01 Der zündende Funke

48.3K 1.6K 287
                                    

 S C H N E E F L ÜS T E R N

  »Versuche zu lieben mit einem Herzen aus Eis.«




01 ::: DER ZÜNDENDE FUNKE


Seine Lippen waren wie Feuer auf ihrer Haut. Sie schmolz.

Ihr Rücken war an eine Mauer der königlichen Gemächer gepresst. Seine Hände hielten ihre Arme neben ihrem Kopf an der Wand gefangen.

»Du riechst ...« Ein Kuss auf ihr Schlüsselbein. »... so gut.«

Sie konnte nicht anders, als unter seinem warmen Atem auf ihrer sensiblen Haut zu erzittern. Seine dunklen Haare streichelten ihre Wange, als er sich neben ihr bewegte. »Küss mich«, entfuhr es dem Mädchen leise. Verlangend. Er lachte.

»Gleich«, murmelte er. »Ich möchte dich vorher um etwas bitten.«

»Um was, wenn ich fragen darf?«, erwiderte sie und legte herausfordernd den Kopf schief. Ihr voller Mund war zu einem neckenden Lächeln verzogen.

»Geh für mich zum Eisigen Hof. Finde heraus, was die Gräfin von Mesch im Schilde führt.« Seine letzten Worte waren nur ein Hauch, ehe er anfing, ihren Nacken mit seinem so sinnlichen Mund zu berühren. Es war pure Verführung, und obwohl sie wusste, dass es zu seiner Überzeugungsarbeit gehörte, nickte sie. Für diesen Mann würde sie alles tun – und das Fatale war, dass nicht nur sie sich dessen bewusst war.

»Mein Mädchen aus Schnee.«

Trotz des Schnees in ihrem Herzen wurde ihr ganz heiß.

»Wenn du wiederkommst, dann wirst du die neuen Kleider zum Ball tragen.«

Ihre Augen, so kalt und hell wie Gletscher, blitzten aufgeregt. Die Augen, die ihr ihren Namen gaben und die Farbe des Himmels hatten, wie man sagte.

»Skye«, flüsterte er den Namen, den er ihr schenkte, nachdem er sie in einer schneereichen Nacht aus einer Felsspalte gezogen hatte. Durchgefroren und ohne jegliche Erinnerung, wer sie war oder woher sie kam. Er griff nach ihrer linken Hand und küsste sanft die Stelle, wo ihr Mittelfinger sein sollte. Er war erfroren in der Eiseskälte jener Nacht.

Auch wenn der Winter in mir wohnt, kann er tödlich sein. Skye wusste bis heute nicht, wie sie in die Spalte zwischen zwei Gletschern gefallen war, doch Zahr hatte ihr das Leben gerettet. Sie selber war zu schwach und zu desorientiert gewesen, um sich aus dem Loch befreien zu können. Damals war er noch der Prinz von Nelefe gewesen, doch nun – nach dem noch nicht weit zurückliegenden Tod seines Vaters – war er König Zakarias der Zweite geworden.

»Küss mich endlich«, seufzte sie.

»Wirst du gehen?«

»Ja, ja, ich gehe! Wenn du nun endlich –« Zahr schloss ihren Mund mit seinem und trat noch einen Schritt auf sie zu, sodass sein nackter Oberkörper gegen ihren drückte. Ihr Gewand raschelte, als er sich bewegte.

»Mein Mädchen«, murmelte er gegen ihre Lippen. »Ich werde dich vermissen.«

Dann schicke mich nicht weg. Doch das konnte sie dem König nicht sagen; nicht wenn es um so wichtige Dinge wie das Königreich ging.

»Ich bin bald wieder da«, erwiderte sie stattdessen leise.

»Ich werde jede Nacht an dich denken.« Und so war es besiegelt.

Kurz darauf brach Skye durch das kristalline Tor des Palastes auf. Hinein in die ewige Nacht. Der Lichtersee warf einen grünen Schein an die gläserne Fassade. Ein See so groß wie ein Land, in einem Land aus Eis. Das war es, was die Menschen sagten, wenn sie von dem Gewässer sprachen. Das Eis auf seiner Oberfläche sollte so dick sein, wie die Kuppel des Palastes hoch war. Skye ließ den Blick wandern und zog sich die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht. Nicht, dass sie sich vor der Kälte schützen wollte, doch es war unangenehm, wenn der Wind die Augen austrocknete.

Der Himmel war ein Spiegel, unendlich weit und tief, denn auch ihn durchzog ein blassgrüner Schleier. Nur bei genauerem Hinsehen ließ sich erahnen, wo der See endete und der Himmel begann.

In Nelefe herrschte seit beinahe fünf Dekaden immerwährende Dunkelheit. Das passierte häufiger, sagten die Menschen. Darauf würden wieder Jahre des Lichts folgen, in denen die Sonne kam und ging und die Menschen nie wussten, ob es die letzte Dämmerung für eine lange Zeit war. Wenn der Tag anbrach, dann würde der Himmel die Farbe ihrer Augen haben. Gletscherblau.

Der Schnee türmte sich zu ihren beiden Seiten so hoch wie die Stadtmauern. Weiße pulverisierte Berge, die um den Palast wanderten. Auch sie leuchteten im Licht des Sees. Skye meinte gehört zu haben, dass die Menschen sich das fluoreszierende Wasser abfüllten und die Behälter als Laternen nutzten. Auf was für Ideen manche kamen! Aber das sanfte Leuchten musste schön aussehen. Ein Schlafzimmer so grün wie der Frühling, das würde Zahr gefallen.

Der Schnee flüsterte ihr zu. Süße, liebkosende Worte, und Skye lächelte. Obwohl ein Sturm wütete, fühlte sie, dass sie zu Hause war. Flocken so dick wie Wattebäusche wirbelten durch die Luft, und sie ließ zu, dass der Wind nach ihrem Umhang griff. Der Saum flatterte und zerfiel langsam in kleine Schneeflocken. Der Wind trug ihre Füße und Beine mit sich fort, ihr wehendes, fast weißes Haar, die schmale Nase und ihre sinnlich geschwungenen Lippen. Sie verloren sich in der durchsichtigen Brise. Ihr Körper wurde stückchenweise abgetragen – bis hin zu ihren Augen, diesen kalten Gletschern. Sie blinzelte ein letztes Mal, dann zerbarst selbst das letzte Stück von Skye in Schnee.

Sie mischte sich in den Sturm und trieb mit ihm über der Eisdecke. Der Wind wog ihre kristalline Gestalt hin und her. Der See war groß, und ihre Reise würde lang sein, bis sie die Burg Mesch erreichte. Je schneller der Wind sie trug, desto eher würde sie wieder zu Hause sein.

Ich werde die Gräfin ausspionieren, ich werde der zündende Funke sein, damit sie gehängt wird. Wenn der König einen Grund haben will, bekommt er einen.




Schneeflüstern [Leseprobe]Tempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang