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Der Geschichte erster Teil - Schönheit

„Ich denke nicht, dass eine schöne Frau wie du den Abend ganz allein verbringen sollte." Seine Stimme klingt rau. Vermutlich vom vielen Schreien. Die Bässe sind lauter als sonst. Mein ganzer Körper bebt von der Musik und den Menschen, die mich umgeben und wie Ameisen über die Tanzfläche wuseln.

„Vermutlich, ja." Mein Blick schweift durch den Club, auf der Suche nach meinen beiden Schwestern. Ich kann sie nirgendwo entdecken. Weder an der Bar, noch auf der Tanzfläche. Wie ich sie kenne, haben sie sich längst einen Mann für die Nacht gesucht und sind mit ihnen verschwunden.

Unerwartet greift der Fremde nach meiner Hand und zieht mich mit sich von der viel zu überfüllten Fläche. Ich wehre mich nicht dagegen. Warum weiß ich selbst nicht zu beantworten. Er hält erst an, als wir im Regen der Stadt stehen. Dicke Tropfen prasseln auf den dunklen Asphalt.

„Was hast du vor?" Ich höre meine eigene Stimme kaum. Zu taub sind meine Ohren von der lauten Musik, die bis hier draußen dröhnt. Er bleibt mir eine Antwort schuldig, zieht mich nur weiter in die Straßen der Stadt. Noch immer gebe ich dem Drang nach ihm zu folgen. Es muss an seiner Ausstrahlung liegen. An der Art, wie er sich bewegt. An seinen Augen, in denen ich den Ozean zu sehen glaube.

Die Wärme des Tages strahlt noch immer von den Steinen und Hausfassaden ab, trotz des unerbittlichen Regens, der sich über uns ergießt. Es scheint ihn nicht zu interessieren, dass wir beiden bis auf die Haut durchweicht sind. Mein weißes Top klebt an meinem Körper und die schwarze Jeans trieft bereits vor Nässe. Trotzdem läuft er weiter, als hätte er ein Ziel.

„Warte." Meine Bitte scheint ihn aus dem Konzept zu bringen. Als er anhält, streife ich mir eilig die cremeweißen Highheels ab, die schon dunkle Sprenkel haben. Bei seinem Tempo stolpere ich in den hohen Schuhen über das alte Pflaster. Meine nackten Füße finden besseren Halt auf den nassen Steinen, als die feinen Absätze es jemals könnten.
Noch nie war es befreiender durch die Straßen Athens zu laufen, als an diesem Abend. Seine Hand umfasst meine und spendet mir Wärme, während die Kälte an mir zu nagen beginnt.

Er führt mich in einen Park, nicht weit entfernt von dem Club, aus dem wir gerade kommen. Die Bäume wiegen sich im Wind, der den Regen tanzen lässt. Er zieht mich in einen alten Tempel in der Mitte der Anlage. Das Dach ist bereits zu Hälfte eingefallen und einige der Stufen sind zerstört. Trotzdem hat das Gebäude etwas Majestätisches. Ehrfürchtig erklimme ich die Stufen und lasse mich von ihm in das Innere des Tempels ziehen.
Als er meine Hand loslässt, ist es, als würde eine kalte Welle über mir zusammenschlagen. Das Wasser auf meiner Haut lässt mich erschaudern, als ein eisiger Wind durch den Tempel weht.

„Was ist das hier?" Ich drehe mich einmal um mich selbst, um das im Dunkeln liegende Gebäude zu erfassen. Einzig die Sterne über uns, die einen Weg durch den eingefallenen Teil der Decke finden, spenden uns Licht. Der weiße Stein strahlt im Licht des Mondes und wirkt den Göttern würdig.

„Ein Tempel der Athene. Er wird schon lange von niemandem mehr genutzt, dafür ist er zu unbedeutend." Das würde erklären, warum ich noch nie an diesem Ort war, obwohl ich mein halbes Leben in dieser Stadt wohne.
Bevor ich eine weitere Frage stellen kann, spüre ich seine warmen Hände an meinen Hüften. Er malt kleine Kreise mit den Daumen auf meine Haut. Dort, wo er mein Top ein Stück hochgeschoben hat.

„Du bist wunderschön", haucht er an mein Ohr. Seine Lippen kitzeln die weiche Haut an meinem Hals, als er kleine Küsse darauf platziert. Seine Hände wandern höher.
Ich widerstehe dem Reflex einen Schritt zurückzuweichen. Auf einmal ist er mir zu nah. Stattdessen lege ich eine Hand auf seine Brust, um ihn sanft, aber bestimmt wegzudrücken. Auch wenn ich ihm hierher gefolgt bin, bin ich nicht bereit mich ihm hinzugeben. Unwillkürlich wird sein Griff um meine Taille fester. Als würde er mich nicht entweichen lassen wollen. Ich sollte mich wertvoll fühlen. Beschützt, während seine Wärme mich einlullt. Aber irgendetwas ist falsch. Es fühlt sich nicht richtig an hier in diesem Tempel.

Ich weiche einen Schritt zurück, doch er lässt mich nicht gehen. Das Gefühl von Freiheit ist verflogen. Der Regen wirkt mit einem Mal erdrückend und die Kälte schafft es in meine nackten Füße zu kriechen. Er zieht mich noch enger an sich und vergräbt seine Hand in meinen Haaren. Wickelt einer meiner nassen Strähnen um seinen Finger.
Ich will das nicht. Weder seine Nähe, noch seine Aufmerksamkeit. Seine Lippen wandern weiter über meinen Hals. Entschlossen lege ich meine zweite Hand auf seine Brust, um ihn wegzudrücken. Diesmal schaffe ich es. Er taumelt einige Schritte zurück. Ich nutze den Freiraum, um mehr Abstand zwischen und zu bringen. Er schaut mich, als wäre ich ein verschrecktes Tier, dass es zu beruhigen gilt. Ich weigere mich ihm entgegenzukommen.

Der Ozean in seinen Augen ist aufgewühlt, als er mich unwillig mustert. Und da liegt noch etwas in ihnen. Ein Ausdruck, der mich vorsichtiger werden lässt, als der Ozean es könnte. Begierde.
Der Fremde verzehrt sich nach mir. Nach meiner Schönheit. Als er näher kommt, weiche ich zurück bis ich an eine der harten Steinsäulen des Tempels stoße. Kalt drückt sie sich an meinen Rücken, als er auf mich zukommt und ich nicht weiter zurück an. Er platziert seine Hände rechts und links von mir, sodass ich ihm nicht erneut entfliehen kann. Als ich versuche ihn erneut wegzudrücken, umfasst er meine Handgelenke und hält sie fest. Sein Griff gleicht einem Schraubstock.

„Bitte, ich möchte nicht." Meine Worte lassen ihn innehalten. Nur für einen Moment, dann blitzt wieder diese Gier in seinen Augen auf. Er drängt sich näher an mich und lässt seine Lippen erneut über meinen Hals gleiten, über mein Dekolleté. Die Welt verschwimmt vor meinen Augen, als diese sich mit Wasser füllen.

Der Himmel weint noch immer bittere Tränen.
Vielleicht hat wenigstens meine Göttin erbarmen mit mir, während der Fremde sich nimmt, was ihm nicht zusteht.

Medusa - KurzgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt