Der Engel Mit Dem Fingerhut

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Es gibt Gutes. Und es gibt Böses. Sichtbares und Unsichtbares. Und Magie, das wichtigste Gut der Erde ist Magie, doch Magie muss nicht immer magisch sein, sie kann auch natürlich sein. Man sagt, unsichtbares und Magie erkenne man nicht, doch an Rylis Thane sah man beides klar. Diese beiden Kräfte umgaben sie so sichtbar wie Glas. Rylis Thane. Das Mädchen, von dem man sich erzählte, sie sei das Mädchen, um das sich Engel und Teufel stritten. Was niemand wusste war, dass es zwei Engel waren.
Immer wieder hatte man in der Nähe des schönen Mädchens das Gefühl mit einer Macht zu spielen, die niemand kontrollieren konnte. Sie besaß eine so außergewöhnliche Schönheit, dass man sich in ihrem Stamm, dem Stamm der Bluv erzählte, sie rühre aus einem Kuss eines Engels.
Rylis vermochte es, dass sich Menschen in ihrer Nähe als etwas Besonderes fühlten. Dass sie selbst das Besondere war, was die Menschen fühlten, wusste niemand; niemand außer ihrem Engel.
Jeder Mensch hat einen Engel, denn jeder Engel hat ein Erdenkind, auf das er Acht geben muss. Nur wenige Menschen glaubten daran, doch im Stamm der Bluv hielt sich der Glaube an Schutzengel beständig.
Es mag einem verwunderlich erscheinen, doch trotz dieser Eigenart, die viele an ihr schätzen, pflegten nur wenige den Umgang mit Rylis. Denn man wusste ebenfalls, dass es gefährlich war in ihrer Nähe zu sein.
Man erzählte sich die Geschichten von einem Tag, aus ihrem noch so jungen Leben, an welchem sich das Glück von ihr abgewendet zu haben schien. Von jenem Tag, an welchem sie ihre engelsgleiche Schönheit erhalten hatte.
Rylis war schon immer auffallend hübsch gewesen. Doch von dem Tag an, an welchem sie von einem Engel geküsst worden war, umgab ihre Schönheit sie wie ein Schleier aus Licht.

Es war kalt geworden, der Winter machte sich mit aller Kraft die Erde untertan. Schleichend kam die Kälte durch die Wälder, der Frost legte sich über alles, was dem indianischen Sommer noch seine strahlenden Farben geschenkt hatte. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger.
Der Atem Rylis‘ war als kleines Wölkchen in der eisigen Luft sichtbar, ähnlich dem Rauch, welcher aus den Zelten stieg, die das Kapitol ihres Stammes bildeten. Sie war in ein weißes Fell gehüllt, welches ihren zarten Körper vor der unerbittlichen Kälte schützen sollte.
Er hingegen trug einen schwarzen Mantel und obwohl dieser äußerst schwer auf seinen Schultern lasten musste, schien er um ihn zu schweben, so schwerelos wie eine Feder. Er lehnte an einer der Zeltwände.
Eine Weile hatte er sie dabei beobachtet wie sie genäht hatte. Sie war geschickt, ohne seine Hilfe hatte sie sich nicht ein einziges Mal mit der Nadelspitze verletzt. Ganz im Gegensatz hatte es sich verhalten, als sie ein Kind gewesen war. Ständig hatte er sie ihm Blick behalten müssen, damit sie keinen heißen Kessel berührte, nicht vom Pferd fiel, oder gar ein giftiges Kraut aß.
Sie entfernte sich von ihm, weshalb er ihr folgte. Unbemerkt wie ein Schatten lief er mal hinter ihr, mal neben ihr. Er wusste genau, was ihr Ziel war. Der verbotene Weiher; sie würde sich dort wieder mit diesem Jungen treffen.
Die Arme verschränkt und mit den Fingerspitzen seiner linken Hand abwartend auf seinen rechten Oberarm trommelnd, leistete er ihr an dem zum Teil gefrorenen Weiher Gesellschaft. Sie konnte ihn nicht sehen, doch das störte ihn nicht.
Der Fingerhut, welchen seinen Zeigerfinger der linken Hand umschloss, klickte bei jedem Tippen auf seinen Oberarm leise. Er war ein Konglomerat aus Kupfer, in welches man einen Faden Höllenfeuer eingearbeitet hatte. Denn außer dieser Pflanze, vermochte es nichts auf der Erde seine Kräfte zu bändigen. Höllenfeuer, wieder eine dieser Pflanzen, welche Rylis in dem Altern von vier Jahren beinahe gegessen hätte. Der Faden wand sich verborgen unter dem Kupfer elegant um seinen Finger. Jedes Mal wenn er auf seinen Fingerhut blickte, erinnerte er sich an Vergangenes. Verlorenes.
Sie hob den Kopf und blickte in Richtung des jungen Mannes, welcher gerade an den Weiher getreten war. Wo war er? Sem hieß er, er war ein netter Junge und ein sehr begnadeter Jäger. Sehr bemüht um die Gunst Rylis‘. Doch wo blieb er? Stürmisch fiel die junge Frau ihrem Verehrer um den Hals. Er sah anders aus als zuvor, was war an Sem nur anders. Forcas musterte ihn eindringlich.
Da war er endlich. Der Engel in weiß betrat die Lichtung und schon ab der ersten Sekunde, in welcher Forcas das helle Gewand seines Bruders sah, war er ihm negativ eingestellt.
Er, Forcas selbst stand im Halbschatten der Bäume, während sein Bruder inmitten der Lichtung stand, auf welcher sich der verbotene Weiher befand, und die Sonne seinen weißen Mantel noch weißer und leuchtender erscheinen ließ.
„Forcas, wer hätte gedacht dich hier noch zu treffen, nachdem was du getan haben sollst.“ Camael, der Engel des Sem, trat näher, was Forcas‘ Abneigung ihm gegenüber noch steigerte. „Camael, ich dachte ich hätte meine Gefühle dir gegenüber bereits deutlich dargelegt.“ Aus dem Augenwinkel achtete Forcas stets auf Rylis, sein Erdenkind. Er ließ sie niemals aus den Augen, denn das war ein Fehler, wie er schnell gelernt hatte. „Oh, selbstverständlich hast du das durchaus getan. Doch muss jeder Engel auf sein Erdenkind achten, nicht wahr? Was für eine geschickte Schicksalsfügung, dass die unseren durch das Band der Liebe verbunden sind.“ „Das ist keine Liebe, es ist das Band der Gefangenschaft.“ „Ganz wie du meinst, Bruder.“ Camael wandte sich um, sein weißes Gewand, was an einen königlichen Mantel erinnerte, folgte seiner Bewegung.
„Ich denke ich kann mein Erdenkind für eine kurze Weile in deiner Obhut lassen? Du wirst doch stets aufmerksam sein?“ „Geh du nur, ihnen wird nichts geschehen.“ Forcas war es äußerst recht, wenn sein Bruder nur bald das Weite suchen würde.
Eine ganze Weile beobachtete er Rylis und Sem bei gegenseitigen Neckereien, bei welchen ihre junge Liebe nicht zu übersehen war. Dennoch, Forcas war davon überzeugt, dass es keine Liebe war. Liebe war etwas anders, etwas mehr. Er ist schlecht für sie. Er kann nicht gut sein, nicht gut genug für sie. Er würde ihr sicher das Herz brechen und Forcas würde alles tun, damit dies niemals geschehen würde.
Forcas blickte gedankenverloren auf seinen Fingerhut. Mittlerweile hatte sich Sem seines Mantels und seines Pullovers entledigt, um in den See zu steigen, in der Hoffnung mit Rylis etwas schwimmen zu können. Naiv. Forcas besah den jungen Jäger eindringlich, während er überlegte, wie er Rylis den Schmerz eines gebrochenen Herzens ersparen könnte.
Ein plötzlicher Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. „Rylis! Etwas hat sich um mein Bein gewickelt! Bitte komm her und hilf mir!“ der Jäger schlug im Wasser mit einem Mal wild um sich, tauchte immer wieder unter. Das Schwimmen ist hier nicht ohne Grund verboten, naiver Junge. Forcas beobachtete die Szene mit einem missbilligenden Blick.
„Rylis!“ Sem war nur in den eiskalten Weiher gestiegen, um Rylis aufzuzeigen, dass an einer kleinen verbotenen Sache nichts weiter dabei war. Keine Konsequenzen. Doch nun schlug er wild mit den Armen um sich, scheinbar kaum fähig sich über Wasser zu halten, obgleich er ein sehr guter Schwimmer war. „Sem! Komm schnell wieder raus!“ Rylis stand in einem gebührenden Abstand, unfähig auch nur einen Schritt zu tun. „Ich kann nicht, etwas zieht mich nach unten! Rylis komm und-“ Sem tauchte wieder unter, wobei er Wasser schluckte. Das Atmen fiel ihm schwer
Forcas wartete noch eine Sekunde, Sem war seit einigen Sekunden unter Wasser. Rylis begann ihr Fell abzulegen, bereit Sem vor dem Ertrinken zu retten, Forcas musste handeln. Er entledigte sich seines Fingerhutes, ehe er das Eis, was bereits den Rand des Weihers bedeckte, berührte und der Weiher innerhalb eines Moments, der kürzer als eine Sekunde war gänzlich zufror und das Wasser unter einer Zentimeter dicken  Eisschicht einschloss.
„Sem! Oh mein Gott, Sem!“ ohne auch nur einen Moment zu zögern, lief Rylis zu der Stelle, an welcher Sem vor wenigen Sekunden verschwunden war. Sie schlug auf das Eis, doch es blieb wie es war. Erbarmungslos kalt und hart. Sem in Eiswasser eingeschlossen, Rylis von ihm fernhaltend.
„Was hast du getan!“ Camael war mit dem Moment aufgetaucht, an welchem Sems Herz aufgehört hatte zu schlagen. Er blickte ungläubig auf die scheinbar wunderschön glänzende Eisfläche, die sich vor ihm erstreckte. „Du hast mein Erdenkind getötet! Wie konntest du nur, wie konntest du das nur tun?“  fuhr Camael seinen Bruder rasend vor Wut an.
