Kapitel 06

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„Louis, du bist mein Bruder. Ich werde dich immer lieben, ob du auf Männer stehst oder nicht, spielt dabei doch überhaupt keine Rolle."
Lotties Worte geisterten mir den ganzen Tag durch den Kopf. Denn sie hatte recht. Es war überhaupt kein Problem schwul zu sein, oder was auch immer ich jetzt war. Denn auch das war irgendwie egal. Ich durfte lieben wen ich wollte, egal was andere darüber dachten und das war eine schöne Erkenntnis.
Von Glücksgefühlen berauscht rief ich direkt Niall an, der natürlich erst nach dem fünften Klingeln an sein Handy ging. „Tommo? Gott sei dank! Ich dachte schon, du wärst verschwunden. Wo warst du die ganze Zeit?" Niall klang außer Atem. Wahrscheinlich hatte er sein Handy wieder irgendwo liegen gelassen und musste es erst suchen, bevor er meinen Anruf annehmen konnte.
Ich verdrehte meine Augen. Ich war immerhin war ich erwachsen und konnte auf mich selber aufpassen. „Ganz ruhig Niall. Ich war in Doncaster, weil Phoebe und Daisy Geburtstag hatten."
„Ich dachte, du wolltest erst später fahren."
„Ja wollte ich auch eigentlich, aber es ist etwas vor gefallen und dann wollte ich hier so schnell wie möglich weg." Obwohl ich beschlossen hatte, Niall von dem Vorfall mit Harry zu erzählen, fiel es mir schwer.
„Was ist passiert? Erzähl!" Niall vermutete wahrscheinlich das Schlimmste und ich konnte hören, wie er sich auf dem Sofa, auf dem er wahrscheinlich gerade saß, aufrichtete.
Jetzt oder nie. „Oh Gott. Es fällt mir immer noch so unglaublich schwer darüber zu reden..." Innerlich schlug ich mir auf die Stirn. Warum war es so schwer zu sagen "Niall, ich bin schwul"?
„Komm sag schon. So schlimm kann es doch gar nicht sein." Niall war jetzt neugierig geworden.
„Ist es auch nicht. Eigentlich. Also... Du hattest vielleicht ein kleines bisschen Recht." Ich druckste herum und konnte nicht aussprechen, was mir in Gedanken schon zurecht gelegt hatte.
„Wie? Komm, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen." Jetzt wurde er ungeduldig. Ich hörte, wie er auf und ab lief.
„Ich habe Harry geküsst." Jetzt war es raus. "Bitte lass ihn kein Idiot sein", schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel.
„Wirklich?! Ich habe es gewusst! Und dann?"
Ich war verwirrt. „Wie, und dann?"
„Ja was ist dann passiert? Seid ihr zusammen? Wie hat er reagiert?"
Ich seufzte. „Das ist ja das Problem..."
„Ist er ein Arschloch? Ich schwöre, ich bringe den Typ um!" Niall redete sich in Rage.
„Nein... Ich war eher das Arschloch. Ich hab ihn rausgeschmissen." Wieder einmal wurde mir bewusst, wie bescheuert meine Reaktion gewesen war.
„Was?! Wieso?" Nialls Gemütszustand wechselte innerhalb von einer Sekunde von verständnisvoll zu aufgebracht.
„Weil ich mir nicht eingestehen wollte, dass ich doch nicht hetero bin."
„Und was denkst du, bist du dann?" Niall hatte sich inzwischen wieder beruhigt und versuchte wieder sachlich zu sein.
„Ich glaube bisexuell, vielleicht sogar schwul." Mittlerweile war es schon leichter, das Wort auszusprechen. Auch, wenn meine Geständnis Niall wohl etwas überraschen.
„Schwul? Aber du hattest doch schon eine Freundin?"
„Ich glaube, ich dachte, dass ich das so machen müsste. Ich habe sie nie wirklich geliebt, sondern eher als meine beste Freundin gesehen." Ich hatte sie damals sehr gemocht und gedacht, dass sich so Verliebtsein anfühlt. Alles was über „Händchenhalten" hinausging war mir aber trotzdem immer unangenehm gewesen. Deshalb hatten wir uns auch nur ein Mal geküsst.
„Echt? Das ist krass."
„Krass?"
„Ja krass."
„Nur krass, nicht irgendwie eklig oder so?"
„Louis. Was denkst du denn von mir? Ich kenne dich seit der Grundschule, ich kenne alle deine komischen Angewohnheiten. Zum Beispiel, dass du Chips in Cola tauchst. Denkst du ich würde es schlimm finden, dass du jetzt doch auf Männer stehst. Außerdem geht es doch darum, dass du glücklich bist."
Schlagartig wurde mir ganz warm ums Herz. Niall, mein allerbester Freund, akzeptierte mich so wie ich war. „Danke Niall. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie glücklich mich das gerade macht."
„Ach was, das ist doch selbstverständlich. Und jetzt erzähl mir den Rest. Hast du es schon jemand anderem erzählt? Und wann willst du das mit Harry klären?"
„Ich habe es bisher nur dir und Lottie erzählt. Und meiner Mutter so halb."
„So halb?"
„Sie hat sich schon wieder in mein Leben eingemischt, und dann habe ich ihr nur gesagt, dass ich ja vielleicht gar keine Freundin will, weil ich ja auch schwul sein könnte."
„Und wie hat sie reagiert?"
„Naja Reaktion kann man das nicht nennen. Sie hat gar nichts gesagt, deshalb bin ich dann einfach gegangen."
„Vielleicht solltest du irgendwann nochmal mit ihr reden."
„Mache ich auf jeden Fall, aber fürs erste habe ich genug von ihr."
„Kann ich verstehen. Und wie lief es bei Lottie?"
„Lottie hat super reagiert und mich ermutigt mit Harry zu reden."
„Das ist schön. Lottie ist echt in Ordnung."
Ja, das war sie definitiv. Man konnte mit ihr immer über alles reden.
„Das ist sie wirklich. Niall, ich muss jetzt leider auflegen, ich will Harry heute unbedingt noch anrufen."
„Super. Erzähl mir nachher wie es gelaufen ist."
„Mache ich. Tschüss."
„Tschüss Louis!"

