Kapitel 2

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Rana

Lakshmi reibt sich die Augen und sieht dann müde von ihren Mathematikübungen auf. »Warum?«, fragt sie gequält.

»Warum was?«

Sie lässt ihren Kugelschreiber auf den Tisch fallen. »Warum ich mich von meinen Eltern zu diesem Zeug habe überreden lassen. Ich hasse Mathe!«

Ich werfe einen Blick auf ihre Aufgaben. »Ach komm, ich helfe dir dabei. So schwer sind die gar nicht, wenn man sie mal verstanden hat, Lakshmi.«

Meine beste Freundin stöhnt und springt vom Stuhl auf. Sie tigert durchs Zimmer und wirft immer wieder einen Blick zu meinem Wecker. »Schon seit drei Stunden versuche ich das Zeug in meinen Schädel zu kriegen, Rana. Seit drei Stunden!« Sie fuchtelt aufgebracht mit den Armen herum. »Dabei wollte ich heute shoppen gehen.«

Ich beobachte sie und schweige. Lakshmi und ich sind seit Sandkastentagen unzertrennlich, aber in den letzten Jahren hat sie sich verändert. Zuerst wollte sie keine Bollywoodfilme mehr sehen. Dann lief plötzlich westliche Musik auf ihrem Zimmerradio. Bis sie vor einem Jahr entschloss keine britische Inderin, sondern eine Engländerin zu sein.

»Es ist doch halb so wild«, versuche ich sie zu beruhigen, obwohl ich weiß, wie schwer sie sich mit ihrem Studium tut. Aber was kann ich anderes machen, als ihr meine Hilfe anzubieten? Wenn sie Informatik so sehr hasst, muss sie das ihren Eltern und nicht mir sagen. Doch diesen letzten Schritt ist sie noch nicht gegangen. Sie hat alles Indische an sich verbannt - aber gegen ihre strengen Eltern ist sie bisher noch nicht angetreten.

»Du kannst gut reden«, sagt sie und starrt wieder auf den Wecker. »Lernen ist dein Hobby!«

Zuerst will ich empört ausrufen, dass das gar nicht stimmt. Aber dann wird mir klar, es ist die Wahrheit. Ich lerne die meiste Zeit meines Lebens für irgendeine Prüfung. Ob es bloß ein Kurztest oder sogar eine Abschlussprüfung ist - jeder kann sich sicher sein, dass Rana Patil von morgens bis abends an ihrem Schreibtisch hockt und über dem Stoff brütet. Ich bin nicht umsonst das beste Mädchen des gesamten Jahrgangs.

»Ich hasse es indische Eltern zu haben«, sagt Lakshmi und lässt sich schließlich wieder auf ihren Stuhl fallen.

»Sag doch nicht so etwas. Sie wollen bloß, dass wir es einfacher haben als sie.« Ich ordne meine Aufschriebe des Hauptseminars zu ‚Internationales Menschenrecht' und lege den Stapel fein säuberlich neben die anderen fünf auf meinem Regal. Ordnung muss sein. »Als unsere Eltern damals von Indien nach London auswanderten, mussten sie sich eine Existenz aus dem Nichts aufbauen ... Wir sollten ihnen dankbar sein für die Chance, die sie uns damit geboten haben.«

Lakshmi dreht an ihren Perlenohrring herum. Dann seufzt sie. »Ich weiß, ich weiß. Aber nichtsdestotrotz ist es nicht mehr meine Kultur. Ich bin hier geboren. London ist meine Heimat, nicht Indien. Rajastan hin oder her - es gibt Gründe, warum unsere Eltern ausgewandert sind und hierherkamen. Warum müssen sie dann immer noch so an ihren Traditionen festhalten? Ich hasse es einfach, Rana.«

Darauf antworte ich nichts mehr, da ich diese Konversation schon unzählige Male mit ihr geführt habe und jedes Mal sind wir zum gleichen uneinigen Ergebnis gekommen. Ich mag unsere Kultur, gerade weil wir sonst nichts mehr haben, dass uns mit der Heimat unserer Vorfahren verbindet. Aber ich kann meine Freundin auch verstehen, denn hier ist man entweder ein Briton oder ein Engländer. Aber nicht beides gleichzeitig.

