26. Kapitel

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Ich trat aus dem grauen Gebäude und blickte mich staunend um. Die Straßen sahen gepflegt und sauber aus. Die Straßenlaternen waren in einem modernen Stil gestaltet und allesamt makellos. Ich erkannte die hohen Häuser, die ich schon von unserem Dach aus gesehen hatte. Aber aus dieser Perspektive wirkten sie noch viel eindrucksvoller. Ich lief etwas weiter und erblickte Gebäude mit großen Fenstern, viel größer, als ich sie von unserem Viertel gewohnt war. Ich sah kein einziges Graffiti oder irgendwelche eingeschlagenen Fenster. Alles war unglaublich anders, aber doch so beeindruckend. Dann fiel mir aber auf, dass es hier keine Parks und Grünflachen gab. Ai-shaa hatte mir erzählt, dass es im ganzen Asnunamviertel nur einen einzigen, sehr kleinen Park gab, in dem jede einzelne Pflanze beschriftet war, aus Sicherheitsgründen. So würde es auffallen, wenn ein Narudnat dorthin kommen und einfach seine Eviosa einpflanzen würde. Aber es war auch irgendwie aus dem Grund, dass die Asnunam sich sicher fühlten, damit hier gar keine Eviosa oder gar ein Narudnat sein konnten. In der Vergangenheit hatte es viele Auseinandersetzungen zwischen Asnunam und Narudnat gegeben, wodurch viele Asnunam Angst vor den Kräften der Narudnat hatten und alles, was damit zu tun hatte, nicht in ihrer Nähe haben wollten. Deshalb fand man auch kaum Bäume an Straßenrändern oder Blumenkästen an Fenstern.

Kurz staunte ich noch weiter über die Schönheit des Asnunamviertels, dann fiel mir ein, dass ich mich hier mit Ai-shaa treffen wollte. Ich blickte mich um, jedoch war meine Asnunamfreundin nirgendwo zu sehen. Panik kam in mir hoch, Schwindel und Kopfschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Hatte ich etwas falsch gemacht? War Ai-shaa einfach etwas in den Weg gekommen und sie kam gleich? Hatten wir ein Missverständnis zugelassen? War sie auf dem Weg? Viele Fragen schlugen sich in meinem Kopf darum, welche die Wichtigste war und auf die als Erste eine Antwort gesucht wurde. Aber nach ein paar Momenten konnte ich darüber gar nicht mehr nachdenken, denn die Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Ich fühlte mich, als würde ich seitlich umfallen und bekam noch mehr Angst. Wenn ich jetzt umkippen würde und irgendjemand mich in ein Asnunamkrankenhaus einliefern würde, weil ich ohnmächtig war, würde ich sofort auffliegen. Sie würden herausfinden, dass ich ins Asnunamviertel eingedrungen war. Sie würden den Grenzübergang blockieren und ihre Systeme verbessern. Sie würden die Narudnatschulen überwachen. Sie würden einen weiteren Versuch des Grenzübergehens unmöglich machen... und das würde den Tod meiner Mutter bedeuten. Das durfte alles nicht passieren, ich durfte das nicht zulassen! Ich klammerte mich an einer Straßenlaterne fest, um mir den Schwindel nicht anmerken zu lassen.

Ich holte meine Kopfschmerztabletten aus dem Rucksack. Nebenbei schaute ich mich nach Ai-shaa um. Komm bitte schnell, flehte ich in meinen Gedanken. Ich musste mich irgendwo hinsetzen... Aber wenn ich dann irgendwo hintorkeln würde, wäre alle Aufmerksamkeit auf mir und das wollte ich nicht. Was tun, was tun?, fragte ich mich. Ich brauchte eine Lösung und das schnell. Panisch sah ich mich um. Keine Ai-shaa oder wenigstens irgendwelche Bänke. Meine Atmung wurde schneller und ich merkte, dass meine Haare anfingen zu glimmern, ich konnte es nicht mehr verhindern, ich war zu nervös und panisch. Schnell machte ich mir einen Zopf und zog die Kapuze meines Mantels tief in mein Gesicht. Dann nahm ich mein Handy aus der Manteltasche und betrachtete mich mit der Kamera selbst, wie in einem Spiegel. Man konnte es etwas sehen, wenn man ein geübtes Auge hatte und auf Kleinigkeiten achtete. Aber es war wirklich nicht sehr auffällig. Ganz beruhigte mich das aber nicht. Es war sichtbar. Wenn ein Narudnatermitter mich jetzt ansehen würde, wäre alles gescheitert. Alles wäre vorbei. Ich wäre aufgeflogen, gescheitert. Plötzlich spürte ich eine Windböe, der mich fast umstieß, als wäre ich ein Stück Papier. Gerade so hielt ich mich auf den Beinen. Nicht umkippen, nein, nicht jetzt, bitte!, flehte ich mich selbst an. Das durfte nicht passieren. Ich wollte und durfte nicht scheitern. Nicht so, nicht wegen einem Migräneanfall.

Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf meine Atmung. Einatmen... kurz die Luft anhalten... ausatmen. So entspannte ich mich etwas. Trotzdem verschwand weder die ganze Panik, noch mein Migräneanfall. Und Ai-shaa war noch immer nicht da. Abermals sah ich mich nach ihr um, bettelte sie gedanklich an, sich zu beeilen. Und abermals holte ich mein Handy heraus und schaute, ob ich Empfang hatte. Leider war in der unmittelbaren Nähe der Grenze aus Sicherheitsgründen keiner, weshalb ich sie nicht einmal anschreiben oder anrufen konnte.

Ich sah eine alte Frau, die langsam auf mich zukam. Dadurch bekam ich noch mehr Angst, wenn das überhaupt möglich war. Hatte sie mich als Narudnat erkannt? Würde sie mich verraten? „Guten Tag, ich bin Ai-gera“, begrüßte sie mich. „Ai-val, hallo“, entgegnete ich dann etwas verwirrt. Sie musterte mich einmal mit kritischem Blick, dann fragte sie: „Ist alles in Ordnung bei dir, Val? Du siehst irgendwie... blass aus. Außerdem wartet sonst niemand so lange hier an der Grenze, hast du irgendwie deine Orientierung verloren?“ Val? Sie nannte mich Val? Warum nannte sie mich Val? Ich hatte mich doch als 'Ai-val' vorgestellt, wir kannten uns erst seid einer Minute und sie gab mir schon den Spitznamen 'Val'? Ziemlich ungewohnt... Machten das hier alle so? Dann aber schob ich diese Gedanken beiseite und antwortete ihr. „Äh... nein, alles gut, ich bin immer etwas blass. Ich warte auf jemanden, der mich abholt. Es ist wirklich alles in Ordnung bei mir, aber danke der Nachfrage, Ai-gera“, redete ich mich heraus. Sie nickte, und obwohl man ihr ansehen konnte, dass sie mir keines dieser Wörter geglaubt hatte, verabschiedete sie sich dann mit einem: „Möge Ao-mali dich vor Gefahren beschützen und dir Ni-quai nie begegnen! Schönen Feiertag dir noch, Val!“ Danach ging sie. 'Möge Ao-mali dich vor Gefahren beschützen und dir Ni-quai nie begegnen'. Das hatte sie einfach so gesagt! War das hier ein Sprichwort? Sagte man das so, weil Ao-mali die Asnunam vor den schrecklichen, bösen, blutrünstigen und gefährlichen Narudnat beschützt hatte? Das war grässlich! Und dazu noch 'dir Ni-quai nie begegnen'? Weil Ni-quai eine Narudna mit vielen Les-Zellen gewesen war und damit besonders gefährlich? Hoffentlich nicht! Sie war eine perfekte Narudna! Stark, selbstsicher, wusste wo sie hingehört... Und ihr möge ich nie begegnen? Hatte sie mir das gerade wirklich gewünscht? Ich kam mit diesen Worten lange Zeit überhaupt nicht klar. Dann versuchte ich die Gedanken zu verdrängen. Die alte Asnuna war weg, ich war wieder allein.

Und nur ein paar Sekunden später beschloss meine Migräne, mich wieder an sie zu erinnern. Mein Schwindel nahm wieder zu und zeitgleich verspürte ich eine plötzliche Übelkeit. Alles, wirklich alles, aber bitte keine Übelkeit! Ich wurde wieder panisch. Was sollte ich tun, wenn ich mich wirklich Übergeben müsste? Meine Gedanken machten mich immer nervöser, stressiger und panischer. Bis zu dem Punkt, an dem ich mich nicht mehr halten konnte und merkte, wie ich anfing, zur Seite zu kippen...

Kᴀᴛɪɴᴅᴇs - Zᴡɪsᴄʜᴇɴ ᴢᴡᴇɪ WᴇʟᴛᴇɴWo Geschichten leben. Entdecke jetzt