Kapitel 2

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Kapitel 2

In ihrer Kammer angekommen, atmete Merryn tief durch und stellte sich vor, wie es sein würde, all die tanzenden Paare, die Dekorationen, das Essen, die Musik zu erleben. Noch nie hatte ihr Vater sie für den Wachdienst während eines Balls eingeteilt. Dieses Privileg war eigentlich den älteren, erfahreneren Wachen vorbehalten. Aber scheinbar hatte sich ihr zusätzliches Training in den letzten Wochen bezahlt gemacht. Auch wenn sie heute tatsächlich nicht alles gegeben hatte.

Merryn ging rüber zu dem kleinen, hölzernen Schreibtisch, der zwischen ihrem Kleiderschrank und der Außenwand der Kammer eingeklemmt war. Man hätte meinen können, dass sie als Tochter des Hauptmannes der königlichen Garde irgendwelche Privilegien genießen würde, aber nein. Sie hatte dieselben zehn Quadratmeter zur Verfügung wie alle anderen. Nur das sie sie aufgrund ihres Geschlechts mit niemandem teilen musste. Als einzige Frau in der Garde hatte Merryn also vielleicht doch einen kleinen Vorteil gegenüber den anderen. Was aber die vielen abfälligen Bemerkungen und Schikanen, die sie sich täglich anhören musste, nicht besser machte.

Das schmale Bettgestell stand unter dem einzigen Fenster. Die Scheiben zwischen den metallenen Sprossen waren mit der Zeit milchig grau geworden. Im Winter drang Kälte und Feuchtigkeit hindurch und machte das kleine Zimmer zu einer Eiskammer. Der winzige Kachelofen neben der Tür war dann das Einzige, was Merryn vor dem bitteren Erfrierungstod bewahrte. Die rauen Steinwände schmückte einzig ein kleiner Gobelin, den ihr Vater ihr einmal zur Schattennacht geschenkt hatte. Er zeigte eine Berglandschaft bei Sonnenuntergang. Die Holzdielen am Boden knarrten bei jedem Schritt unter ihren Füßen, was Merryn aber nach drei Jahren in der Garde schon längst nicht mehr wahrnahm.

Sie kniete sich aufs Bett, um das Fenster zu schließen, das sie heute Morgen geöffnet hatte, bevor sie gegangen war. Jetzt am Abend wurde es zunehmend kühler. Sie lehnte sich ein Stück hinaus, um die nach außen geklappten Flügel heranzuziehen, als ihr Blick in den Schlosshof fiel. Drei Wachen ihres Vaters schleiften gerade einen Gefangenen über das graue Pflaster. Er schien bewusstlos. Armer Teufel. Was er wohl verbrochen hatte? Diese Frage stellte sich Merryn öfter, wenn sie sah, dass die Wachen jemanden in die Kerker brachten. Auch wenn das oft kein schöner Anblick war, war sie froh, dass ihr Fenster in den Schlosshof hinausging und nicht auf die Meerseite des auf einem Klippenplateau erbauten Schwarzen Schlosses. Der riesige Bau lag fast den ganzen Tag im Schatten des Traxon. Des Berges, der es im Süden und Westen einrahmte wie ein Schutzschild. Nur wenn am Morgen die Sonne aufging – wenn sie sich denn zeigte – wurde das pechschwarze Gestein des Traxon, aus dem auch das Schloss gefertigt war, für wenige Stunden in Licht gehüllt. Zu dumm, dass das Meer im Osten lag. Merryns Zimmer hatte also noch nie auch nur einen einzigen Sonnenstrahl gesehen.

Sie schloss das Fenster und setzte sich an den Schreibtisch, der ihr gleichzeitig als Frisiertisch diente und stellte den kleinen Standspiegel so auf, dass sie hineinsehen konnte. Vorsichtig betastete sie den Schnitt an ihrem Kinn und sog scharf die Luft ein, als es brannte. Blöder Thyris, dachte sie.

Dann löste sie die Haarnadeln aus ihrem Dutt und legte sie in die dafür vorgesehene Schatulle aus Perlmutt. Ebenfalls ein Schattennacht-Geschenk ihres Vaters. Sie schüttelte ihre rotbraunen Strähnen und fuhr ein paar Mal mit den Fingern hindurch. Ihr Haar reichte mittlerweile bis zu ihrem Steiß. Sie brachte es einfach nicht über sich, es abzuschneiden. Auch wenn ihr Vater schon oft betont hatte, dass es im Kampf hinderlich sein könnte.

Merryn erhob sich, machte einen Schritt auf den Kleiderschrank zu und öffnete die quietschende Tür. Mit flinken Fingern löste sie den ledernen Messergürtel von ihrer Hüfte. Der Gürtel war Merryns ganzer Stolz. Vorsichtig legte sie ihn mit samt den 12 Dolchen auf dem Schreibtisch ab. Dann knöpfte sie ihre Hose auf, schlüpfte heraus und hängte sie ordentlich in den Schrank.

A Throne of Night and DarknessWhere stories live. Discover now