1. Kapitel

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2005 - In den Rayons nahe der neu gegründeten Stadt Billings

Tante Lucy hielt inne, hob ihr wettergegerbtes Gesicht gen Nachthimmel und wartete auf etwas, das mir noch verborgen blieb. Die Dunkelheit lag wie ein samtener Mantel um unsere Schultern und schien durch nichts durchbrochen werden zu können - doch da, einen Moment später schob sich der volle, satte Mond an den Wolken vorbei und tauchte die Stadt in silbriges Licht. Niemand außer uns war hier. Der Tod bewachte die Nacht. Die Häuser, in denen bis vor Kurzem noch Menschen gelebt, gelacht und gefeiert hatten, glichen leeren Höhlen. Leichen gar. Mich überzog eine Gänsehaut. Skelette eines vergangenen Zeitalters, das einst voller Licht und Leben gewesen war.

»Trödel nicht rum, Alison!«, wies mich Lucy streng zurecht. Sie hatte sich bereits zur nächsten Hausecke aufgemacht, während ich noch gedankenverloren ins Nichts gestarrt hatte.

Wir befanden uns in einer verlassenen Kleinstadt mit einladenden Holzhäusern und überwucherten Gärten. Es gab eine einzige Einkaufsstraße und der näherten wir uns.

Ich schüttelte den Kopf, um ihn von diesen trostlosen Gedanken zu befreien, verspürte aber nur einen geringen Erfolg. Seit meinem Geschenk zu meinem vierzehnten Geburtstag vor einer Woche war nichts mehr, wie es einmal war. Lucy hatte mich, wie so oft vorher, zu einer Jagd mitgenommen und ich hatte das allererste Mal einen Schattendämon getötet. Natürlich nicht allein. Lucy hatte ihn zuerst niedergestreckt, damit ich ihm gefahrlos den Todesstoß versetzen konnte. Im ersten Augenblick hatte ich gezögert. Es war so viel Blut geflossen und dieses Mal hatte ich es nicht nur aus der Ferne gesehen. Noch immer spürte ich den warmen Lebenssaft an meinen Händen.

»Alison!«, keifte Lucy ungehalten, die viel mehr Kraft in ihrer Stimme besaß, als man ihr bei der ersten Begegnung zutrauen würde. Körperlich glichen wir uns sehr, nachdem ich in den letzten Jahren meiner Ausbildung deutlich an Gewicht verloren hatte. Ich aber besaß gewisse Rundungen, die auch nach Monaten des Trainings nicht verschwinden würden. Sie waren vielleicht noch nicht sonderlich ausgeprägt, aber sie entwickelten sich zu Lucys deutlichem Leidwesen. Sie lag mir ständig damit in den Ohren, dass ich beten sollte, keinen großen Busen zu kriegen, der mich im Kampf behindern würde. In ihren Augen waren meine breiten Hüften schon ein Todesurteil.

»Ich komme ja schon«, zischte ich und schloss zu ihr auf, bevor sie einen prüfenden Blick auf die breite, asphaltierte Straße warf. Sie hatte mir mehrmals befohlen, auf Zeichen von Zivilisation zu achten, doch was ich auch tat, ich erreichte niemals ihr Level der Spurensuche. Sie hatte eine unheimliche Begabung dafür entwickelt. Manchmal fragte ich mich, ob sie in dieser Gegenwart mehr zu Hause war, als sie es in der Vergangenheit ohne Dämonen je gewesen war.

Meine Erinnerungen an die Zeit waren verschwommen, doch den abfälligen Ton meiner Mutter, mit dem sie damals über ihre verrückte Schwester gesprochen hatte, hatte ich nie vergessen. Eine Schwester, die niemals still sitzen konnte. Eine Schwester, die paranoid war und in allem eine Bedrohung sah. Es stellte sich heraus, dass Lucy die Einzige von uns gewesen war, die mit dem Einmarsch der Dämonen halbwegs zurechtgekommen war. Wie hätte es auch anders sein können? Sie hatte sich ein Leben lang darauf und auf jede andere Art von Bedrohung vorbereitet.

»Da vorne.« Sie deutete mit einer Hand nach links, wo ein zerbrochenes Schaufenster einen ungehinderten Blick auf den Laden dahinter bot. Das unbeleuchtete Schild verriet, dass es sich einst um einen Sportbekleidungsladen gehandelt haben musste.

»Was ist denn?«, murmelte ich unruhig auf der Stelle tretend. Mir war trotz der milden Temperaturen, die in Kalifornien herrschten, kalt, da ich nur einen dünnen Pullover trug. Zuvor hatte ich meine Lederjacke vergessen und ich war zu stolz gewesen, Lucy zur Umkehr zu bewegen. Sie hätte mich nur wieder getadelt, da sie schließlich nie etwas vergaß. Auch heute war sie bis an die Zähne bewaffnet und trug ihre übliche Kleidung. Eng anliegende Jeans, feste robuste Stiefel, einen Rollkragenpullover und ihre widerstandsfähige Synthetikjacke. Alles natürlich in einem dunklen Grau, um so gut wie möglich mit der Dunkelheit verschmelzen zu können.

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⏰ Last updated: Feb 15, 2017 ⏰

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Ein Thron aus Knochen und Schatten (Ein Käfig aus Rache und Blut, #2), LeseprobeWhere stories live. Discover now