Fahrendes Volk

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Vor sechs Wintern

Die bunten Tücher flackerten im Wind.

Rot, Orange und Lila in einer grau durchtränkten Welt.

Mein Herz zersprang beinahe, als ich mich den Wachposten näherte, meine Handflächen waren schweißnass. Rasch wischte ich sie am groben Baumwollstoff des Kleides ab, das ich trug, um zu verbergen, wer ich war, und senkte den Blick. Die Furcht war ein stechender Knoten in meinen Eingeweiden, der erst an Gewicht verlor, als die Wachen mich gelangweilt passieren ließen. Sie erkannten mich nicht, sie sahen nur das, was sie sehen sollten: eine Magd, keine Prinzessin. Es war nicht ihre Schuld, glaubte doch ganz Athos, die Prinzessin sei zu verschreckt, um sich dem Willen ihres Vaters zu widersetzen – und in der Tat fürchtete ich ihn so sehr, dass ich zusammenzuckte, als eine der Wachen hustete. Doch der Soldat sah nicht mich an, er hatte sich bloß verschluckt. Sein Kollege schlug ihm feixend auf den Rücken, mich hatten sie bereits vergessen. Eine Magd, keine Prinzessin.

Manchmal war die Einsamkeit größer als die Angst.

Manchmal war ich verzweifelt genug, um mutig zu sein.

Ich stolperte die Freitreppe hinab und hinein in die abendstille Stadt, die sich um das befestigte Schloss bettete, durch Gassen, deren Luft vom Rauch der Goldgießereien in den Augen brannte. Die Tränen hinfortblinzelnd, raffte ich den Rock und eilte durch Pfützen, in denen der Ruß schwamm. Selbst der Regen war schwarz, als könnte nicht einmal der Himmel den Schatten von Athos waschen. Oder die Schuld.

Meine Schuhe weichten auf, die Luft dampfte eisig.

Nicht mehr lange und es würde schneien, rußige Flocken, die nach Asche schmeckten.

Da erhaschte ich einen Blick durch die Häuserschluchten auf die Zeltstadt, die auf der Hochebene vor den Toren entstanden war – Rot, Orange und Lila –, und eilte vorwärts. Ich folgte dem Verlauf des Pflasters, wich Gruppen von betrunkenen Heimkehrenden aus, die noch in Erinnerungen schwelgten. Sie alle waren bei den Zelten gewesen, hatten den Geschichten des fahrenden Volkes gelauscht, sich an Wein und Melancholie gelabt, an längst vergangenen Heldentaten und unsterblicher Liebe.

Mein Herz klopfte schneller, diesmal nicht vor Furcht, sondern aus Vorfreude. Das Grau der Stadt blieb zurück, die Luft schmeckte nach gebratenem Mais und süßen Zuckerstangen. Knisternde Lagerfeuer woben Kokons aus Licht, in denen sich Scharen von Lauschenden drängten, die Zelte drumherum entflammt in der aufziehenden Dämmerung. Es war beinahe, als würde ich eine fremde Welt betreten und das Licht die Kälte des vergehendes Jahres hinfortwaschen; als ließe sich die Dunkelheit, die Athos gefangen hielt, mühelos abstreifen, sobald ich zwischen die Zelte und ihren unirdischen Schein trat.

Wärme tränkte meine Haut, die gewebten Teppiche dämpften meine Schritte. Sie wiesen den Weg, lockten mich tiefer hinein. Ich erhaschte Gesprächsfetzen, hier ein paar Zeilen über die verlorene Seemannstochter, dort etwas über den Wüstenkönig und seine Schwanenbraut. Die Lagerfeuer spiegelten sich in den Blicken derer, die mir entgegenkamen, als würden sie alle, die gekommen waren, um dem fahrenden Volk zu lauschen, ein Stück dieser Nacht in sich heimtragen. Einen Funken, ein Glimmen.

... sie banden die Königstochter auf die Klippen, um sie dem Ungeheuer zu opfern ...
... als er den Turm hinabstürzte, verlor er sein Augenlicht ...
... er kehrte zu der Schlafenden im Glassarg zurück, unfähig, sie zu vergessen ...

Ich schloss die Lider, lauschte den Worten, die nur flüchtig existierten, sog sie in mich auf, badete in ihnen, wohl wissend, dass ich sie für viele Monde, vielleicht sogar für mehrere Winter verwahren musste. Sie konnten die einsamsten Nächte erfüllen und den tiefsten Schmerz lindern. Sie waren Heilung und Versprechen zugleich. Ein gewispertes Zeugnis davon, dass alles verging und nichts ewig währte. Keine Gefangenschaft und keine Freiheit. Kein Leid und kein Glück. Alles verging. Alles war flüchtig.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 11, 2019 ⏰

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Herbst im BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt