Es war wirklich überraschend, wie oft James schon hatte sagen müssen, dass er keine Ahnung hatte, wo Phillis war.
Er trug seine Plakette der Schulsprecher voller Stolz an seinem Muggel-T-Shirt; die Plakette, die ihn als neuen Quidditch-Kapitän auszeichnete, trug er nicht. Er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, sie anzulegen und es damit fix zu machen.
Er hatte Phillis den ganzen Sommer über nicht gesehen und deswegen vermisste er sie eigentlich nicht direkt, aber irgendwie erwischte er sich doch immer wieder dabei, wie er daran dachte, was Phillis wohl dieses Jahr als Trainingseinheiten geplant hatte und ob sie wieder so viel Energie hineinstecken würde.
Letztes Jahr zu dieser Zeit waren er und Phillis noch nicht einmal Freunde gewesen – eigentlich eher das Gegenteil. Seitdem hatte sich viel verändert und James hatte das Gefühl, dass das alles nur ein schlechter Scherz vom Schicksal war. Letztes Jahr hatte James sich noch gewünscht, dass Phillis irgendwie nicht Kapitän sein konnte und da war es ihm sogar egal gewesen, ob sie vielleicht von der Schule flog oder sich verletzte.
Nun wollte er, dass sie zurückkam, um Kapitän zu sein, aber genau das bekam er natürlich nicht.
Sie hatten nicht viel von Mrs Dolohow herausbekommen können und eigentlich wussten sie gar nicht, was eigentlich los war – sie wussten nur, dass Phillis am 1. September nicht im Hogwartsexpress nach Hogwarts war und sie wussten nicht einmal, ob oder wann sie nachkommen würde.
Jedes Mal, wenn James daran dachte, dass Mrs Dolohow nicht einmal ausgeschlossen hatte, dass Phillis einfach sterben konnte, breitete sich in seiner Magengegend ein seltsam kaltes Gefühl aus.
Er wollte gar nicht wissen, wie es Remus mit diesem Wissen ging. Er tat zwar so, als wäre alles in Ordnung, aber er sah noch müder aus, als sowieso schon jeden Tag und er wirkte gestresst. Sein Lachen war gefroren und seine Witze schlecht.
James wusste aber auch nicht, wie er ihm helfen sollte.
Eigentlich passte überhaupt nichts mehr zusammen und James bekam vom Gedanken als Phillis nur Kopfschmerzen. Zu viele offene Fragen und viel zu wenig Antworten, auf die selbst Lily keine Antwort gefunden hatte.
Wer war Phillis' Vater und warum schickte er sie auf einen vielleicht tödlichen Auftrag? Phillis war nicht einmal für eine Hexe erwachsen und wurde einfach auf eine Selbstmordaktion geschickt? Das passte in James' Kopf nicht ganz zusammen – wer hatte schon solche Eltern?
Was sollte das auch für ein Auftrag sein? Was konnte eine Sechzehnjährige schon erreichen? Vielleicht war es auch nur so ein krankes Aufnahmeritual, nachdem James und Lily auf die Idee gekommen waren, dass Phillis seit ihrem Geburtstag eigentlich nicht mehr geschrieben hatte. Dann würde James ihr raten, ganz schnell ihre Sachen zu packen und nichts mehr mit dieser Familie zu tun zu haben, wie er es auch schon Sirius geraten hatte. James wusste zwar nicht, inwiefern auch Mrs Dolohow in dieses Ritual eingeweiht war und ob sie überhaupt davon gewusst hatte, was Phillis' Vater plante, aber sollte Mrs Dolohow (egal, wie freundlich sie wirkte) irgendwie in diesem kranken Spiel involviert sein, würde James Phillis einen Platz bei sich zu Hause anbieten. Seine Eltern würden sicher nichts dagegen haben, obwohl sie Sirius jahrelang gekannt hatten, bevor er eingezogen war. Notfalls konnte Phillis auch vorübergehend bei Sirius einziehen – er war sowieso einsam in seiner großen Wohnung und hatte ein winziges Gästezimmer, das eigentlich leer stand und er würde sich bestimmt über einen Mitbewohner freuen... obwohl James nicht so sicher war, ob Phillis ein guter Mitbewohner wäre.
Bei Merlin, Phillis könnte vermutlich sogar zu den Lupins ziehen, obwohl Remus vermutlich vor Scham sterben würde, so, wie er vor Scham gestorben war, als Peter das erste Mal vor seinem Vater herausgerutscht war, dass er mit jemanden zusammen war. Lyall Lupin war vollkommen ausgerastet (auf die positive Weise) und hatte Remus erst einmal eine geschlagene halbe Stunde dafür fertig gemacht, dass er das nie erwähnt hatte – in keinem Brief und auch nicht in den Ferien.
Remus war – darauf schwor James – vor Scham wortwörtlich gestorben oder zumindest so knallrot geworden, dass James Angst gehabt hatte, dass er einfach vor Peinlichkeit explodieren würde.
Sobald die Katze aus dem Sack war, hatten Sirius und James es sich natürlich nicht nehmen lassen, Lyall ganz genau zu erklären, dass Remus und Phillis sich schon geküsst hatten, dass sie Händchen hielten, dass sie kuschelten und natürlich auch, dass sie nie gedacht hatten, dass jemand wie Phillis sich jemals auf jemanden wie Remus einlassen würde, nachdem die beiden so verschieden waren und Phillis so cool und Remus einfach nur... Remus.
Nachdem die beiden Lyall auch ganz detailliert das Genie von Phillis Dolohow beschrieben hatten, wenn sie eine Taktik für ein Spiel plante, hatte er ihnen auch noch zugestimmt und sich ebenfalls gefragt, wie sein Junge zu einer Freundin wie sie kam.
„Vermutlich, weil Remus ihr mit ihren Hausaufgaben helfen kann", hatte Peter gescherzt und Remus war bleich geworden.
„Sag das nicht!", hatte er gejammert, „Das ist eine berechtigte Angst von mir!"
„So ein Unsinn!", hatte Sirius ihn dann beruhigt, „Phil hasst dich, wenn ihr zusammen Hausübungen macht – sie hasst Schule!"
Das hatte Remus natürlich nicht wirklich beruhigt, aber den anderen noch mehr Stoff zum Spotten gegeben.
Das war natürlich gewesen, bevor Phillis offiziell verschwunden war.
Seitdem war es eigentlich keine gute Idee, Phillis in Remus' Nähe zu erwähnen und obwohl er nicht jedes Mal in Tränen ausbrach oder gewalttätig Sachen durch die Gegend warf, so schien er doch etwas betrübter zu sein und nachdenklich – den ganzen restlichen Tag.
Es war einfach nur diese schreckliche Ungewissheit, dass sie nicht genau wussten, ob Phillis lebte – natürlich bezweifelte James, dass Phillis starb, das passte in seinem Kopf einfach nicht zusammen und er konnte diesen Gedanken nicht verarbeiten, dass einer seiner eher näheren Bekannten einfach tatsächlich tot sein könnte, also dachte er nicht daran und fragte sich (statt ob) nur, wann sie kommen würde.
Im Hogwartsexpress war Phillis nicht – sie suchten den Zug fünf Mal ab.
Sie konnten sie auch nicht am Gryffindortisch sehen, als sich alle zum Festmahl in der Großen Halle versammelten und da fiel wohl auch schon anderen auf, dass Phillis Dolohow nicht am Tisch saß.
Sie war noch immer eine ziemliche Bekanntheit in Hogwarts, nachdem sie erst letztes Jahr so legendär den Pokal geholt hatte und vermutlich hatten viele gehofft, einen Blick auf sie zu erhaschen oder sie auch nach ihren neuesten Taktiken zu fragen, aber sie war nicht da.
Einige fragten James oder Sirius, die jedes Mal sagen mussten, dass sie keine Ahnung hatten.
Auch die anderen Teammitglieder vom letzten Jahr fragten nach Phillis – bis auf James und Remus wusste nur Marlene, dass Phillis wohl nicht so schnell zurückkam und James (vorläufig) Kapitän war. Kingsley Shacklebolt und Silas Robins nahmen diese Neuigkeit eher schlecht auf und versteckten kaum, dass sie nicht so glücklich darüber waren, dass James nun ihr Kapitän war, aber er konnte selbst nichts dagegen tun und hätte seine Stellung gerne an Phillis abgegeben, wenn diese einfach nur da wäre.
„Schaut euch einmal den neuen Professor an", wisperte Peter und deutete zum Lehrertisch.
Dort, an dem Platz des Verteidigung gegen die Dunklen Künste-Professors saß ein Mann mit freundlichem Gesicht, Vollbart und der Ausstrahlung von einem Menschen mit unendlicher Geduld. Auffällig war aber auch eine Rampe, die die wenigen Treppen zum Lehrertisch aufgebaut worden war und erst da bemerkte James, dass der neue Lehrer wohl in einem Rollstuhl saß, denn der übliche Stuhl der Lehrer war mit einem anderen ersetzt worden, den James durch den Tisch nicht so genau sehen konnte, aber die Lehne ähnelte einer Lehne eines Rollstuhls.
„Er sieht irgendwie so aus, als würden die Schüler ihn hinausmobben", bemerkte Sirius kritisch, „Irgendwie... rückgratlos und zu freundlich."
„Du solltest ihn nicht jetzt schon in eine Schublade stecken", tadelte Lily ihn, „Vielleicht ist er ganz in Ordnung?"