„Es war die einzige Lösung.“ Erwiderte Forcas ohne auch nur eine Gefühlsregung in seiner Gestik oder Mimik zu  offenbaren. „Ich wusste, dass du weit gehen würdest, aber soweit? Eines Tages tötest du noch Rylis.“ Camael stand mittlerweile nah vor Forcas, zu nah für den Geschmack Forcas‘. „Sie sie dir an, was du getan hast war unverzeihlich, du hast ihr Herz gebrochen, es zertreten in tausend Teile, du hast ihre Liebe unter einer undurchdringlichen Eisschicht begraben. Warum Forcas, warum hast du das getan? Bedeutet sie dir so wenig? Bedeutet dir das alles hier nichts?“ Camael wies mit seinem Finger auf Rylis, seine Wut wollte er nicht verschweigen, sonst würde man seine Trauer sehen. „ Forcas wir sind Schutzengel. Keine Racheengel. Wir schützen die Erdenkinder.“ Camael wandte sich ab, eine Träne bahnte sich den Weg über seine Wange. Er hatte versagt, jämmerlich versagt. Er besah für einen Moment den Mantel seines Erdenkinds, Rylis würde ihn brauchen um ihre Trauer zu verarbeiten, er ließ ihn liegen.
Forcas blickte auf Rylis, sie saß vollkommen zerstört an der Stelle, an welcher Sem verschwunden war. Sie weinte so bitterlich, dass alle Wärme aus ihrem Körper entflohen war und sie eigentlich nicht einmal mehr genug Energie in sich trug um zu atmen.
Forcas schloss die Augen, es musste sein, er war nicht gut gewesen für sie. Er setzte sich den bronzefarbenen Fingerhut wieder auf seinen linken Zeigefinger. Es begann dunkel zu werden, als Rylis sich erhob und den Heimweg antrat. Allein, wie sie gekommen war. Forcas folgte ihr auch jetzt noch, obgleich die Sonne dem Abendhimmel einen letzten Kuss gab und er nun nicht mehr wie ein Schatten wirkte sondern eher wie eine dunkle Bedrohung. Eine Bedrohung, welche Rylis stets folgen würde.
Im Kapitol angelangt, wurde Rylis von ihren Geschwistern empfangen, welche ihr mit ihrem kindlichen Lächeln auf den Lippen mitteilten, wie froh sie seien, dass sie nach Hause gekommen war, denn ihre Mutter hätte sich bereits gesorgt aufgrund der Nachricht, es hätte wieder einen dieser Vorfälle gegeben. 
Auch ihre Mutter schloss sie mit einem herzlichen Lächeln in ihre Arme. „Die Engel können nicht immer über dich wachen, mein Kind.“ Rylis zwang sich zu einem Lächeln, doch es erreichte ihre Augen nicht. „ich weiß, Mutter ich weiß.“ „Rylis, ich möchte nicht, dass du so oft allein in den Wald gehst, sonst geschieht auch dir noch etwas so schreckliches. Der Junge der Seona Familie ist verschwunden.“ „Du meinst Sem.“ Erwiderte Rylis ohne jedes Gefühl, denn alle Emotionen schienen ihren Körper verlassen zu haben, seit das Eis Sem plötzlich von ihr fortgerissen hatte. Ohne Vorwarnung, war er ihr einfach hinfort genommen worden.
Aufgrund des Verschwindens Sem Seonas hatten die Stammesmütter einen traditionellen Trank aus Kräutern zubereitet, welcher allen die verloren geschienene Kraft zurückgeben sollte. Der gesamte Stamm der Bluv hatte sich auf dem großen Platz des Kapitols versammelt, jeder hatte eine Holztasse des Trankes in der Hand. Woher man genau wusste, das Sem verloren war, braucht niemand laut auszusprechen, denn alle spürten es. Er war nicht mehr bei ihnen. Er fehlte.
Rylis, die das Gefühl hatte nicht zu der Gruppe der Trauernden zu gehören, verschwand hinter einigen Zelten. Ihre Trauer erschien ihr zu egoistisch, als das sie sie hätte mit anderen teilen können. Jede Faser in ihr wollte schreien, doch sie blieb stumm. Sie wollte weinen, doch ihr Herz schien eingefroren.
So stand sie da, ließ sich langsam zu Boden sinken, die heiße Tasse in der Hand fest umklammert. Sie hatte noch keinen Schluck genommen. Sie hatte keinen Appetit. Keine Lust, kein Verlangen, kein Gefühl. Doch, ein Taubheitsgefühl überkam ihren Körper. Es schlich sich in jede Faser, wie die Kälte es nachts bei Zelten tat. Wie in Trance starrte sie vor sich hin, auf den gefrorenen Boden, kein Schnee. Kein Glanz. Keine Reflektionen des aufgegangenen Mondes. Es schien Rylis unendlich dunkel.
Forcas stand einige Meter entfernt von ihr. Sein Fingerhut klickte bei jedem Tippen auf seinen rechten Arm. Er blickte auf, ihr Herz, welches zuvor langsam, beinahe wie betäubt geschlagen hatte, begann zu rasen. Er war innerhalb eines Momentes bei ihr; ein Moment, der kürzer war als ein Wimpernschlag.
