1. INSHA

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»Ich hab Angst, Insha! Bitte, bitte mach, dass sie mich nicht holen kommen ...«

Ich spürte, wie sich eine kleine Hand vom Nachbarbett aus unter meine Bettdecke schob und Hilfe suchend nach meiner tastete.

»Ich bin bei dir«, flüsterte ich und ergriff die kleinen, zarten Finger. Sie waren kalt. Eiskalt. Und sie zitterten.

»Ist ja gut. Ganz ruhig«, murmelte ich leise und streichelte dabei sanft das kleine Händchen.

»Aber sie kommen immer nachts«, wisperte der kleine Junge hektisch zurück.

»Sch ...«, versuchte ich, ihn zu beruhigen, »wenn du ganz still bist, werden sie nicht auf dich aufmerksam.«

»Aber sie kommen immer nachts und du kehrst nie zurück«, wiederholte Noah ängstlich. Seine Stimme bebte noch mehr, als sein ganzer Körper es tat. Der kleine Junge tat mir leid und wie so oft haderte ich mit mir, nicht doch meine Gabe einzusetzen, um ihm - oder auch den anderen Kindern - einfach die Angst zu nehmen. Doch das kam mir nicht richtig vor. Natürlich würde es ihnen daraufhin sofort besser gehen, aber Gefühle waren schließlich dazu da, gespürt zu werden und ich wollte keins der Kinder seiner Erfahrungen berauben. Nicht einmal dann, wenn es keine schönen waren, denn auch die gehörten leider zum Erwachsenwerden dazu. Gerade Angst war ein wichtiger Schutzmechanismus eines jeden menschlichen Körpers und ich hatte mir - neben den ermahnenden Sätzen, welche mir hier tagtäglich eingebläut wurden - selbst geschworen, meine Gabe niemals leichtfertig einzusetzen. Ja, man konnte es durchaus auch als meine eigene moralische Überzeugung bezeichnen, denn ich hielt es schlicht und ergreifend für falsch, den Geist anderer Menschen nach meinem persönlichen und damit subjektiven Ermessen zu manipulieren. Und solange die Kinder nicht direkt in Gefahr waren oder sie die White Mile entlanggebracht wurden, würde ich nicht eingreifen. Odarka, meine Zwillingsschwester, hatte seinerzeit dem Flurstück im Ostflügel diesen bedeutungsschweren Namen verpasst, von dem man zu sämtlichen Labor- und Versuchsräumen gelangte. Die Namensgebung hatte in Anlehnung an unseren Lieblingsfilm The Green Mile stattgefunden, den wir uns in regelmäßigen Abständen immer wieder zusammen anschauten. Wir waren uns einig, dass eine erschreckende Ähnlichkeit zwischen den beiden Fluren bestand: Die, die diesen Flur entlanggebracht wurden, mussten sterben. Nur, dass es bei uns keine Schwerverbrecher waren, sondern Kinder ...

Außerdem wollte ich meine Mitmenschen lieber so behandeln, wie alle anderen normalen Menschen das auch taten. Warum? Weil ich selbst so behandelt werden wollte. Ich wollte mit anderen ganz normal befreundet sein; wollte mit ihnen Spaß haben; mit ihnen lachen, weil ich sie oder sie mich witzig fanden; sie mit meiner Anwesenheit trösten, ihnen ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit vermitteln. Sie sollten sich bei mir wohlfühlen und mich mögen, weil ich ich war und nicht, weil ich die Fähigkeit hatte, sie das einfach glauben zu lassen oder weil sie am Ende sogar Angst vor mir hatten. Ich seufzte schwermütig, während Noah leise in sein Kissen weinte. Sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen. Ich könnte seinem Leid direkt ein Ende setzen; könnte in ihm die schönsten Glücksgefühle hervorrufen, die er jemals erlebt hatte! Aber das wäre falsch. Schlimmer noch: Es wäre ... Betrug. Und so ein Mensch wollte ich nicht sein! Und auch nicht werden! Niemals! Noah schluchzte auf und ich ertrug es mit dem Gedanken, dass es zwar jetzt schwer für ihn sein mochte, ich aber im Notfall immer für ihn da war. Für ihn sowie für alle anderen Kinder, auch wenn ich das eigentliche Unheil nicht abzuwenden vermochte.

»Insha?«, schniefte er.

»Du musst still sein, Noah. Dann passiert auch nichts«, flüsterte ich eindringlich und kam mir dabei vor, als würde ich versuchen, ein scheues Pferd besänftigen zu wollen. Zur Bekräftigung meiner Worte, damit er diese endlich wahrnahm (schließlich war das, verdammt noch mal, gefährlich, was er hier tat!), drückte ich leicht seine Fingerchen.

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⏰ Last updated: Nov 12, 2019 ⏰

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DAMAGED 1 - Gefangen [Leseprobe]Where stories live. Discover now