Anstatt Harry direkt anzurufen, setzte ich mich zuerst an den Küchentisch und schrieb mir eine Liste mit Dingen, die ich Harry auf jeden Fall sagen wollte. Ich war jetzt schon so unglaublich nervös, dass ich garantiert etwas wichtiges vergessen würde.
Ich schrieb Dinge auf wie zum Beispiel:
- Entschuldigen
- Harry nach einem Treffen fragen -> alles ausführlicher besprechen
- Rezept für eventuelles Treffen raussuchen

Als ich das erledigt hatte, belohnte ich mich mit einer Folge meiner Lieblingsserie Peaky Blinders, die ich auf meinem Tablet schaute. Diese wirkte allerdings nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, denn ich konnte mich kaum auf das konzentrieren, was Tommy Shelby gerade machte, weil meine Gedanken immer wieder zu Harry und dem kommenden Telefonat abschweiften. Mit einem flauen Gefühl im Magen schloss ich Netflix deshalb wieder und fuhr von meinem Schlafzimmer, in dem ich die Serie geschaut hatte, ins Wohnzimmer um mir dort mein Handy zu holen. Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich auf das Anrufsymbol neben Harrys Namen drückte.
Mit jedem Klingeln verließ mich ein bisschen Mut. Andererseits hoffte ich schon fast, dass niemand rangehen würde. So konnte ich mich wenigstens vor dem peinlichen Telefonat drücken.
Doch zu meinem Pech ging Harry dann doch noch ran.
"Louis?" Harry klang außer Atem, als wäre er zum Telefon gerannt. Ich konnte aber nicht raushören, ob er scih über meinen Anruf freute oder eher nicht.
"Hi Harry." Meine Stimme war schwach und ich räusperte mich einmal.
"Ich habe nicht mit deinem Anruf gerechnet, aber ich freue mich sehr, von dir zu hören." Mir fiel ein Stein vom Herzen. Harry war nicht sauer. Das beruhigte mich, sodass ich mit dem weitermachen konnte, was ich mir in meinem Kopf schon so oft zurecht gelegt hatte.
"Harry..." Ich wusste nicht so recht, wo ich anfangen sollte. "Es tut mir Leid."
"Was tut dir Leid?" Tat er nur so, oder wusste er wirklich nicht, um was es gerade ging?
"Dass ich dich so angeschrien habe. Und, dass ich dich rausgeschmissen habe. Das tut mir Leid. Ich hätte direkt mit dir reden sollen." Es tat gut, mir einfach alles von der Seele zu reden, auch wenn Harry noch nichts dazu gesagt hatte. Und es war dann doch leichter gewesen als gedacht.
Harry ließ sich für seine Antwort etwas Zeit und schien dabei nach den richtigen Worten zu suchen. "Natürlich fand ich deine Reaktion nicht super." Harry machte eine Pause. "Aber wenn du den Kuss nicht wolltest, dann ist es okay, mir das auch zu sagen. Nur vielleicht nicht in dieser Art und Weise."
"Danke Harry, wirklich. Du bist viel zu nett zu mir."
"Ach was, das ist doch normal."
"Nicht bei den Menschen, die ich so kenne. Aber egal. Möchtest du dich vielleicht mit mir Treffen? Einfach um das nochmal richtig zu klären."
"Wenn du das möchtest natürlich gerne."
"Kommst du dann zu mir? Vielleicht morgen so gegen 17 Uhr?"
"Morgen geht. Um 17 Uhr habe ich allerdings noch einen Termin. Geht auch um 18 Uhr?"
"Ja klar. Ich versuche dann zu kochen." Ich lachte unsicher, doch Harry stieg mit ein.
"Sonst bestellen wir zu Not etwas." Harrys Stimme war beruhigend, so als ob er sich nie über mich geärgert hatte. Oder er tat zumindest so.
"Okay, ich freue mich schon."
"Ich mich auch. Tschüss Louis und bis Morgen."
"Bis Morgen Harry." Lächelnd beendete ich den Anruf. Harry war überhaupt nicht sauer auf mich gewesen. Und das Beste war, dass ich ihn schon morgen wiedersehen würde.

Dare to be different II l.s.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt