Als auch Lana den Laden verließ, blinzelte sie vorsichtig in die Sonne. In den Gläsern der Brille spiegelte sich derweil die dichte, dunkelgraue Wolkendecke. Mit ihrer Hand an ihrer Stirn, um ihre Augen vor unerwarteten Strahlen zu schützen, sah sie aus als würde sie den Horizont nach neuen Abenteuern absuchen. Oder nach neuen Opfern. Augenscheinlich zufrieden mit ihrer Investition, ließ die den Blick wieder sinken. Gemeinsam folgten sie den menschenleeren Straßen zu der Ecke, an der Jack seinen Roller abgestellt hatte. Der Wind ließ das Laub am Bordstein wie die See an einer Klippe branden. Lana versenkte ihre Hände in den Taschen ihres Mantels, obwohl ihr sicherlich nicht kalt war. „Du hast also Lateinunterricht bei meinem Antiquitätendealer genommen?"
Jack schnaubte. „Du belästigst also regelmäßig meinen ehemaligen Lateinlehrer?" Eine Böe fegte über sie hinweg und brachte Lanas schmales Lächeln hinter ihrem Haar zum Vorschein. „Clemens hat nie erzählt, dass er nebenberuflich Highschoolschüler unterrichtet." „Nein offensichtlich habt ihr andere Themen, über die ihr euch austauschen könnt. Er unterrichtet nicht generell. Soweit ich weiß war ich der Einzige." Lana sah ihn überrascht an. Ihre Augen wurden dabei von den spiegelnden Gläsern verdeckt. „Wie kam es dazu?" Ohne darüber dachzudenken, hatten sie beide ihr Tempo verlangsamt. Jack zuckte mit den Schultern und versuchte, nicht ganz so bemitleidenswert zu klingen. „Er hatte das Studium, mit dem er nie etwas angefangen hat, und ich war früher häufig im Laden, und irgendwann habe ich wohl fallen lassen, dass ich mir wünschte, unsere Highschool hätte ein Lateinprogramm. Daraufhin hat er mir angeboten, mich zu unterrichten." Zu seiner Überraschung machte Lana sich zur Abwechslung nicht über Jacks traurige Existenz lustig. Stattdessen huschte ein Ausdruck über ihr Gesicht, den er beinahe als warm beschrieben hätte. Zumindest für ihre Verhältnisse.
„Er hat studiert? Das wusste ich gar nicht." Oh. Ein kalter Klumpen schien sich in Jacks Kehle zu bilden. Offensichtlich hatte er überschätzt, wie bekannt Mr. Hartwells Geschichte in Garnet Falls war. War was er Jack erzählt hatte vertraulich gewesen? In dem Fall hatte Jack das Gefühl, es damals nicht genügend gewürdigt zu haben. Dann war es nicht an ihm, seine Geheimnisse zu verraten. „Nicht? Du kennst doch offensichtlich sonst jeden in der Stadt." Versuchte er vom Thema abzulenken. Lana bedachte ihn mit einem prüfenden Seitenblick, zuckte dann allerdings mit den Schultern. „Ich sammle nur die Geschichten auf, die auf der Straße liegen. Clemens kam mir immer so vor, als hätte er Geschichten, die er absichtlich nicht teilt. Das kann ich...respektieren." Nur dass sie nicht respektieren hatte sagen wollen, sondern nachvollziehen. Wenn Jack genauer darüber nachdachte, waren die Ähnlichkeiten ziemlich offensichtlich. Auch wenn eine Mutter und eine Verlobte zu verlieren zwei vollkommen unterschiedliche Dinge waren, hatte es doch beide hierher verschlagen. Beide, Lana und Mr. Hartwell, waren nach Garnet Falls geflohen, und hatten sich in der Stadt versenkt. So hatte Jack noch nie über Garnet Falls nachgedacht; als Zufluchtsort, anstatt als Gefängnis.
„Wieso Garnet Falls?" Lana warf ihm einem merkwürdigen Blick zu; zu gleichen Teilen überrascht und...verletzt? „Ich meine wieso interessierst du dich so dafür? Es gibt so viele andere interessante Orte, mit denen man sich beschäftigen könnte. Wieso ausgerechnet diese Stadt?" Es fühlte sich waghalsig an, Lana so direkt eine Frage zu ihrer Person zu stellen, nachdem er bisher immer geduldig abgewartet hatte, bis sie ihm den nächsten Brocken hinwarf. Als würde er im Dunkeln den Fuß über einen Abgrund setzen, versichert nur durch seine Hoffnung, dass ihn fester Boden erwartete. Lanas Blick verhärtete sich und ein kaltes Lächeln spielte mit ihren Mundwinkeln. Jack fiel.
„Wieso interessierst du dich so für mich, Jack? Es gibt so viele andere interessante Menschen, mit denen du dich beschäftigen könntest. Wieso ausgerechnet dieses Mädchen?" ihr Blick schnitt direkt in Jacks Inneres, das sich nach ihrem Kuss vor dem Spiegel noch immer weich und formbar anfühlte. „Vielleicht sollten wir uns wieder auf deinen Fluch konzentrieren." Jack starrte sie nur an, doch sie sagte nichts weiter, und erwiderte ihren Blick. In ihren Augen stand eine Herausforderung. Widersprich mir, wenn du dich traust. Dieses Mal fühlte es sich eher wie eine Falle, anstatt einer Einladung an. Abgesehen davon wusste er nicht, was er erwidern sollte. Er wusste nicht einmal genau, was überhaupt passiert war, und plötzlich war das Gespräch beendet.
Als sie Jacks Roller erreichen, was die Stimmung zwischen ihnen in etwa so eisig wie der schneidende Wind. So heiß wie er im Laden gebrannt hatte, so kalt fühlte sich Jacks Inneres jetzt an. Lanas kühler Ausdruck schien sämtliche Energie aus ihrer Umgebung zu ziehen, sämtliche Hitze aus Jacks auskühlendem Kern. Er fühlte sich wie ein erkaltender Planet, der irgendwo allein durchs All schwebte. Immerhin hatte er jetzt Klarheit. Vielleicht war es gut, dass es so gekommen war. Jetzt konnten sie sich wenigstens wieder voll und ganz darauf konzentrieren, eine Heilung zu finden. Dennoch verspürte Jack einen Stich, als er den Stauraum öffnete, und darin die Jutetasche mit ihren Kürbissen fand. Er reichte Lana ihren Helm, ohne sie dabei anzusehen, und sie nahm ihn wortlos entgegen. Eine beinahe greifbare Spannung hatte sich zwischen ihnen aufgebaut, und Jack konnte spüren, dass er kurz davor war, etwas zu sagen, auch wenn er noch nicht wusste, was. Der Nachrichtenton seines Handys kam ihm zuvor.
„Nachricht von Owen Atwood" konnte Jack auf dem Display lesen, nachdem seine Augen sich an das Leuchten gewöhnt hatten.
Das Haus ist leer. Du hast ungefähr zwei Stunden. Hat das mit der großen Brünetten zu tun, die du heute mitgenommen hast? Steht sie auf alte, gruselige Häuser?
Verdammt. Lana hatte sich bereits ihren Helm aufgesetzt, und bedachte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg. Sie schien ihm anzusehen, dass etwas nicht stimmte. Ein Hauch von Unsicherheit wehte durch ihren kühlen Ausdruck. „Was ist los?" Ihre Stimme verriet keine Sorge. Jack starrte noch immer auf sein Handy. Wieso ausgerechnet jetzt? Schon heute Abend wäre es deutlich passender gewesen. Heute Abend könnten sie bereits wieder zur Distanz der Professionalität zurückgekehrt sein. Bis dahin könnten sie einfach wieder zwei Menschen sein, die durch widrige Umstände dazu gezwungen waren, zusammenzuarbeiten. Was wollte er überhaupt sagen? Hey! Ich weiß, die letzten paar Minuten liefen alles andere als optimal, aber würdest du gern mein Elternhaus sehen?
„Vor ein paar Tagen habe ich Owen gebeten mich zu kontaktieren, wenn meine Familie aus dem Haus ist." Begann Jack etwas kleinlauter, als ihm lieb gewesen wäre. Lanas Augenbrauen wanderten ihre Stirn hinauf. „Ich dachte, du willst eventuell eigene Nachforschungen dort anstellen. Vielleicht fällt dir etwas auf, das ich nicht bemerke, weil ich dort aufgewachsen bin." Noch immer war ihr Gesicht eine steinerne Maske. „Wenn du der Meinung bist, dass es keinen Sinn macht, dann lassen wir es einfach sein." Einer ihrer Mundwinkel zuckte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, und so unmerklich, dass Jack es beinahe verpasst hätte. Ein Moment, ein winziges Zucken und plötzlich stand er wieder in Flammen, als hätte sie ihn nicht gerade mit einem Eimer voll Eiswasser gelöscht.
„Nein, lass uns hinfahren." Und plötzlich realisierte Jack, dass es ihm ganz egal war, ob sie zu seinem Elternhaus fuhren, oder ans Ende der Welt, solang Lana hinter ihm auf seinem Roller saß. Plötzlich realisierte er, dass das unter Umständen ein Problem war, und dass er seine Gefühle besser im Auge hätte behalten sollen. Und plötzlich realisierte er, dass er nicht wusste, was ihm mehr Angst machte; den Fluch nicht zu brechen und sie beide in ewige Verdammnis zu stürzen, oder den Fluch zu brechen, und wieder zu dem Leben zurückzukehren, das er zuvor geführt hatte.
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Bloodborne
ParanormalLana Evergreen verbringt ihr Leben damit, die richtigen Antworten auf die falschen Fragen zu finden. Jack Atwood ist mit den richtigen Fragen aufgewachsen, jedoch auch mit den falschen Antworten. Gemeinsam werden sie Teil eines Mysteriums, dessen Wu...