Er griff ihr an die Kehle. Sie ließ ihre Tasse fallen, wie in Zeitlupe und gleichzeitig unfassbar schnell, erschien es Rylis, dass sich ihre Kehle zuschnürte. Die Luft blieb aus, für eine Ewigkeit konnte sie nicht atmen, alles in ihr sehnte sich danach aufzugeben, doch sie kämpfte. Sie kämpfte gegen eine unsichtbare Macht, welche sie ergriffen hatte und sie am Leben hindern wollte. Sie tat alles ihr nur mögliche, um sich zu befreien, obgleich sie ihren Angreifer nicht einmal wahrnehmen konnte. Ihr Blickfeld verringerte sich, schwarze Schatten schlichen sich ein.
Forcas versuchte keinen Gedanken daran zu verschwenden, seinen Griff zu lockern und obgleich sein Erdenkind begann zu würgen, kämpfte er gegen den Gedanken an, er müsse loslassen.
„Forcas! Lass los, du wirst sie umbringen, was ist bloß in dich gefahren.“ Camael, der Engel in Weiß, stürzte sich auf Forcas um ihn von Rylis loszureißen. Rylis sank erschöpft zu Boden, und Forcas riss sich von Camael los, um erneut auf Rylis los zu gehen, doch Camael war eher bei ihr, packte sie um die Taille und sprang ohne große Mühe ein Stück in die Luft.
Seine Flügel breiteten sich wie ein gigantischer Schutzschild um ihn und das Erdenkind des Forcas‘ aus, welches nicht ganz bei Bewusstsein war, aufgrund mangelnden Sauerstoffs.
Kaum, dass Forcas die Kontrolle über das ganze Geschehen genommen worden war, konnte er nicht anders, als Camael und das zerbrechliche Mädchen in seinen Armen an einen naheliegenden Baum zu schleudern; mit nur einer kleinen Handbewegung war dies geschehen.
Dann schritt er zu ihnen, beugte sich über sie, wie ein dunkler Schatten, eine Bedrohung. Camael rappelte sich schon wieder auf, doch Rylis schien am Ende ihrer Kräfte angelangt, was durch die stark blutende Kopfwunde, die ihr schönes Gesicht zierte nur noch untermalt wurde. Schritte näherten sich, natürlich war dem Stamm Rylis‘ nicht entgangen, wie sie scheinbar auf magische Art und Weise meterhoch über den Zelten geschwebt war und zuletzt gegen den Baum geschleudert worden war. Camael machte sich davon, nachdem er kaum merkbar mit seiner Hand über die Wunde Rylis‘ gestrichen war.
Die Menschen erreichten Rylis und umsorgten sie. Keine Verletzungen. Es war wieder einer dieser Vorfälle, sonst war das nicht möglich. Erst der Junge der Seona und nun das Mädchen der Thane.
Doch die Engel schienen mit ihr, denn sie lebte. Was trug dieses Mädchen bloß in sich, dass sich Engel und der Teufel so entschieden um sie kämpften? Immer noch wusste niemand, dass es zwei Engel waren. Ein heller und ein dunkler. Und einer von ihnen hatte verloren, einer von beiden würde gewiss immer mit ihr sein, dass es der Dunkle war, war eine geschickte Schicksalsfügung. 
Tief in der Nacht war es, der Mond stand hoch am Himmel, die Sterne strahlen heller als jemals zuvor; als wollten sie sagen, sie freuten sich über das Leben, welches Rylis erhalten geblieben war, als das schöne Mädchen die Augen öffnete, die Decke zurück schlug und sich aus dem Zelt schlich. Man hatte sie so gut versorgt, wie es nur menschenmöglich war.
Doch sie war verletzt.
Ihr Herz war eingefroren, ihrer Seele fehlte die Luft zum Atmen. Sie war entschlossen, es würde niemals aufhören. „Wie oft siegt ihr Engel wohl noch über den Teufel, ehe er verliert? Und was verliert sie, wenn ihr Engel verliert?“ War die Frage gewesen, die der Heiler neben ihrem Bett gestellt hatte, als Rylis bewusstseinslos gewesen war. Sie hatte es gehört und konnte es seitdem nicht mehr aus ihren Gedanken verbannen. Er hatte Recht, es würde niemals enden. Ganz gleich, ob es ein Teufel und ein Engel war, oder zwei Engel.
Sie würde es allen ersparen, die Angst, den Schock, wenn eine Seele mehr zu den Sternen entschwand, die Unwissenheit, wer alles verschuldet hatte.
Sie griff in ihren Stiefel. Sie war noch da. Sie zog sie hervor, eine Feder so rot wie Blut, im Mond noch schöner als jemals zuvor. Rylis schlug leise das Zelt auf, hier waren sie. Die Waffen ihres Stammes, und alle in einem Zelt. Kurz brauchten ihre Augen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, doch dann sah sie so klar wie niemals zuvor.
Nach einem kurzen, schweifenden Blick entdeckte sie den Gegenstand ihrer Begierde und nahm ihn samt Bogen an sich. Sems Köcher. Sie verließ das Zelt ebenso leise, wie sie gekommen war, lief eine kleine Weile, ehe sie sich außerhalb des Kapitols befand.
Sie überlegte nur ganz kurz. Dann zog sie ein Stück Pergament aus dem Köcher ihrer verstorbenen Liebe. Sie brauchte gar keine Tinte für die Feder, sie schrieb von allein. Sie schrieb durch die Kraft der Entschlossenheit und der Leidenschaft für das Geschriebene, sie schrieb durch Herzblut und ein wenig Magie.
Die Sonne ging bereits weit entfernt auf. In der Mitte des Kapitols war ein Pfeil in den Boden gerammt worden, mit einem Stück Pergament, die rote Feder lag daneben. Und ehe die ersten Sonnenstrahlen die Zelte des Stammes Bluv berühren konnten, entflammte alles. Ein seltsam riechender Wind hatte sich zuvor über den Stamm gelegt, weshalb niemand der Bluv den Brand miterlebte. Die Bäume um das Kapitol des Stammes wurden von dem Feuer erleuchtet. Es loderte friedlich, leise. Ein verfluchtes Feuer, was dazu bestimmt war nichts zurück zu lassen. Ohne einen Funken Erbarmen verwandelte es alles in Asche. Lautlos. Es war so leise, dass niemand es hatte kommen, bleiben oder gehen hören. Die Stämme der Bäume leuchteten orange-rot, ebenso wie es ihre Blätter im indianischen Sommer getan hatten.
Es war ein verfluchtes Feuer, ein Feuer der betrogenen Liebe, ein Feuer aus mangelndem Sauerstoff genährt, ein Feuer, welches versuchte ein gefrorenes Herz zu wärmen.
Forcas, welcher stundenlang zugesehen hatte, wie das Feuer alles in Asche verwandelte, wartete bis es erlosch. Nachdem nichts mehr übrig war, was auch nur im geringsten an den Stamm erinnerte, verglühte der letzte Funken und wurde vom Wind davon getragen wie ein Glühwürmchen.
Er betrat die Mitte des Kapitols. Ein Pfeil steckte im Boden, ein Stück Pergament durchbohrt, und daneben eine rote Feder. Die Feder, die nur einem Erdenkind gehören konnte. Das waren die einzigen Dinge, die das Feuer übrig gelassen hatte. Als Provokation, als wolle es sagen : Mach es besser. Er würde es besser machen.

Es war kalt geworden. Der Winter machte sich die Erde mit aller Kraft untertan. Schleichend kam die Kälte durch die Wälder, der Frost legte sich über alles, was dem indianischen Sommer noch seine Farben geschenkt hatte. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger.
Der Atem Rylis‘ war als kleines Wölkchen in der eisigen Luft sichtbar, ähnlich dem Rauch, welcher aus den Zelten stieg, die das Kapitol ihres Stammes bildeten. Sie war in ein weißes Fell gehüllt, welches ihren zarten Körper vor der unerbittlichen Kälte schützen sollte.
Nachdem sie eine ganze Weile genäht hatte, die Kleidung von ihren kleineren Geschwistern wieder repariert hatte, stand sie von dem Hocker auf, um sich auf den Weg zu machen. Forcas wusste wohin sie wollte und entgegen seinem Prinzip sie nicht aus den Augen zu lassen, da er wusste, dass das fatal enden konnte, entschloss er sich diesmal eine andere Richtung einzuschlagen, als sein Erdenkind es tat. Seinen Fingerhut stec+kte er wieder auf seinen Finger, wobei er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte, würde sein Vorhaben gelingen, wäre alles niemals geschehen.
Er musste es besser machen. Daher befand er sich schon bald in der Nähe des Zeltes, in welchem der Stamm Bluv alle Waffen aufbewahrte, denn obgleich es merkwürdige Vorfälle gab, war der Stamm, in welchem Rylis lebte und aufgewachsen war, sehr friedfertig und der festen Überzeugung, solang die Engel über sie wachten, brauchten sie unter sich und bei Fremden keine Waffen zu tragen.
Eine Gruppe von Jägern war gerade heimgekehrt unter ihnen ein äußerst begabter, gut aussehender junger Mann. Sem. Forcas erkannte ihn schon von weitem. Er kannte jede Eigenart des Jungen, immerhin führte er eine Beziehung zu seinem Erdenkind. Unwissenheit würde der Beginn des Endes sein, war Forcas überzeugt.
Sem war gerade dabei sich von seinen Freunden zu verabschieden, mit einem Zwinkern nahmen sie ihm seinen Köcher und Bogen ab. Da sie alle wussten, wohin und vor allem zu wem er so dringlich wollte, machten sie Späße, nicht wissend, dass es vielleicht die letzte Gelegenheit war, ihrem Kamerad etwas von Herzen zu sagen.
Stattdessen bekam er anerkennende Bemerkungen, dass er sich getraut hatte das schönste Mädchen des Stammes anzusprechen. Sie versuchten ihrem Respekt Ausdruck zu verleihen, indem sie Späße trieben, über seine Beziehung, denn sie wussten nicht, was dieses Mädchen ihm bedeutete.
Forcas folgte Sem ein Stück in den Wald hinein. Doch plötzlich wurde er mit einem Ruck an der Schulter zurückgezogen und stand im nächsten Moment schon mit dem Rücken an einen Baum, sowie dem Unterarm seines Bruders gegen seine Kehle gedrückt, da.
„Ich weiß was du getan hast. Und was du vorhast. Sehr gerissen, den Zeitvortex zu manipulieren, um den Tag in eine Zeitschleife zu verwickeln.“ In den Augen Camaels flammte Wut auf.
