestätigt Emma und nickt.
Die Sonne ist bereits untergegangen, hat sich hinter den Bergspitzen versteckt und wartet bis der Mond den Platz am Himmel wieder freigibt.
Zig Sterne funkelten auf sie herab, als sie vom Dorfplatz zu Lornas Hütte gingen.
"Möchtest du auch einen Tee?", fragt diese mit dem Teekessel in der Hand.
Emma lässt sich auf einen der Hocker fallen und schüttelt den Kopf, "In meinem Magen ist nicht mal mehr Platz für Tee."
Sie kichert und zerkleinert für Lorna die Kamille.
Lorna füllt indes den Kessel mit Wasser und hängt ihn über die Feuerstelle.
Sie will sich gerade zu Emma setzen, als die Hüttentür mit einem lauten Knall aufgestoßen wird, der beide Frauen zusammenfahren lässt.
"Ich brauche Hilfe!", ruft ein Mann, der einen Jungen in seinen Armen hält.
Sofort lässt Lorna alles stehen und liegen und läuft auf sie zu.
"Was ist passiert?", fragt sie und blickt dem Jungen ins Gesicht.
"Ich- ich weiß- nicht", schnauft der Mann und geht mit dem Jungen in seinen Armen auf den Tisch zu, an dem Emma sitzt.
Kurzerhand steht diese auf und wischt in einer fließenden Bewegung alles runter.
Gefäße und Becher fallen scheppernd zu Boden.
"Ich habe ihn vor unserer Hütte gefunden. Er lag da, gab keinen Ton von sich und sein Bein, ich- weiß einfach nicht...", erzählt der Mann hektisch und legt den Jungen auf dem Tisch ab.
"Beruhig dich, Erik, er ist bewusstlos, nicht tot und nun lass mich sehen", fordert Lorna sanft, aber bestimmt. Sie schiebt den großen Mann zur Seite und besieht sich die Beine des Jungen.
"Das rechte Bein", sagt der Mann schnaufend und zeigt darauf.
Emma folgt dem Finger mit ihrem Blick. Das Hosenbein des Jungen ist mit Blut durchtränkt.
"Bring mir ein Messer, Emma und du Erik, setz dich. Du machst mich nervös, wenn du hinter mir umher läufst."
Emma nickt und läuft an dem Mann vorbei, der sein auf und ab gehen einstellt und sich auf einen Hocker bei der Feuerstelle fallen lässt.
"Wir müssen uns beeilen", sagt er laut, "Du weißt...", er stockt, "Warum..."
Emma greift indes nach einem Messer und bringt es Lorna.
Diese nimmt es ihr in einer schnellen Bewegung aus der Hand und beginnt das Hosenbein aufzuschneiden.
Zum Vorschein kommt eine tiefe, blutige Wunde und wenn Emma sich nicht täuscht, kann sie den Knochen sehen.
Übelkeit kriecht ihre Kehle empor und sie kann nicht verhindern ein würgendes Geräusch von sich zu geben.
Sofort wendet Lorna ihren Blick Emma zu. Mit blitzenden Augen sieht sie an.
"Reiß dich zusammen", fordert sie, was Emma mit einem mühevollen Nicken bestätigt.
"Hol mir Wasser und Leinentücher. Beides findest du in der Speisekammer."
Froh, sich von dem Anblick entfernen zu dürfen, folgt sie Lornas Anforderung.
"Ich muss die Wunde reinigen. In dem Regal hinter mir ist Schafgarbe. Stell daraus einen Sud her und bring ihn mir", befiehlt Lorna, als Emma wieder bei ihr ankommt.
Den Eimer mit Wasser und die Tücher legt sie ihr hin, bevor sie sich erneut abwendet und das besagte Regal absucht.
In ihrem Kopf wiederholt sich wie ein Mantra immer wieder das Wort "Schafgarbe",während ihre zitternden Finger die Gefäße und Becher entlang fahren.
Ihr Herz schlägt immer schneller, je länger ihre Suche andauert.
"Emma!", ruft nun auch Lorna.
"Ich, ich, hier ist keine Schafgarbe!", ruft Emma hektisch über ihre Schulter und beginnt nun jedes Gefäß einzelnd aus dem Regal zu holen.
"Kamille, Gundermann, Bärlauch, Spitzwegerich, Salbei", murmelt sie vor sich hin, "Nein, nein keine Schafgarbe."
Plötzlich wird sie zur Seite gezogen und Lorna sucht das Regal ab.
"Sie muss hier sein", murmelt sie.
Aber auch nachdem sie das letzte Gefäß aus dem Regal holt ist von dem gewünschten Kraut keine Spur.
Lorna lässt die Schultern hängen und seufzt laut. Scheint zu überlegen.
"Kannst du die Wunde des Jungen weiter säubern?", fragt Lorna sie plötzlich und bevor Emma antworten kann, spricht sie schnell weiter, "Ich muss in den Wald. Wir brauchen Schafgarbe!"
Mit großen Augen sieht Emma sie an.
Sie soll die Wunde säubern? Allein bei dem Gedanken möchte sie wieder würgen. Sie kann einfach kein Blut sehen. Sie kann ja nicht mal Tiere ausnehmen.
Lorna, die Emmas Gesicht betrachtet, schüttelt den Kopf.
"Dann musst du in den Wald. Aber nein, das geht auch nicht. Du kennst dich nicht aus, es ist dunkel und viel zu gefährlich."
"Ich gehe mit ihr!", ruft der Mann plötzlich und springt auf, "Kümmer dich nur um meinen Sohn, Lorna."
"Keine Sorge, bringt mir nur die Schafgarbe."
Emma und der Mann nicken und verlassen die Hütte.
~•~
Nachdem die Beiden das Tor hinter sich gelassen haben, betraten sie eiligen Schrittes den Wald.
Emma hatte es sich schwieriger vorgestellt das Dorf zu verlassen. Doch anstatt eine wilde Diskussion über Befehle und Verbote, schrie der Mann, Erik, er müsse seinen Sohn retten, dass er ein Kraut bräuchte, das Emma erkennen könne und deswegen müssten sie beide nun in den Wald.
Emma weiß nicht wie nah die Bewohner sich untereinander stehen oder ob Erik auf die Wachmänner einfach einen derartig verzweifelten Eindruck machte, dass man nicht weiter nachfragte. Man hat einfach das Tor empor gezogen und beide gehen lassen.
Obwohl Rennen hierbei der bessere Ausdruck wäre.
Erik, dessen Sorge ihn antreibt, als würde er von einem Monster gejagt werden, läuft so schnell, dass Emma Mühe hat ihm zu folgen.
Würde er keine Fackel in der Hand halten, hätte sie ihn sicher schon verloren. So kann sie das orangefarbene Licht fokussieren, doch noch schneller zu laufen lassen ihre Beine einfach nicht zu.
"Bist du noch hinter mir?", ruft er über die Schulter.
"Ja- ha", ruft Emma schnaufend zurück, während sie sich an einem Baumstamm abstützt und über eine hervorstehende Wurzel hinwegsteigt.
"Du musst schneller werden."
"Ich gebe mir Mühe", erwidert sie und strengt sich an aufzuholen.
Wie kann er so schnell sein? Selbst der Lichtkegel der Fackel spendet doch kaum genug Licht, um mit so sicheren Schritten über einen unebenen Waldboden zu rennen. Zig Stolperfallen liegen hier aus. Hervorstehende Wurzeln, vom Schnee getränktes Laub, Stöcker und Steine.
"Es ist nicht mehr weit. Bald kommen wir zum See. Dort müsste sie wachsen."
Emma kann Erik darauf nicht antworten, stattdessen versucht sie sich in der Nähe des Lichtkegels zu bewegen.
Nicht auszudenken wie Erik reagiert, wenn sie fällt.
Entweder bekommt er es in seinem Wahn nicht mit und lässt sie einfach zurück oder er steht kurz vorm Verrückt werden, weil sie wertvolle Zeit in Anspruch nimmt.
Egal welche Möglichkeit es wäre, sie will es gar nicht erst dazu kommen lassen, herauszufinden wie er reagieren würde.