Während dem Festmahl fiel James auf, dass Remus auffällig wenig aß und er hatte schon einmal gehört, dass Liebeskummer einen wirklich niedergeschlagen werden lassen kann, aber er hatte nicht erwartet, dass Remus wie in einer schlechten Romanze sofort absolut depressiv werden würde.
„Hey, Moony", er stupste ihm übertrieben aufmunternd in die Seite, „Du wirst doch jetzt nicht wegen einem Mädchen aufhören zu essen, oder?"
Remus sah ihn überraschend feindselig an. „Bist du wahnsinnig, Potter? Hier geht es nicht einfach nur darum, dass mich jemand abserviert hat! Phillis könnte –" Remus beendete seinen Satz nicht, als ihm auffiel, dass ihre Unterhaltung niemals privat gewesen ist und sobald auch nur irgendetwas auch nur in Richtung Phillis erwähnt wurde, horchten sofort alle anderen auch auf.
Remus schnaubte. „Egal – du verstehst das nicht!"
„Phil ist auch für mich eine Freundin", sagte James beschwichtigend und leise genug, dass nur Remus ihn hörte, „Ich mache mir ja auch Sorgen."
„Ich kann nur daran denken, wie hier in der Großen Halle ihre Schwester Ruth als Geist aufgetaucht ist", hauchte Remus leise und starrte auf einen Punkt beim Lehrertisch, wo Ruth gewesen war – blutig und tot. „Und jetzt ist Phillis ebenfalls irgendwo da draußen und muss sie diesem Ding stellen, das das ihrer Schwester angetan hat... ich... kann mir das nicht einmal vorstellen..."
Daran hatte James noch gar nicht gedacht und bei dem Gedanken wurde ihm ebenfalls schlecht. Er legte sein Besteck weg, bevor er seinen Teller überhaupt geleert hatte.
Am Ende des Festmahls, als alle gesättigt waren, wusste auch jeder, dass Phillis nicht in Hogwarts war.
Dumbledore stand für seine jährliche Rede auf und begab sich nach vorne zum Rednerpult.
„Willkommen, neue Schüler! Willkommen zurück, alte Schüler!", begrüßte Dumbledore sie freundlich wie immer, obwohl er bestimmt wusste, dass Phillis vermisst wurde, „Ich hoffe, ihr seid nur alle gesättigt und werdet nicht schon in eurer ersten Nacht zurück in die Küche einbrechen –"
Allgemeines Gelächter und die Rumtreiber tauschten vielsagende Blicke aus.
„Wie immer muss ich erwähnen, dass der Wald auf dem Schulgelände nicht betreten werden darf – natürlich wird es in diesem Jahr dahingehend Ausnahmen geben, aber darüber werdet ihr mehr erfahren. Vorerst aber gilt wie immer: Der Wald darf nicht betreten werden!"
Die älteren Schüler sahen sich untereinander fragend an – noch kein einziges Mal in all ihren Jahren hatte Dumbledore irgendwelche Ausnahmen erwähnt.
„Mr Filch hat mich auch gebeten, euch alle an die Liste mit verbotenen Gegenständen zu erinnern, die wie immer an seiner Bürotür anzusehen ist und natürlich ist Magie zwischen den Unterrichtsstunden auf den Gängen verboten. Zudem wollen wir dieses Jahr Professor Chiron begrüßen, unseren neuen Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste!"
Chiron lächelte wirklich freundlich den Schülern zu und winkte ihnen leicht. Grundsätzlich klatschten viele und die meisten schienen auf dem ersten Blick nicht von diesem Professor Chiron abgeneigt zu sein.
„Auswahlspiele für die Quidditch-Mannschaften findet in der zweiten Woche des Schuljahres statt. Alle, die gerne in den Hausmannschaften spielen wollen, mögen sich an Madam Hooch wenden!"
Es war wohl ein Fehler gewesen, Quidditch zu erwähnen.
„Wo ist Dolohow?", rief jemand vom Ravenclawtisch und das brachte auch andere dazu, ihre Fragen durch die Große Halle zu rufen.
Dumbledore hob seine Hände, um Ruhe zu verlangen und es wurde wieder leiser.
„Ich versichere euch, ihr erfahrt alles, das ihr erfahren müsst und ich bin weder bereit, noch ist es mir erlaubt, euch Informationen über den Aufenthalt eurer Mitschülerin zu geben."
Das war nicht wirklich das beste gewesen, das Dumbledore dazu hätte sagen können, aber eigentlich konnte er vermutlich gar nichts sagen.
Aber seine Worte brachten nur noch mehr Verwirrung und Sorge und alle wünschten sich (aus aber unterschiedlichen Gründen) zu wissen, wo Phillis Dolohow war.