„Ist das etwa ein Funke Wut, den ich da in deinen  Augen entdecke? Was, hat denn der Engel der die Macht der Kontrolle über alle Emotionen hat, keine Kontrolle über die seinen?“ Forcas grinste, auch wenn seine derzeitige Position eher unkomfortabel war, denn für diese Bemerkung übte sein Bruder stärkeren Druck mit seinem Arm aus. Ein leises Lachen gelang dem dunklen Engel dennoch über die Lippen.
„Das ist kein Spiel, das du gewinnen kannst, Forcas. Sie hat die Macht der Feder. Sie darf nicht davonkommen.“ „Sagt wer?“ Forcas entwand dem Griff seines Bruders. „Sie könnte ganze Welten zerstören, sie hat ihr komplettes Volk ausgelöscht, Forcas sie kann nicht gut sein.“ „Sie ist besser als du, sie hat die Macht der Feder aber das ist kein Grund für uns ihr Todesurteil zu unterschreiben.“ Forcas wandte sich ab.
Er begann mit seinem Fingerhut zu spielen. Der Fingerhut, der verhinderte, dass alles, was er mit dem Finger berührte in der Zeit vor oder zurück geworfen wurde. Der Fingerhut, der diese Fähigkeit verbarg, die ihm erlaubte alles, was er wollte noch einmal zu erleben. Er verschwand, ließ seinen Bruder allein zurück.
Jedes Mal, wenn er auf den Fingerhut blickte, erinnerte er sich an Vergangenes, Verlorenes. Verlorenes, das es galt zu retten.
Sem stand bei ihr. Stand neben Rylis. Sie waren eigentlich ein schönes Paar, ihre Seelen schienen verwandt. Er beherrschte die Jagd wie kaum ein anderer. Sie beherrschte die Worte, die Schrift besser als alle. Sie erschuf Welten mit ihrer Schrift, doch zerstörte sie auch, verbrannte sie. Sem kontrollierte sie, würde er doch nur eine Ahnung haben, wie stark ihre Gefühle für ihn sie kontrollierten. Er war ihre Welt, würde er zerstört, würde alles zerstört.
Wie hatte Forcas das nur entgehen können, wie hatte er denken können, dass sie diesen Schmerz überwinden würde? Er zog das Stück Pergament aus seiner Manteltasche.

Ein Feuer, ich brauche ein Feuer. Ein Feuer, das mein eingefrorenes Herz erwärmt. Ich brauche ein Feuer. Ein Feuer, das selbst Wasser in Brand versetzt. Und mein Engel wird davon nichts erfahren.

Das verfluchte Feuer, es war ihr Werk gewesen, Camael hatte Recht, sie hatte ihr Volk umgebracht. Und dieser letzte Satz erklärte auch, wieso er nichts hatte dagegen unternehmen können. Aber es war ja noch gar nicht passiert. Sem lebte, ihre Welt lebte.
Forcas blickte wieder auf sein Erdenkind. Sem stand ihr gegenüber, die beiden unterhielten sich. Doch etwas veränderte sich im Laufe des Gespräches. Sems Emotionen nahmen andere Formen an. Forcas sah es ihm minimal an, sein Lächeln war nicht mehr echt. Es wirkte sehr echt, doch ein guter Jäger war immer auch ein guter Täuscher.
„Nun komm schon Rylis, bist du nicht einmal ein ganz wenig neugierig wie es ist, wenn man ein Abenteuer wagt?“ fragte Sem seine Freundin provozierend, wobei er bereits seinen Mantel auszog. „Sem, das ist kein Abenteuer, du beabsichtigst lediglich in einen Weiher zu schwimmen, der als verboten gilt.“ Rylis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Komm schon, Schönheit, es ist nur ein Bad. Was sollte schon passieren? Niemand wird es erfahren.“ Sem betrat langsam das Eis des Weihers, wobei er versuchte Rylis an der Hand haltend vorsichtig mit zu ziehen. „Sem, ich möchte nicht. Wirklich nicht.“ Sie blieb stehen, weshalb er ihre Hand los ließ und allein in das eisige Wasser stieg.
„Es ist sogar angenehm warm.“ „Du spinnst, wir haben Ende November, es kann nicht warm sein.“ Widersprach Rylis Sem. „Komm doch zu mir, und finde es heraus.“ Schlug Sem herausfordernd vor. „Lieber nicht, danke.“ Lehnte sie abermals ab.
„Hallo, Bruder.“ Camael hatte die Lichtung betreten. „Camael, ich dachte ich hätte meine Gefühle dir gegenüber bereits deutlich dargelegt.“ Aus dem Augenwinkel achtete Forcas stets auf Rylis und Sem.
„Oh, selbstverständlich hast du das durchaus getan. Doch muss jeder Engel auf sein Erdenkind achten, nicht wahr? Was für eine geschickte Schicksalsfügung, dass die unseren durch das Band der Liebe verbunden sind.“
„Das ist keine Liebe, es ist das Band der Gefangenschaft. Sem fühlt doch stets nur das, was du ihn fühlen lässt.“ „Interessante Ansicht. Ja, was das angeht. Heute scheinen seine Emotionen besonders wechselhaft zu sein, im ersten Moment liebt er sie noch, und nach einem Wimpernschlag schon, hat er eine andere Sichtweise auf seine Gefühle.“ Camael wandte sich um, sein weißes Gewand, was an einen königlichen Mantel erinnerte, folgte seiner Bewegung. „Camael, was hast du getan?“
„Nichts. Ich denke ich kann mein Erdenkind für eine kurze Weile in deiner Obhut lassen? Du wirst doch-“ „Mitnichten, kommst du diesmal so leicht davon.“ Forcas hinderte Camael am Gehen, indem er nach seiner Hand griff. Scheinbar ergeben ließ sich der weiße Engel auf einem großen Felsen nieder.
„Ich frage noch einmal, was hast du getan?“ Forcas sah seinen Bruder misstrauisch an. Ihm war bereits bewusst, dass Camael mit den Gefühlen seines Erdenkindes seine eigenen Ziele verfolgte. Mithilfe von einfachen Worten, konnte er Gefühle eines Erdenkindes kontrollieren, nicht nur das, er konnte sie auch komplett verdrehen.
„Hast ihm Mordlust eingeflüstert, Hass? Neid? Eifersucht?“ Camael blieb still und antwortete bloß mit einem überlegenden Lächeln.
„Rylis, ich warte.“ Sem ließ sich im Wasser treiben, es war kalt, doch er hatte ein Ziel; das schöne Mädchen sollte unbedingt zu ihm kommen. Dass sie nicht schwimmen konnte, war ihm mehr als bewusst. Er betrachtete diese Tatsache sogar als seinen größten Triumph. Doch das Mädchen der Thane weigerte sich. Er benötigte eine List.
Er begann unruhiger zu werden, versuchte scheinbar angestrengt sich über Wasser zu halten. "Rylis! Etwas hat sich um mein Bein gewickelt! Bitte komm her und hilf mir! " rief er, in der Erwartung sie somit in das Wasser locken zu können; er war ein guter Jäger und ein Jäger erlangte schlussendlich immer seine Beute. “Sem! Komm schnell wieder heraus!" Rylis stand in einem gebührenden Abstand, um auch nicht versehentlich in das kalte Wasser zu geraten. "Ich kann nicht, etwas zieht mich nach unten. Rylis, komm und hilf mir!" Sem tauchte immer wieder unter, wobei er Wasser schluckte. Das Täuschungsmanöver schien zu funktionieren.
„Camael, er wird ertrinken, hilf ihm!“ Forcas konnte nicht glauben, dass sein Bruder tatsächlich bereit war sein Erdenkind zu opfern, für seinen wahnsinnigen Plan, Rylis das Leben zu stehlen. „Ganz ruhig, Forcas. Er spielt das Ertrinken nur, ihm wird nichts geschehen.“ Antwortete der Engel in Weiß mit einer boshaften Ruhe.
„Er wird sterben, Camael. Das weißt du.“ „Ach ja, beinahe vergaß ich, hast du ihn nicht umgebracht?“ „Das ist kein Spiel, das man gewinnt oder verliert. Camael, du kannst nicht wollen, dass Sem stirbt.“ „Ich habe großes Vertrauen in seine Schwimmfähigkeiten. Also sei beruhigt Bruder, von allein wird er nicht sterben.“ Camael schien dem Szenario am verbotenen See etwas gelangweilt zu zu sehen.
„Aber, ich habe da gerade einen recht brillanten Einfall erlangt, wäre es nicht eine fantastische Geschichte, wenn du, der große Held, Sem retten würdest?“ Camael schien begeistert von seiner Frage, die als einziges Ziel hatte, seinen Bruder zu provozieren.
Denn sowohl er als auch sein Bruder wussten, dass das nicht möglich war, denn ein Engel konnte stets nur das ihm anbefohlene Erdenkind berühren, kein anderes. Diese Regel war als Schutz gedacht, wirkte in dieser jedoch eher als Todesurteil. In Anbetracht, dass Camaels moralisches Urteilsvermögen scheinbar gefallen war, und sein Erdenkind durch die Schuld des gefallenen Engels gerade versuchte, Rylis zu töten, hatte Forcas keine andere Wahl als Sem zu töten, um ihr das Leben zu retten, ehe sie noch ertrank, bei dem Versuch Sem zu retten.
Forcas blickte zu Rylis, seine Adern waren bis in die Flügelspitzen mit Adrenalin gefüllt. Es war alles geplant, alles war ein einziger, boshafter Plan seines Bruders. Rylis legte in dieser Sekunde ihr Fell ab, bereit ihr Leben für das von Sem zu riskieren.
Er konnte nicht anders handeln, weshalb er seinen Fingerhut von seinem Finger löste, an die Eisfläche des Weihers trat und diese mit seinem Zeigefinger berührte, ehe Rylis auch nur ihren großen Zeh hätte in das Wasser stecken können. Innerhalb eines Momentes, der kürzer war als ein Atemzug, erstreckte sich die Eisfläche über den gesamten Weiher, wodurch er zugleich das Leben Rylis‘ gerettet hatte, wie auch das Leben Sems beendet hatte auf eine grauenvolle Art und Weise.
Er hatte den gesamten See zwei Monate in der Zeit vorgeworfen, weshalb Sem innerhalb des Sees nun schon seit zwei Monaten tot war, dennoch trauerte Rylis außerhalb in diesem Moment um ihn, schlug ein auf das Eis, doch es blieb wie es bestimmt war. Kalt und hart. Die junge Frau brach weinend auf dem Eis zusammen.