"Dort, dort. Wir sind fast da. Paar Schritte noch. Dann musst du dich umsehen. Ich leuchte dir dann", hetzt er und Emma fragt sich, warum ihm sein Sprint nichts auszumachen scheint. Er keucht nicht, redet so, als würde er mit ihr spazieren gehen. Als sei er nicht aus der Puste. Emma beginnt ihn fast ein wenig um seine Ausdauer zu beneiden. Denn sie keucht so, als würde sie keine Luft mehr bekommen und genau das Gefühl hat sie auch. Sie bereut so viel beim Abendmahl gegessen zu haben. Hätte sie gewusst was sie heute noch erleben würde, hätte sie weniger gegessen.
"Hier, hier", sagt er schnell und bleibt so abrupt stehen, dass sie beinahe in ihn hinein gelaufen wäre, "Sieh dich um. Mach schon."
Emma möchte am liebsten erstmal wieder zur Luft kommen, doch dafür bleibt keine Zeit.
Ihre Augen schweifen über dem Boden, folgen dem Lichtkegel, der sich hin und her bewegt.
In absoluter Stille, die nur von ihrem lautem Atem unterbrochen wird, gehen die Beiden den Boden ab.
Erik die Fackel haltend und Emma in gebeugter Haltung.
"Hier ist keine Schafgarbe", stellt sie nach einiger Zeit fest und richtet sich auf.
"Hier muss aber welche sein", widerspricht Erik ungehalten und läuft an Emma vorbei.
Einige Schritte entfernt bleibt er stehen und zeigt auf die Stelle, "Was ist das?"
Emma geht näher heran und besieht sich das Gestrüpp.
"Das ist keine Schafgarbe", stellt sie fest.
"Versuchen wir es woanders", schlägt sie vor und zeigt näher zum See, "Leuchte mal da."
So geht das die ganze Zeit. Emmas Augen kleben am Boden, während sie sich mit kleinen Schritten vorwärts bewegt.
Sie ist kurz davor aufzugeben, als sie in einigem Abstand ein verwelktes Pflänzchen sieht.
Ohne etwas zu sagen, läuft sie darauf zu und reibt eine der Blüten.
Sie hält sich die Finger an die Nase und ein süßlicher Geruch entfaltet sich.
Schnell greift sie nach den Stängeln und pflückt gleich mehrere.
"Hast du sie gefunden?", fragt Erik und kommt auf Emma zu.
"Ja, ja, ich habe sie", antwortet sie und kann ein glückliches Lachen nicht unterdrücken.
Sie haben sie endlich gefunden.
Emma will sich gerade aufrichten, als ein lautes Knacken sie innehalten lässt.
Erik dreht sich blitzschnell in die Richtung aus der es kam und auch Emma blickt dorthin.
Dort hinter dem Lichtkegel, der wie eine Grenze zwischen ihnen und der Dunkelheit liegt.
Langsam richtet sich Emma auf, die Schafgarbe festhaltend und blickt fragend zu Erik empor.
"Was war das?", fragt sie leise.
Seine Kiefermuskeln arbeiten, als er den Blick von der Stelle abwendet und ihr direkt in die Augen sieht.
Seine rechte Gesichtshälfte taucht sich in oranges Licht und die Flamme der Fackel spiegelt sich in seinem Auge.
"Nichts", knurrt er leise und nimmt Emma an die Hand.
Von dieser Geste komplett überrascht stockt Emma der Atem.
Fassungslos blickt sie auf seine Hand, die ihre festhält.
"Wir gehen jetzt zurück", sagt er langsam und ohne auf ihre Reaktion zu achten, setzt er sich in Bewegung.
Emma entgeht nicht, dass er sie dabei von der Stelle abschirmt, von der das Knacken kam und sie kann nicht verhindern, dass sie über die Schulter blickt, hinein in die Dunkelheit, die plötzlich wie der Schlund eines Monsters wirkt.
Das Knacken war laut. Sehr laut, als hätte ein Bär einen Schritt gemacht.
Anstatt zu laufen wie es Erik vorhin tat, geht er nun langsam. Bedacht, als müsste er überlegen wohin er seine Füße setzt.
Dieser Wandel sorgt bei Emma für ein ungutes Gefühl im Bauch, doch das was dieses Gefühl noch weit verstärkt ist die Tatsache, dass das Knacken ihnen folgt.
Irgendetwas großes, schweres ist dort in der Dunkelheit und hält mit ihnen Schritt...
... und es ist kein Mensch.
Das ist sicher, denn dafür sind die Geräusche viel zu laut.
~• Fortsetzung folgt •~