»Komm«, sage ich, um sie aufzumuntern. »Ich glaube Dad hat im Kühlschrank noch übriggebliebenen Kuchen einer Hochzeitsgesellschaft stehen.«

Lakshmis Augen werden groß, als sie das magische Wort ›Kuchen‹ hört. Sie folgt mir ohne Widerrede in die Küche. Ich verteile die Reste auf zwei Teller und drücke ihr eine Gabel in die Hand. Wir setzen uns an den kleinen Küchentisch und lassen uns die feine Sahnetorte auf der Zunge zergehen.

»Und Patil's läuft immer noch gut?«

Ich nicke. »Dad meinte bereits, dass er bald nach einer Aushilfe suchen muss, wenn es weiterhin so läuft.«

Lakshmi schiebt sich ein großes Stück Torte in den Mund und nickt. »Wenn es mit meinem Studium nichts wird, weiß ich ja, wo ich Arbeit finde.«

Zumindest glaube ich, dass dies ihre Worte waren, weil sie dabei noch den halben Mund voll Kuchen hat. Plötzlich winkt sie an mir vorbei und lächelt. Ich drehe mich um und erblicke meinen älteren Bruder im Türrahmen. Er lehnt lässig an der Wand und das teure Hemd, das Mama ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hat, spannt sich, als er die Arme verschränkt.

Seine Augen wandern über unsere fast leeren Teller. »Ich hoffe, ihr habt mir was übriggelassen.«

Lakshmi wird rot.

Ich verenge die Augen. Sie wird nie rot, es sei denn sie steht auf jemanden. Sie legt ihre Gabel vorsichtig neben dem Rest ihres Kuchens ab und blickt Adri an. Ihre hellbraunen Rehaugen blinzeln ihn von unten herauf an. Tatsächlich. Wie konnte ich das bisher übersehen?

»Adri hat bestimmt Besseres zu tun, als uns beim Essen zuzusehen. Nicht wahr, Bruderherz?«

Nicht auch noch Lakshmi. Nachdem bereits fast die Hälfte aller indischen Mädchen in London auf meinen Bruder steht und sogar die Mütter ihn am liebsten als zukünftigen Schwiegersohn haben wollen, will ich nicht noch meine beste - und einzige - Freundin an ihn verlieren. Er wird ihr genauso das Herz brechen wie allen anderen und dann darf ich die Scherben aufsammeln und Lakshmi wieder emotional aufbauen.

Ich presse die Lippen zusammen und stelle mich zwischen die Beiden, sodass der Flirt unterbrochen wird. »Bitte, Adri.«

Er betrachtet mich für einen Moment, dann nickt er kaum merklich. Ein letztes Zwinkern in Lakshmis Richtung und er verschwindet wieder in sein Zimmer am Ende des Flurs. Erleichtert atme ich aus.

Als ich mich wieder meiner Freundin gegenübersetze, hängt ihr Blick auf meinem Gesicht. Ihre Mundwinkel zucken. »Du bekommst Ravi und ich heirate Adri. Dann wären wir richtige Schwestern!«

Grinsend spieße ich ein Stück Teig auf meine Gabel auf. »Wenn du glaubst, dass du mich mit deinem Bruder verkuppeln kannst, hast du dich geirrt! Ravi ist ein Perverser und kommt keine fünf Meter in meine Nähe!«

»Ach«, winkt Lakshmi lachend ab. »Ich glaube, er könnte dir endlich mal zeigen, wie man den Besen loswird, den du bei deiner Geburt verschluckt hast. Die Mädchen stehen total auf ihn, da würde er dir auch noch den Kopf verdrehen, Rana.«

»Ich habe keinen Besen verschluckt. Ich bin einfach nur ehrgeizig!«

Lakshmi kichert, als hätte ich einen Witz gemacht, dabei war das mein voller Ernst. Im Gegensatz zu ihr ist es mir nämlich durchaus wichtig, was meine Eltern und unsere Bekannten von mir denken. »Lach nur bis ich Rechtsanwältin bin und deine zahlreichen Scheidungen ausfechten soll«, sage ich.

Sie legt mir ihre Hand auf den Arm. »Ach, Rana. Irgendwann wirst auch du begreifen, dass Lernen und gute Noten nicht das Einzige im Leben sind, das zählt.« Ihr Grinsen verstärkt sich und kleine Lachfalten erscheinen unter ihren Augen. »Scheidungen? Du willst doch wohl nicht schon deine zukünftige Schwägerin loswerden!«

»Oh, darauf kannst du wetten.«

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⏰ Last updated: Jun 10, 2016 ⏰

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Flügel aus StaubWhere stories live. Discover now