„Was hast du getan? Du hast mein Erdenkind getötet. Schon wieder. Forcas, ich sollte sagen ich bin schrecklich enttäuscht von dir, doch eigentlich hast du mich gerade durch diese Tat dazu ermächtigt, dein Erdenkind berühren zu können.“ Camael grinste, in seinen Augen lag nichts als berechnende Bosheit und Wahn. „Glaub mir, Camael du wirst Rylis niemals auch nur berühren, ich werde sie ihr ganzes Leben nicht aus den Augen lassen, und ich hoffe es wird ein langes Menschenleben sein.“
Forcas ließ sich neben Rylis auf dem Eis nieder und legte einen Arm um sie, als es kälter wurde, einen seiner grauen Flügel, der sie vor dem Wind schützen sollte, denn ihr Körper trug nicht mehr genug Energie in sich, um sie selbst zu wärmen. Sie sah ihn nicht, doch das störte ihn nicht. Er würde immer auf sie Acht geben.
Als Rylis abends zurück in das Kapitol kehrte, wurde sie von ihren Geschwistern und ihrer Mutter empfangen, sie zwang sich abermals zu einem Lächeln, doch auch diesmal konnte es ihre Augen nicht erreichen. Forcas ertrug es kaum, sein Erdenkind so leiden zu sehen. Sein Herz wurde schwer, denn er spürte, wie langsam Rylis‘ Herz schlug. Es war wie betäubt. Wie eingefroren. Sie trug unvorstellbare Schmerzen in sich und niemand konnte sie ihr nehmen.
Sie war ein so hübsches Mädchen, doch der Glanz in ihren Augen war erloschen, nicht einmal der kleinste Schimmer war erhalten blieben. Ihre Seele war allein. Einsame Seelen schimmern nicht.
Als auf dem Platz des Kapitols der traditionelle Kräutertrank verteilt wurde, zog sie sich zurück. Sie wollte ihre Trauer niemand anderem auferlegen, denn sie war so schwer, sie würde sogar zwei Menschen erdrücken. Lange starrte sie vor sich hin, horchte in sich hinein, ob noch irgendwo ein einziges positives Gefühl in ihrem Körper zurück geblieben war und nur darauf hoffte, entdeckt zu werden. Doch da war nichts.
Forcas stand neben ihr und besah ihre Tasse genauer. Etwas Vertrautes war dorthin enthalten, es juckte ihm beinahe im Finger. Da, da war er. Ein Faden Höllenfeuer. Er hatte es gewusst, er hatte richtig gehandelt beim letzten Mal, hätte Rylis auch nur einen Atemzug mehr getan, wäre sie verstorben.
Doch das tödliche Gas, das diese Pflanzen bei Kontakt mit Speichel freisetze, hielt nur einige Sekunden, weshalb es die einzige Möglichkeit gewesen war, Rylis die Luft abzuschnüren, um sie zu retten. 
Camael hatte noch nicht aufgegeben. Höllenfeuer, eine dieser Pflanzen, die Rylis früher beinahe gegessen hätte.
Noch bevor Rylis die Tasse dieses Mal an ihre Lippen setzten konnte, sorgte Forcas dafür, dass der gesamte Inhalt verschüttete. Rylis war sogar zu emotionslos, um darüber zu fluchen.
Daher hatte Camael ihr bei seiner vermeidlichen Rettung vor Forcas auch so leichtfertig Gefühle einreden können und es zugleich so erscheinen lassen, als wäre Forcas der gefallene Engel der beiden. Wie war es nur zu dem Fall Camaels gekommen? Forcas merkte, dass Rylis‘ gehemmte Gefühlsempfindung langsam auch ihn überkam. Ihm fiel nur eine Lösung ein. Er wandte ihr Gesicht dem seinen zu und noch ehe Rylis begreifen konnte, was gerade geschah, küsste er sie. Denn bekannter Weise konnte der Kuss eines Engels alle Taubheit aus jeder Faser des Körpers verbannen, er weckte die Lebenslust, er nahm ihr all den Schmerz, der durch ihre Adern floss.
Forcas hatte dies noch niemals zuvor getan, doch er war überzeugt, dass es kein besseres Gefühl gab als seinem Erdenkind alle Last zu nehmen, damit es ein langes, glückliches Menschenleben führen konnte.

Dieser Tag war es, von dem man sich im Stamme Bluv erzählte. Denn seit diesem Tag war die Schönheit von Rylis Thane klarer als jemals zuvor. Ihr Lachen war unbeschwert, ihre Augen glänzten, wenn sie ihren Geschwistern von den Welten erzählte, die sie in ihrer Fantasie erschaffen hatte. Ihre Pergamente bewahrte sie stets in dem alten Köcher des Sem, ihre Feder guckte meist ein Stück aus ihrem linken Stiefel.
Und manchmal, wenn es ganz still war und sie nur auf eine gute Idee wartete, da hörte sie dieses Klicken. Und sie stellte sich vor, es wäre der Fingerhut von ihrem Schutzengel, mit dem er geduldig abwartend auf seinen Arm tippt. Bei diesem Gedanken musste sie stets lächeln und dieses Lächeln, das war das, was Forcas am meisten an ihr liebte.

Der Engel  mit dem FingerhutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt